Daidalos und die Tücken der digitalen Transformation

Michael Altenburg Foto: M. Altenburg

In allen Lebensbereichen und auch in der Politik wird viel von der Digitalisierung geredet, ein wirkliches Konzept für den richtigen Umgang mit der lückenlosen Vernetzung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat vermisst der Autor allerdings. Einerseits registriert er einen Druck in Richtung mehr technokratisch getriebener Effizienz und andererseits die Illusion einer demokratisch kontrollierten und korrigierbaren Gesamtentwicklung. Für einen gesellschaftlich konstruktiven Erfolg und Fortgang der digitalen Transformation wünscht er sich gleichermaßen eine Portion Nonkonformismus und Unangepasstheit. (Red.)

Die immer noch nicht absehbare Lösung der Schwierigkeiten bei der Bildung einer neuen Bundesregierung haben nicht nur parteipolitische Differenzen zur Ursache, sondern einen Grunddissens über optimales Regieren in einem sich rasch ändernden, sehr komplexen und global interdependenten Umfeld. Die bisherigen Amtsinhaber verlangen weiter "Stabilität und Ruhe." Jüngere Kräfte in allen Parteien fordern demgegenüber einen offeneren, transparenten, kontinuierlich im Parlament auszutragenden Diskurs, weil ein weiteres Durchregieren mit Koalitionsmehrheiten bei den nächsten Wahlen diejenigen an die Macht spülen müsse, die nicht gehört, überzeugt, berücksichtigt wurden, also die Populisten von Rechts und Links.

Digitale Oligopolisten

Zum Thema digitale Transformation gibt es interessanterweise bislang kaum politischen Dissens. In Wahrheit liegt das aber nur daran, dass hier die Politik von den rasanten Entwicklungen hinterhergeschleppt wird. Effizienz und Produktivität, mit denen die öffentliche Verwaltung bislang keineswegs glänzen konnte, stehen gänzlich im Vordergrund. Die Abgründe einer sich selbst überlassenen Digitalisierung bleiben dabei weitgehend unbeachtet, wenn man von formelhaften Lippenbekenntnissen einmal absieht, die in Richtung Schutz der individuellen Privatsphäre und Meinungsfreiheit sowie Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit gegenüber terroristischen, kriminellen und anderen subversiven Bedrohungen selbstverständlich auch immer mitgeliefert werden.

Von Tücken, Abgründen oder Bedrohungen wollen die privaten Akteure, also die globalen digitalen Oligopolisten, natürlich nichts wissen. Sie bieten angeblich unfehlbare Sicherheitssoftware gegen Hacking an und geben sich im Übrigen davon überzeugt, dass durch die Digitalisierung ermöglichte globale Vernetzungen auf Dauer zu rationalen, harmonischen Prozessen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik konvergieren werden.

So wird das auch in China gesehen. Für westliche Vorstellungen von Demokratie hat man dort ohnehin nur Schulterzucken übrig und setzt ganz auf zentrale Steuerung durch die kommunistische Partei und deren Kader unter Führung von Staatspräsident Xi Jinping, dem vom 19. Parteikongress kürzlich zusätzlich absolute Vollmachten eingeräumt wurden. Die lückenlose digitale Vernetzung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat soll in Zukunft dafür genutzt werden, ein datenbasiertes Ranking aller chinesischen Staatsbürger umzusetzen, das die Staatstreuen, Fleißigen und verantwortlich Handelnden identifiziert und entsprechend belohnt mit Privilegien etwa wie verbilligte Krankenversicherungsprämien und Zugang der Kinder zu besonders guten Schulen. Das überschreitet nach den Kriterien westlicher Verhaltensökonomen oder Werbefachleute sicher bereits die Schwelle eines unmerklichen "nu d ging" in Richtung gewünschten Verhaltens. Aber sehr weit entfernt von der auch im Westen systematisch betriebenen Ausbeutung persönlicher Daten zur Beeinflussung von Konsumentscheidungen oder auch politischen Präferenzen ist das in der Sache nicht mehr.

Fragile, technokratisch determinierte Abläufe

Angesichts der immensen Kosteneinsparungen, die mit der automatisierten Steuerung von Such-, Speicher-, Zuordnungs- und Bearbeitungsprozessen in Wirtschaft, Finanzen und natürlich auch Wissenschaft und Forschung möglich geworden sind, hat sich die Akzeptanz rein technokratisch dominierter Abläufe bereits weitgehend durchgesetzt. Die damit einhergehende konstante Flut von Informationen, Neuigkeiten und vor allem auch Unterhaltung ist gleichzeitig so angeschwollen, dass das gesamte Wahrnehmungsvermögen dadurch neu geprägt, letztlich aus den Angeln gehoben wurde. Die Bürger haben vieles delegiert an diese automatisierten Abläufe, können sie faktisch kaum noch hinterfragen, vertrauen ihnen also, ohne sie im Einzelnen nachvollziehen zu können oder auch nur zu wollen. Diese Abläufe sind so komplex und gleichzeitig scheinbar so eminent rational, dass unser Vertrauen voll gerechtfertigt erscheint.

Ein gutes Beispiel dafür, wie fragil in Wahrheit die technokratisch determinierten Abläufe sind, ist die Weltfinanzkrise vor zehn Jahren, als sich auf rein quantitative Modelle abstützende Risikoeinschätzungen zur Werthaltigkeit von Finanzaktiva unerwartet und schlagartig als trügerisch erwiesen. Anschließend wurden zwar die Regulierungen insbesondere für Verbriefungen und die Mindestvorhaltung von Eigenkapital erheblich verschärft.

Die Risikoberechnungen beziehen sich gleichwohl weiterhin nur auf historische Zeitreihen, da nun einmal auch selbstlernende Algorithmen nicht in die Zukunft schauen können. Zugleich haben sich in den letzten zehn Jahren immense Konzentrations- und Konsolidierungsprozesse vollzogen etwa im Asset-Management- Bereich. Vor allem passiv gemanagte börsennotierte Anlagefonds (ETFs) haben ein nie zuvor gekanntes Schwergewicht gewonnen. Deren Robustheit und Liquidität beim Kollaps von Blasen zuvor unkorrelierter Vermögenswerte ist fraglich.

Die Euphorie der positiven Entwicklung in der Realwirtschaft wie an den Finanzmärkten erhält durch den Wettlauf mit China, das dem Westen den Rang rundherum abzulaufen droht, eine besondere Verschärfung, eine zwiespältige Zuspitzung. Während der Druck in Richtung mehr technokratisch getriebener Effizienz ins paranoisch Gehetzte steigt, hält sich die Illusion einer demokratisch kontrollierten und korrigierbaren Gesamtentwicklung. Die politische Führung (über-)lebt davon, diese Illusion bei ihren Wählern zu nähren, obwohl die technokratische Kybernetik längst eine intransparente Eigengesetzlichkeit angenommen zu haben scheint.

In den von der günstigen Wirtschaftsentwicklung begünstigten Teilen der Bevölkerung wird diese Illusion gern geglaubt, da sie die gute eigene Zukunft zu garantieren scheint. Bei den sich ausweitenden Randgruppen, die durch Jobverluste aufgrund der Digitalisierung und/oder die distributiv ungleichen Auswirkungen der Niedrigzinspolitik benachteiligt oder ausgegrenzt werden, stellt sich zunehmend ein Vertrauensverlust in die politische Governance überhaupt ein, was sich in einer Zunahme rechts- aber auch linkspopulistischer Strömungen niederschlägt. Die Reaktion der politischen Mitte hierauf bleibt hilflos bis kontraproduktiv, wenn dem populistischen Trend der Wind dadurch aus den Segeln genommen werden soll, dass man sich ihm anpasst. Dabei können Populisten, die irrationale Vorurteile bewirtschaften anstatt konkrete Lösungsvorschläge anzubieten, am leichtesten im konstruktiven, öffentlichen Diskurs aus dem Sattel gehoben werden.

Wissenschaft und Forschung infiziert

An konstruktivem Diskurs fehlt es auch, wenn sogenannte Sachzwänge alle Alternativen platt machen und sich ein Mainstream der politischen Korrektheit mehltauartig so stark ausbreitet, dass jedweder Dissens in den Verdacht des Abartigen und Unakzeptablen geraten kann. Das führt auf Dauer dazu, dass sich Filz, rentseeking behaviour und Korruption auf der einen Seite und Unzufriedenheit, Frustration und Aggression auf der anderen Seite so lange hochschaukeln, bis es zu einem Knall kommt. Ein solcher Verlauf ist vielfach belegte geschichtliche Erfahrung, die trotz aller Effizienzdefizite für die Verteidigung des konstruktiven, offenen Diskurses im Parlamentarismus spricht, auch wenn Versuchungen der Autokratie immer wieder neu locken.

Xi Jinping hat für China einen Weg gewählt, der besser zu funktionieren scheint, als das westliche Demokratiemodell. Das Versagen des Westens liegt aber nicht am öffentlichen, konstruktiven Diskurs, sondern seiner Erstickung in Selbstgefälligkeit, Filz und Käuflichkeit.

Auch Wissenschaft und Forschung sind davon infiziert. So konnte sich, das ist leider kein Witz, Facebook-Gründer Mark Zuckerberg am 25. Mai 2017 an der Harvard Universität die Ehrendoktorwürde der Rechte besorgen und sogar die Festrede an alle Absolventen ausrichten, in welcher er für einen Kampf gegen die Kräfte des Autoritarismus und Nationalismus warb und für eine gerechtere, vernetzte Welt. Ende Oktober kam dann heraus, in welch gigantischem Umfang die Facebook-Plattform während des US-Präsidentschaftswahlkampfs für Fake News russischer Provenienz mit der Zielsetzung einer allgemeinen Verunsicherung und der Wählerbeeinflussung zugunsten von Donald Trump unterwandert worden war. Mark Zuckerbeg zeigte sich, natürlich, gebührend überrascht und betroffen. Hiergegen ist mit Gesetzen und Strafandrohungen nicht viel auszurichten, ex post schon überhaupt nichts.

Kreative Durchbrüche gesucht

Auch aus Deutschland ist von einem fragwürdigen Trend zu berichten, der sich in der ehrwürdigen Studienstiftung des deutschen Volkes langsam, aber immer stärker seit einigen Jahren bemerkbar macht. Es handelt sich hierbei um das älteste und größte Begabtenförderungswerk Deutschlands, 1925 gegründet, während des Nationalsozialismus gleichgeschaltet, 1948 neugegründet unter dem Vorzeichen strikter politischer, konfessioneller und weltanschaulicher Unabhängigkeit.

Als Logo der Nachkriegs-Studienstiftung wurde der Daidalos Kopf von Hubertus von Pilgrim gewählt unter Zitierung des Erfinders und Künstlers aus der griechischen Mythologie. Die künstlerische Gestaltung des Daidalos durch von Pilgrim betont alle Sinne der Wahrnehmung: mit einer Riesennase, einer Riesenohrmuschel, geöffnetem Mund und Auge und einem nach allen Seiten ausgreifenden, offenen Hirn. Der Hauptakzent liegt auf der Eigen-, der Widerständigigkeit des kreativen Individuums. Für den Geschmack späterer Administratoren der Studienstiftung war das anscheinend zu individuell, zu elitär. Unter dem Vorwand unverzichtbarer größerer graphischer Klarheit und Einfachheit entschied man sich daher 2015 - ohne Rücksprache mit Hubertus von Pilgrim - für ein neues Logo, in dem das mehr Angepasste, Vernetzte sicher besser zum Ausdruck kommt (siehe Abbildung).

Raum für Nonkonformisten

Der exzentrische Einzelgänger rettet sicher nicht als solcher vor den Gefährdungen einer immer ungleicher, ungerechter, unsicherer werdenden und schneller sich verwandelnden Welt. Und die besten Absichten und klügsten Reden müssen ohne anschließende Umsetzung mithilfe entsprechender Mehrheiten und finanzieller Mittel nur wie leeres Geschwätz wirken. Aber wenn die Institutionen angesichts der Versuchungen von Geld und Macht zu versagen, zu erstarren drohen, sind es letztlich doch primär die Nonkonformisten und Unangepassten, die zu politischer Korrektur erfolgreich anzuregen vermögen. Eher jedenfalls als ein populistischer Mob, der nach dem Motto handelt: "Macht kaputt, was euch kaputt macht!" Dasselbe gilt in der wissenschaftlichen Forschung. Angesichts der zunehmenden Monopolisierung im Digitalbereich ist der technologische Fortschritt gerade auch hier, wo er sich zwei Jahrzehnte lang am dynamischsten zeigte, ebenfalls bedroht. Kreative Durchbrüche, im Jargon spricht man von "disruptions", fallen eben auch nicht vom Himmel. Daher: Eine deftige Portion Irokesenkopf ist auch für einen gesellschaftlich konstruktiven Erfolg und Fortgang der digitalen Transformation unverzichtbar.

Michael Altenburg Luzern, Schweiz
Michael Altenburg , Luzern, Schweiz

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