Aufsätze

"Europa ist nur durch Krisen zu Sprüngen in der Integration fähig"

Die Europäische Währungsunion erlebt nach einem Jahrzehnt beachtlicher Erfolge - hohes Maß an Geldwertstabilität, Stärke des Euro im Außenverhältnis, Erweiterung von elf auf 17 Mitglieder - seit 2010 eine ernste Krise. Auch wenn das "M" in "Economic and Monetary Union" gut funktioniert und nur das "E" versagt hat, sind Entwicklungen eingetreten, die angesichts der institutionellen Vorkehrungen - Maast-richt-Vertrag, Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP), Statut der Europäischen Zentralbank - nicht hätten eintreten sollen. Andererseits ist genau das eingetreten, was einige vor Beginn der Währungsunion befürchtet hatten, wovor sie sogar öffentlich gewarnt hatten. Der laxe Umgang mit Konvergenzkriterien, der Sieg politischer Wünsche über ökonomische Rationalität hat vor zehn Jahren eine Zeitbombe gezündet, die seit knapp zwei Jahren laut tickt.

Der hohe Wechselkurs bei Eintritt der D-Mark zu Beginn der Währungsunion hat die "Zündschnur" um einige Jahre verlängert und leider auch ein falsches Gefühl der Sicherheit vorgegaukelt. Es hat deshalb überrascht, dass es so lange gedauert hat. Dies lag aber offensichtlich daran, dass die Finanzmarkt-Akteure den Maastricht-Vertrag entweder nie gelesen oder nicht ernst genommen haben, vielleicht ja sogar zu Recht. Jedenfalls hat die Disziplinierungsfunktion der Märkte weitgehend versagt.

Wie kam es dazu?

Konstruktionsfehler: Die Währungsunion hatte einen zentralen Konstruktionsfehler, was ihr die treffende Bezeichnung als "hinkende Konstruktion" (Hans Tietmeyer) eintrug.

Der Geburtsfehler besteht darin, dass zwar in der Geld- und Währungspolitik die Souveränität der Mitglieder der Währungsunion vollständig aufgegeben und auf die europäische Ebene (EZB) übertragen wurde, in allen übrigen Bereichen der Wirtschaftspolitik - insbesondere in der Finanzpolitik - die nationale Souveränität aber unangetastet blieb. Das Surrogat, Regeln für eine stabilitätskonforme Finanzpolitik im Maastricht-Vertrag und Sanktionsmechanismen im SWP, erwiesen sich als wirkungslos.

Die unterschiedlichen Auffassungen - insbesondere zwischen Deutschland, hier vor allem der Deutschen Bundesbank, und Frankreich - hinsichtlich der zeitlichen Abfolge der Integrationsschritte, bestimmte maßgeblich die langjährigen Verhandlungen im Vorfeld der Währungsunion. Während die deutsche Regierung noch 1991 eine politische Union als Voraussetzung für eine Währungsunion ansah, also gleichsam die gemeinsame Währung den Integrationsprozess abschließen oder krönen sollte (Krönungstheorie), bestand Frankreich auf einer Währungsunion ohne politische Union. Die Dominanz von D-Mark und Bundesbank im Europa der achtziger und frühen neunziger Jahre spielte dabei eine entscheidende Rolle, verstärkt noch durch das höhere Gewicht Deutschlands seit der Einigung 1990.

Der auf deutsche Initiative beschlossene Stabilitätspakt - auf Wunsch von Frankreich in "Stabilitäts- und Wachstumspakt" umbenannt - sollte den Geburtsfehler der Währungsunion zumindest teilweise korrigieren. Dies entsprach der historisch fundierten Befürchtung, dass eine laxe Finanzpolitik das größte Bedrohungspotenzial für die Geldpolitik darstellt. Manchem Beobachter war aber klar, dass das wahrscheinlich nicht funktionieren würde. Nicht zuletzt weil die "Täter" und die "Richter" identisch sind (Finanzminister). Und tatsächlich wurde in bisher fast 100 Verfahren wegen exzessiven Defizits nicht ein einziges Mal eine Sanktion verhängt. Die unterstellte Disziplinierung durch die Finanzmärkte war konzeptionell gut gemeint, blieb bekanntlich aber ohne Erfolg.

Bedeutung fester Wechselkurse unterschätzt Exekutionsfehler - Beginn und erste Jahre (vor der Krise):Schon im Mai 1998, bei der Entscheidung über die Gründungsmitglieder der Währungsunion, wurde die Übereinstimmung mit den Konvergenzkriterien sehr lax geprüft. Letztlich war es eine politische Entscheidung, mit elf Ländern zu starten, statt mit jenen sechs bis sieben Ländern, die die Kriterien zweifelsfrei erfüllten.

Angesichts des starken Drängens in die Währungsunion von Ländern mit zuvor schwacher Währung und vergleichsweise hoher Inflation und hohen Zinsen wurde offenbar die Bedeutung fester Wechselkurse für die Wettbewerbsfähigkeit beziehungsweise die Implikationen einer Mitgliedschaft im Euro für die Kosten- und Preisdisziplin unterschätzt. Der Begriff einer "Schicksalsgemeinschaft", wie die Bundesbank die EWWU bereits 1990 genannt hatte, wurde nie wirklich zum Nennwert genommen. Deutschland hat die Wirkung unverrückbar fester Wechselkurse sehr schmerzlich im Zuge der deutsch-deutschen Einigung und einer falschen Politik der raschen Lohnangleichung erfahren, die dem Produktivitätsgefälle in keiner Weise entsprach.

Nachfrage ohne dauerhaftes Wachstum

Wie schon erwähnt, trat die D-Mark in die Europäische Währungsunion im Verhältnis zu den Partnerwährungen leicht überbewertet ein. Danach aber hat Deutschland dann die richtigen Konsequenzen gezogen und mit einer internen Abwertung - die Stichworte lauten hier Agenda 2010 und jahrelange Lohnzurückhaltung - die Wettbewerbsfähigkeit eindrucksvoll wiederhergestellt.

Die Länder im Süden Europas und Irland haben dagegen den großen Vorteil über Nacht geschenkter niedriger Zinsen "fehlgeleitet": Statt in Infrastruktur, Bildung und den Kapitalstock von Unternehmen zu investieren und damit die Grundlagen für Wachstum und Wohlstand zu legen, kam es entweder zu einem kreditfinanzierten Konsum-Boom oder aber zu einer ausufernden Staatsverschuldung, die sich so problemlos finanzieren ließ. Damit entstand Nachfrage, aber kein dauerhaftes Wachstum.

Konvergenz der Zinsen - Divergenz der Lohnentwicklung

Der Konvergenz der Zinsen stand eine Divergenz der Lohnentwicklung gegenüber. Diese wiederum führte zu einer dramatischen Verschlechterung der Leistungsbilanzen, gemessen am Bruttoinlandsprodukt weit über das hinaus, was die USA jemals erreicht hatten (USA 2006: minus sechs Prozent, Griechenland 2008: minus 16 Prozent). Diese für jedermann erkennbare gravierende Fehlentwicklung über viele Jahre wurde von den offiziellen Stellen (EU-Kommission) gezielt unter den Teppich gekehrt; wie es scheint aus ideologischen Gründen.

Das Mantra hieß, es komme nur auf den Euro-Raum insgesamt an, nicht auf die Leistungsbilanzsalden einzelner Länder. Die massive Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit der heute in der Krise stehenden Länder steht als eigentliche Ursache hinter den aus der Balance geratenen Staatsfinanzen. Denn die schwindende Wettbewerbsfähigkeit verringerte das Wachstum und damit die Staatseinnahmen und erhöhte die Arbeitslosigkeit und somit die Staatsausgaben. Überdies versuchten die Länder, die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit mit einer Ausweitung der staatlichen Tätigkeit, nicht zuletzt mit einer Aufstockung der Beschäftigung im öffentlichen Dienst, zu überdecken.

Die heute im Zentrum der öffentlichen und politischen Debatte stehenden öffentlichen Finanzen können das griechische Wettbewerbsproblem auch bei einer Umschuldung des Staates nicht lösen. Griechenland mangelt es zutiefst an Wettbewerbsfähigkeit, jedenfalls bei festen Wechselkursen. Behält Griechenland den Euro, bedarf es einer massiven internen Abwertung.

Erhebliche Gläubiger-Schuldner-Positionen aufgebaut

Die Krise: Die Illusion oder Ideologie, in Sachen Leistungsbilanz gehe es nur um den Euro-Raum insgesamt und die Entwicklung einzelner Länder - insbesondere hinsichtlich Wettbewerbsfähigkeit/Leistungsbilanz - sei unerheblich, zerplatzte im Herbst 2009, als die neue griechische Regierung die Defizitschätzung für das Budget massiv nach unten korrigierte.

Die Investoren in Staatsanleihen, in großem Umfang auch Banken, hatten aber die offizielle Ideologie ernst genommen, also an die Wirksamkeit des SWP geglaubt oder die Nichtbeistandsklausel im EU-Vertrag (No-Bail-Out) für unglaubwürdig gehalten, so wie der eine oder andere 15 Jahre zuvor befürchtet hatte. Über die Jahre haben sich so erhebliche Gläubiger-Schuldner-Positionen aufgebaut, wobei sich die heute in der Krise befindlichen Länder immer stärker zulasten der anderen Euro-Länder - und deren Banken - verschuldeten.

Aber selbst diejenigen, die an die No-Bail-Out-Klausel nicht geglaubt haben und stets die Gefahr einer Transferunion sahen, hätten wohl nicht im Traum daran gedacht, dass die EZB eines Tages in großem Stil Staatsanleihen aufkauft, um diese zu stützen. Man kann dies drehen und wenden: Es liegt eine Staatsfinanzierung vor und keine sich selbst liquidierenden Geldmarktgeschäfte mit Banken, wie es der operativen Geldmarktsteuerung einer Notenbank entspricht.

Das Konzept der Währungsunion fußt auf einer strikten Trennung von Aufgaben der Geldpolitik - Geldwertstabilität, gegebenenfalls nun ergänzt um Finanzstabilität - und jenen der Finanzpolitik. Mit der Entscheidung für den Ankauf von Staatsanleihen der kritischen Länder (Securities Markets Programme, SMP) weicht die EZB von dieser Aufgabenverteilung ab und ersetzt damit gleichsam ein dysfunktionales politisches System. Anders gewendet: Die EZB tritt als eine Art Europäischer Währungsfonds auf, ohne über die dazu passenden Strukturen zu verfügen.

Schwäche in der Corporate Governance der EZB

Wenn man die Rolle der EZB so umdefinieren wollte, müsste sie über ähnliche Strukturen und Instrumente verfügen wie der IWF, also Ressourcen um Auflagen für Länder zu erarbeiten und Anpassungsprogramme zu definieren und zu überwachen. Mit der klassischen Notenbankfunktion wäre das freilich in keiner Weise vereinbar. Deshalb soll ja auch der ESM entstehen.

An dieser Stelle offenbart sich aber auch eine große Schwäche in der Corporate Governance der EZB: Zu einem Leveraging der EZB und erhöhtem Risikogehalt passt dann das Entscheidungsprinzip der EZB "one man, one vote" nicht mehr. Für rein geldpolitische Aufgaben, also für eine traditionelle Stabilitätspolitik war und ist es auch heute noch angemessen. Sobald jedoch durch Ankäufe von Staatsanleihen in großem Umfang Verluste, etwa aus Wertberichtigungen auf die gekauften Staatsanleihen, anfallen können und diese nach dem Kapitalschlüssel auf die Mitglieder verteilt werden, ist dieses Abstimmungsverfahren nicht mehr vertretbar. Die Möglichkeit erheblicher Vermögenstransfers erfordert andere Abstimmungsregeln, wie sie etwa vom IWF angewendet werden. Getreu dem alten Grundsatz der amerikanischen Gründerväter "no taxation without representation" müssen Kapitalschlüssel und Abstimmungsmacht zumindest weitgehend übereinstimmen.

Wir haben in den letzten vier Jahren gelernt, dass aus Bankverbindlichkeiten systemischer Kreditinstitute schnell Staatsschulden werden können. Nunmehr gilt dies auch umgekehrt. Auch für Staatsschuldner, die bislang als risikolos von der Aufsicht eingestuft wurden, müssen Banken Risikovorkehrungen treffen und natürlich auch das Risiko-/Ertrag-Verhältnis von Staatsanleihen neu überdenken.

Wie geht es weiter?

Wer Erfahrungen mit hoch verschuldeten Ländern in Lateinamerika und Asien gesammelt hat und sich mit dem IWF-Konzept von Debt Sustainability Analysis auskennt, konnte bereits im Frühjahr 2010 erkennen, dass Griechenland ohne substanziellen Schuldenabschlag nicht auskommen würde.

Normalerweise ist das betroffene Land selbst der Auslöser einer Umschuldung, nicht eine Gruppe von Gläubigern wie die EU-Länder. Der IWF hat immer peinlich darauf geachtet, niemals ein Land aufzufordern, seine Verbindlichkeiten nicht zu erfüllen. Mir scheint ein Haircut von etwa 25 Prozent (auf die gesamte Staatsschuld bezogen), wie er jetzt für Griechenland von einigen EU-Ländern ausgehandelt wurde, kaum ausreichend.

Inzwischen mehren sich die Anzeichen, dass die Griechen selbst nicht mehr bereit sind, die Anpassungsprogramme der EU durchzuführen, sondern auf das Geld der EU auch ohne diese zu setzen. Für den Fall, dass die EU hier tatsächlich nein sagt, wird es ein Moratorium und anschließend ein Umschuldungsangebot geben, das nicht mehr das Etikett "freiwillig" trägt.

Verbleibt Griechenland in der Währungsunion, wird dann letztendlich ein noch größerer Forderungsverzicht unumgänglich sein, als am 26. Oktober von den Staats- und Regierungschefs der Euro-Länder für den privaten Teil der Schulden verabredet wurde. Schließlich geht der Troika-Bericht selbst mit dem Schuldenschnitt von einer Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt noch im Jahr 2020 von 120 Prozent aus.

Eine Verringerung der staatlichen Schuld allein löst das gravierende Wettbewerbsfähigkeitsproblem Griechenlands bei festen Wechselkursen natürlich nicht.

Sollte Griechenland versuchen, seine Probleme außerhalb der Währungsunion, also mit einer eigenen Währung und einer eigenständigen Geldpolitik, zu lösen, wäre wohl erst recht ein größerer Schuldenschnitt erforderlich, da die verbleibenden, auf Euro lautenden Schulden in der neuen Landeswährung als Folge einer drastischen Abwertung vermutlich erheblich steigen würden. Also so oder so wird der Schnitt für private Gläubiger letztlich über 50 Prozent liegen.

Auch Portugal ist in einer sehr schwierigen Lage - hohe private (Auslands-)Verschuldung, erhebliche Wettbewerbsschwäche. In Spanien und in Italien sollten dagegen eine strikte Begrenzung der Neuverschuldung in Kombination mit Strukturreformen zur Stärkung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit ausreichen.

Sprünge in der Integration nur durch Krisen?

Beim Aufbau der Europäischen Währungsunion wurden anfangs gravierende Fehler gemacht, was die Anwendung der Konvergenzkriterien betrifft. Hoffnung und Euphorie triumphierten über rationales Kalkül.

Später wurden Warnsignale übersehen und ignoriert, insbesondere die Tatsache, dass in einer Reihe von Ländern entweder der private Sektor oder der Staatshaushalt sich massiv verschuldeten. Gleichzeitig haben die Finanzmärkte die No-Bail-Out-Klausel im Maastricht-Vertrag übersehen, sie ignoriert, oder aber die wahre Intention vieler "Europäer" erkannt, dass sie nie ernst gemeint war, sondern nur ein Lippenbekenntnis auf deutschen Wunsch - wie auch die Unabhängigkeit der Notenbank nicht wirklich von allen ernsthaft gewollt ist. Als langjähriger ehemaliger Notenbanker wünsche ich mir dass Joachim Fels Unrecht behält, wenn er sagt: "Unabhängige Notenbanken sind eine historische Episode".

Als viele Illusionen zu platzen begannen, aber Rettungspakete noch immer eine Art "Nominalwertdogma" postulierten ("kein Schuldenerlass notwendig"), begann die unbarmherzige Schwerkraft der Finanzmathematik zu wirken: Deleveraging gibt es nicht zum Nulltarif; Schulden sind immer auch Forderungen. Es gab daher zeitweilig den Versuch, die Staatsschuldenkrise wenigstens zum Teil in eine zweite Bankenkrise umzudeuten. Dann rettet der Staat die Banken zum zweiten Mal, was nach politischer Logik eine abermalige Bestrafung der Banken erfordern würde. Damit würde aber die Rolle der Banken als Finanzier der Wirtschaft beziehungsweise des Wachstums gefährdet.

Die Lösung der Staatsschuldenkrise kann letztlich nur in einer Fortentwicklung der europäischen Integration liegen, die den Geburtsfehler der Währungsunion korrigiert: eine zumindest partielle Abtretung von Souveränität auch in der Finanzpolitik, jedenfalls soweit es den Haushaltssaldo betrifft. Sollte dies über einen mehrjährigen Verhandlungs- und Ratifikationsprozess gelingen, hätte sich aus der Rückschau die aktuelle Staatsschuldenkrise vielleicht sogar gelohnt. Denn die Erfahrung lehrt, dass Europa nur durch Krisen zu Sprüngen in der Integration fähig ist.

Der Beitrag basiert auf einer Rede des Autors bei der 57. Kreditpolitischen Tagung der ZfgK am 4. November 2011.

Die Zwischenüberschriften sind teilweise von der Redaktion eingefügt.

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