Gespräch des Tages

Finanzpolitik - Armes Europa

Ein gewisser (finanz-)politischer Stillstand vor wichtigen Parlamentswahlen ist beileibe kein deutsches Spezifikum. Vielmehr gehört es zu den üblichen Abläufen in westlichen Demokratien, zumindest die umstrittenen politischen Vorhaben hinreichend lange vor dem Wählervotum auf den Weg zu bringen. Kurz vor der Abstimmung wollen die Regierungen möglichst keine unkalkulierbaren Wählerbewegungen riskieren. Man mag deshalb bedauern, dass solche Gepflogenheiten selbst in vergleichsweise stabilen Staaten das Denken in den Vier- oder Fünfjahreszyklen zwischen den Wahlen fördert und damit der Tendenz nach die Chancen auf langfristig wirkende Lösungen einschränken. Aber sie lassen einer gewählten Regierung immerhin zumindest eine Legislaturperiode Zeit, die Rahmenbedingungen gemäß ihren Vorstellungen weiterzuentwickeln.

Für die Gestaltung Europas mitsamt eines einheitlichen Finanzmarktes sind diese politischen Bedingungen denkbar ungünstig. Denn hier haben gleich mehrere Parlamentswahlen das Format, die kontinuierliche Arbeit der europäischen Gremien an gemeinsamen Rahmenbedingungen längere Zeit ins Stocken zu bringen. Eine solche Karenzzeit gilt nicht nur vor den Wahlterminen in den großen Staaten. Selbst die Abstimmungen in Ländern wie Griechenland, Irland, Portugal und Zypern verlangen bei der Regelung der europäischen Angelegenheiten in Brüssel Rücksichtnahme auf die politische Konstellation in den jeweiligen Ländern. Kurzum: Die wirklich günstigen Zeitfenster für kritische zukunftsweisende Entscheidungen für Europa sind zwischen den Wahlterminen der vielen Mitgliedstaaten enorm kurz.

Im Umkehrschluss bedeutet das mit Blick auf die anstehende Bundestagswahl für die deutsche Politik beziehungsweise die künftige Bundesregierung einen Aufstau an wichtigen europapolitischen Entscheidungen bis zum Herbst dieses Jahres - von der Verschuldungskrise über die Bankenunion bis hin zu deren indirekten Wirkungen auf die Geldpolitik. Da viele der anstehenden politischen Antworten auf die ungelösten Fragen der wirtschafts- und finanzpolitischen Zukunft Europas erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung der europäischen und weltweiten Kapitalmärkte haben, ist es nicht überraschend, dass ein Asset Manager, nämlich die genossenschaftliche Union Investment noch vor der Bundestagswahl auf diese Defizite hingewiesen und ein Zukunftskonzept für Europa angemahnt hat. Alle großen Parteien, so lautet der Vorwurf, richten ihren Wahlkampf zu sehr auf die deutsche Wirtschaft und die hiesige Bevölkerung aus. Faktisch bestimmt aber das Festhalten an der Währungsunion in hohem Maße den Takt der Politik und hat erhebliche fiskalische Auswirkungen. Was Europa der deutschen Politik wert ist und Deutschland bereit ist, für Europa zu tun, wird im Wahlkampf weitgehend ausgeklammert. Eine Fiskalunion wird allenfalls vage als wünschenswertes Ziel für die ferne Zukunft angedeutet und schafft nicht einmal ansatzweise den Sprung unter die Wahlkampfthemen.

So wird der Aufstau an europäischem Regelungsbedarf einmal mehr die ersten Monate der neuen Legislaturperiode schwierig machen, egal welche Regierung sich nach den Wahlen der Verantwortung für die relevanten europäischen Fragen stellen muss. Letztlich sind das alles Auswirkungen der alten Problematik einer Währungsunion ohne politische Union. Dieser erklärte Vorrang für die Nationalstaaten beschränkt die Richtung Europas auf eine pragmatische Politik des (kurzfristig) Machbaren zwischen vielen Wahlterminen - teilweise mit Umwegen und Warteschleifen. Diese Idee von Europa hat zweifellos ihren Preis.

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