Aufsätze

Wunschszenario 2012: ein temporär-teilweises Ausscheiden Griechenlands aus dem Euroverbund

Was für eine Krise gibt es eigentlich? Man hört sehr viel. In Wirklichkeit handelt es sich seit dem ersten griechischen Rettungspaket von Anfang Mai 2010 lediglich um eine immer weiter ausufernde Konkursverschleppung. Das wird aus Angst vor Konsequenzen aber nicht ausgesprochen.

Eine politische Herangehensweise

Bei drohender Überschuldung darf es nur darum gehen, festzustellen, ob bei Erleichterung der Schuldenlast (Laufzeitstreckung/Zinsermäßigung/Teilverzicht), eine Rückführung der Verbindlichkeiten vielleicht doch noch, wenn auch nur teilweise, möglich ist oder ob ein Totalausfall für den Gläubiger droht. Stattdessen wird auf Gipfeltreffen über Visionen von europäischer Fiskalunion debattiert, die mit der akuten Überschuldungsproblematik Griechenlands nichts zu tun haben. Zu Griechenland wurde vielmehr politisch dekretiert, dass, wenn der öffentliche Sektor drastisch spare und Staatsvermögen liquidiert werde, kein Ausfall eintreten müsse und die EU und der IWF dem Land in internationaler Solidarität weiter Überbrückungsliquidität zur Verfügung stellen würden.

Das ist eine politische, keine ökonomische Herangehensweise, die deswegen auch vom Markt nicht akzeptiert wird. Dabei stört sich der Markt primär daran, dass kein Plan B der EU für den Zeitpunkt vorliegt, wenn nicht mehr geleugnet werden kann, dass Griechenland es nicht schaffen kann. Angesichts der für den EU-Raum sich anbahnenden Rezession kann dieser Zeitpunkt jederzeit eintreten.

Deswegen breitet sich Misstrauen aus: Die Ratingagenturen stufen auch andere und selbst Nicht-Peripherieländer der EU herunter, die institutionellen Investoren halten sich beim Engagement in europäischen Staatsanleihen stärker zurück, Banken aus den EU-Kernländern reduzieren weiter ihre Exposure gegenüber den Schuldenstaaten, US-Banken leihen ihren europäischen Pendants ebenfalls kaum noch Geld und die Kreditinstitute aus den Peripherieländern bleiben in ihrer Refinanzierung zunehmend auf die EZB angewiesen.

Das sieht also nicht gut aus. Aber die dringend notwendige Klärung, ein Austarieren dieser Spannungen und Gegensätze auf dem Kompromisswege scheint wenig aussichtsreich. Allzu sehr unterscheiden sich die Interessenposition und die Wahrnehmung der Probleme durch die EU-Kernländer wie Deutschland von jener in den EU-Peripherieländern. Dabei hat jede der beiden Seiten ihren charakteristischen blinden Fleck.

Beide Seiten nicht vollkommen unschuldig

Die deutsche Position als Exportgroßmeister wurde nämlich nicht nur durch deutsche Lohnzurückhaltung und Produktqualität erobert, sondern konnte erst weiter ausgebaut werden, indem die Kapitalüberschüsse aus deutschen Exporterlösen zur Finanzierung von noch mehr deutschen Exporten in die EU-Peripherieländer eingesetzt wurden, obwohl den dortigen Abnehmern vielfach die hierfür erforderliche Schuldnerbonität fehlte. Das will aber niemand hören: die deutschen Firmen samt der Arbeitnehmer nicht, die hiervon profitierten, und auch die Banken nicht, die sich stets darauf verlassen konnten, dass die Politik unter dem Vorzeichen der europäischen Integration letzten Endes für ihre teilweise unsoliden Außenhandelsfinanzierungen geradestehen würde.

Das Spiegelbild hierzu in den Peripherieländern ist die verständliche, wenn auch unverantwortliche frühere Empfänglichkeit für den steigenden Wohlstand auf privaten und staatlichen Pump - ausgelöst durch Importe und Investitionen aus der Kern-EU. Und natürlich auch das weitgehende Unverständnis, sogar die Empörung über die Art und Intensität des Drucks, der jetzt von den Gläubigern ausgeht. Wer ist der Schurke im Stück? Natürlich sind beide Seiten nicht vollkommen unschuldig wie bei jeder saftigen Verführung.

Aber wegen der unterschiedlichen Sicht der Beteiligten und ihrem jeweils charakteristischen blinden Fleck für die Befindlichkeit der Gegenseite ist kaum zu erwarten, vielmehr im Gegenteil auszuschließen, dass Fortschritte in Richtung europäische Fiskalunion, die ohnehin kaum auf kurze Sicht zu erwarten sind, per se schon die Stabilität des Euros befördern könnten. Vielmehr beschleunigt der jetzt angesagte Sparkurs die Zentrifugalkräfte.

Ungleichheiten in der Wettbewerbsfähigkeit

Immer deutlicher stellt sich heraus, dass die Ungleichheiten in der Wettbewerbsfähigkeit der verschiedenen EU-Mitgliedsländer die härtere, ungeknackte Nuss darstellen im Vergleich zu der ohnehin schon nicht leicht zu lösenden Herausforderung der Konstituierung einer verbindlichen Fiskalunion. Zum Thema regionale Wettbewerbsunterschiede in der EU gibt es allerdings relevante Erfahrungen, die Anlass zu einer gründlichen Revision der bisher vorherrschenden Einbahnstraßen-Ideologie mit ihrer angeblichen Automatik in Richtung europäische Konvergenz geben.

Das gilt zum Beispiel für die wenig glücklichen Erfahrungen Italiens mit dem Mezzogiorno, welche bis zur Gründung des IRI im Jahre 1933 zurückreichen. Oder diejenigen der EU-Mitgliedsländer Dänemark, Polen oder Tschechien, die inzwischen erleichtert sind, noch nicht den Euro übernommen zu haben. Aber etwa auch die Erfahrungen Deutschlands mit der nicht durchdachten und überhasteten Einführung einer Wirtschafts- und Währungsunion in den neuen Bundesländern. An den Langfristfolgen dieser rein politisch motivierten innerdeutschen Fehlentscheidung aus dem Juli 1990 tragen die deutschen Steuerzahler in Form des Solidaritätszuschlages noch immer.

Die deutsche Bundesregierung könnte derartige Einschätzungen aber nicht öffentlich kundtun. Damit würde sie sich auf europäischer Ebene nur den Vorwurf eines vorsätzlichen Scheiternlassens der Währungsunion zuziehen. Und innenpolitisch würde man sie vorab zum Sündenbock für die Kollateralschäden eines Auseinanderfallens der Währungsunion stempeln, mit vermutlich weitreichenden Konsequenzen für die kommenden Bundestagswahlen. Da reicht die Front von den Gewerkschaften über die Großindustrie (besonders Bau- und Rüstungswirtschaft) bis zur sehr mächtigen Finanzlobby. Die hat als neuestes Spin-Doctoring lanciert, dass weitere Bail-outs im Interesse der deutschen Steuerzahler lägen, da sonst die Ausschüttungen der Lebensversicherungen und Pensionskassen gefährdet seien.

Bereitschaft zu einem aggressiven Opt-out?

Trotzdem ist unwahrscheinlich, dass sich Deutschland gegen ein Verlassen der Eurozone durch Griechenland sträuben würde, wenn dieses eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit durch temporäre Wiedereinführung der Drachme als Parallelwährung für Inlandstransaktionen neben dem Euro anstreben würde. Griechenland ist noch der erste und einzige Kandidat für einen derartigen teilweisen Eurozone Optout.

Angesichts der beschriebenen Wahrnehmungs- und Interessengegensätze an der EU-Peripherie und im EU-Kern ist die Wahrscheinlichkeit für einen vom Schuldnerland einseitig ausgelösten, also eher überraschenden, unabgestimmten und damit tatsächlich größere Schäden im internationalen, stark interdependenten Finanzmarkt verursachenden Opt-out eher noch gering einzuschätzen.

Allerdings könnte mit jedem weiteren Gipfeltreffen, auf dem die effektive Bereitschaft zu unkonditionierter Solidarität mit den Peripherieländern seitens der Kernländer erkennbar und deutlich schrumpft, die Bereitschaft seitens der Schuldnerländer wie Griechenland zu einem solchen aggressiven Opt-out steigen. Es bleibt also nur zu hoffen, dass es rechtzeitig zu einem abgestimmten, nur teilweisen Opt-out statt zu einem totalen Ruptus kommt.

Nur streng subsidiäre Entscheidungen

Auch dann werden sich in jedem Falle staatliche Zwangsrekapitalisierungen der hierdurch ruinierten Banken nicht nur in den betroffenen Ländern der Peripherie anschließen, und es wird dem Kreditsektor zur Vermeidung einer dann auch drohenden Kreditklemme für die Realwirtschaft erheblich Liquidität zugeführt werden müssen. Dabei könnte das Ziel der Preisstabilität wiederum nur zu leicht unter die Räder kommen. Aber so könnte eine neue Lage geschaffen werden, die einer stärker differenzierten Reaktion auf die unterschiedlichen Erfordernisse in den verschiedenen Volkswirtschaften der EU förderlich sein sollte.

Letzteres wäre natürlich sehr zu wünschen und sollte auch möglich sein, weil nach dem ersten harten Schuldenschnitt die gegenwärtig politisch kaum noch traktierbaren Themen ungenierter angegangen werden können. Sobald sich der Staub gelegt hat, wird auch der Finanzmarkt trotz bitterer Verluste einen endlich klareren Ausblick mit großem Enthusiasmus begrüßen. Für den europäischen Finanzmarkt, also die Banken, die Kapitalmarktsammelstellen und die im riskanteren Bereich des Spektrums operierenden Fonds wäre auf einen einfacheren, auf nur wenigen Regeln basierenden Regulierungsrahmen zu hoffen: Trennbanksystem, strenge Beschränkung des Leverage, Clearingzwang im Derivativbereich, Punkt. Also eine klare Marktordnung statt der Unstetigkeiten, Unberechenbarkeiten, Widersprüche und unintended consequences des bisherigen Ablaufinterventionismus.

Auch die Frage der optimalen europäischen Integration wird in dieser gereinigten frischen Luft neu gestellt werden können. Damit eng verbunden ist die Thematik der für die Zukunft anzustrebenden EU-Governance (Ministerrat versus Kommission und die endlich herzustellende gesamteuropäische Legitimation). Der größte Gewinn sollte die das Europaprojekt künftig leitende Erkenntnis sein, dass man zum Thema regionale Unterschiede in der innereuropäischen Wettbewerbsfähigkeit mit der Zielstellung der Einheitlichkeit des EU-Binnenmarktes behutsamer umgehen sollte als bisher. Gerade bei einer auf Innovation und Wirtschaftswachstum auszurichtenden Wettbewerbspolitik sind eine Vielfalt wirtschaftsgeografischer Unterschiede stärker zu berücksichtigen, auch solche demografischer, klimatischer und auch kultureller Art.

Daher darf nicht tendenziell und automatisch über alles die zentrale, sich immer weiter ausbreitende Brüsseler Bürokratie entscheiden. Wie das ursprünglich für die EU auch geplant war, soll Brüssel, soweit eine Materie nicht explizit an die Zentralverwaltung delegiert wird, nur streng subsidiär entscheiden dürfen, also im grundsätzlichen Nachrang zu den örtlich, regional und mitgliedsstaatlich demokratisch legitimierten politischen Vertretungen.

Michael Altenburg , Luzern, Schweiz
Noch keine Bewertungen vorhanden


X