Europa im Spannungsfeld von Vision und Realität

Prof. Dr. h.c. Klaus-Peter Müller Foto: Commerzbank

Die öffentliche Diskussion über die aktuelle Lage Europas und seine Zukunftsaussichten blendet aus Sicht der Autoren die politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften der europäischen Integration in den vergangenen Jahrzehnten zu oft aus. Sie registrieren aber ebenso, dass die Begeisterung für Europa, wie sie nach Ende des Kalten Krieges von weiten Teilen der Bevölkerung ganz Europas geteilt wurde, heute teilweise heftiger Ablehnung gewichen ist. Als Ursachen der von nationalen Eigeninteressen geleiteten Fliehkräfte sehen sie eine zu schnelle Erweiterung, die fehlende Anpassung der Governance-Strukturen an die Ost-Erweiterung und fehlende Sanktionsinstrumente gegen Staaten bei Verstößen gegen gemeinsam vereinbarte Regeln. Zu den dringlichen Reformansätzen für das Projekt Europa rechnen sie nicht zuletzt die Abschaffung von Veto-Rechten, eine Direktwahl der EU-Abgeordneten in vergleichbar zugeschnittenen Wahlkreisen und die Einführung schärferer Sanktionsregeln. (Red.)

Die Idee, durch enge wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit ein friedliches Zusammenleben der Völker Europas zu erreichen, hat ihre historischen Wurzeln in der leidvollen Erfahrung der Kriege, die jahrhundertelang die Geschichte Europas prägten. Die von den sechs Mitgliedsstaaten der Montanunion im März 1957 geschlossenen und am 1. Januar 1958 in Kraft getretenen Römischen Verträge gelten heute als Gründungsurkunden eines geeinigten Europa. Freier Verkehr von Waren und Dienstleistungen sowie von Personen und Kapital sowie eine gemeinsame Handelspolitik nach außen waren die Basis für die Weiterentwicklung des (west)europäischen Wirtschaftsraums.

Europäische Integration - nicht frei von Rückschlägen

Der weitere Weg der europäischen Integration war nicht immer einfach und auch nicht frei von Rückschlägen. Die größten Veränderungen und auch Erweiterungen wurden ausgelöst durch den Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989. Die Wiedervereinigung Deutschlands und der Zusammenbruch der Sowjetunion ließen die Vision von einer politischen Einigung Gesamteuropas wieder aufleben. Mit dem Ende des Kalten Krieges schien der Weg geebnet für eine politische Union, die auch Osteuropa einschließt.

Mit dem Vertrag von Maastricht, der 1993 in Kraft trat, wurde die Europäische Union gegründet (EU-Vertrag), die damit Zuständigkeiten auch in nichtwirtschaftlichen Politikbereichen bekam. Kernpunkte von Maastricht waren die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion, eine Zusammenarbeit im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik sowie eine gemeinsame Justiz- und Innenpolitik. Für zahlreiche Staaten Mittel-, Nord- und Osteuropas hatte sich mit dem Wegfall des Eisernen Vorhangs das Tor für einen Beitritt zur EU geöffnet.

Den bisherigen Schlusspunkt in der Entwicklung der vertraglichen Ausgestaltung der EU setzte der im Jahr 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon. Seitdem bilden der EU-Vertrag und der "Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union" die gemeinsame Rechtsgrundlage - sozusagen die "Verfassung" - für die EU.

Die Entwicklung der Europäischen Union und ihrer Vorgänger im großen Ganzen ist eine Erfolgsgeschichte gewesen. Die Integration Europas über nationale Grenzen hinweg ist gerade für jüngere Menschen keine unerreichbare Vision mehr, sondern in vielen Bereichen gelebte Realität geworden. Für viele junge Menschen ist es heute selbstverständlich, einen Teil ihrer Schul- oder Studienzeit im europäischen Ausland zu verbringen. Reisen innerhalb der Europäischen Union sind weithin möglich ohne lästige Grenzkontrollen und ohne mühsamen Umtausch von Währungen. Diese Errungenschaften sind nicht vom Himmel gefallen, sondern waren das Ergebnis eines langen politischen Ringens, das von zwei Zielen geleitet war: der Sicherung des Friedens in Europa und der Förderung des Wohlstands in den Mitgliedsstaaten.

Es ist ganz wesentlich der europäischen Integration zu verdanken, dass der Frieden zwischen ihren Mitgliedsstaaten seit dem Zweiten Weltkrieg nicht nur bewahrt wurde, sondern auch nicht mehr gefährdet erscheint. Das ist ihr größter politischer Erfolg. Die EU und ihre Vorgänger haben entscheidend zur Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg, zur Überwindung der Teilung zwischen West- und Osteuropa nach dem Fall der Mauer und zur Demokratisierung neuer Mitgliedstaaten beigetragen. Hierfür hat die EU vor sechs Jahren zu Recht den Friedensnobelpreis erhalten.

Eine oft noch unterschätzte und weitestgehend unbekannte politische Errungenschaft ist auch die Verleihung der Unionsbürgerschaft an die Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten durch den Vertrag von Maastricht. Damit hat die Europäische Union ihren Bürgern - als Ergänzung der nationalen Staatsbürgerschaft - unmittelbar gerichtlich durchsetzbare Rechte verliehen. Dazu gehören das Recht auf Freizügigkeit und das Diskriminierungsverbot innerhalb der Union sowie das Kommunalwahlrecht am jeweiligen Wohnort und das Wahlrecht zum Europäischen Parlament.

Wirtschaftliche und soziale Prinzipien als Basis

Die wirtschaftlichen Erfolge der europäischen Integration liegen ebenso auf der Hand wie die politischen. In allen Mitgliedsstaaten hat sich der Beitritt zur Union - wenn auch in unterschiedlichem Umfang - insgesamt positiv auf die Wirtschaft des Landes und den Wohlstand seiner Bevölkerung ausgewirkt. Das gilt auch für die südeuropäischen Länder, die vor ihrem Beitritt als Armenhaus Europas galten.

Wirtschaftliche Prosperität wurde gefördert durch die Errichtung eines funktionierenden Binnenmarkts, in dem die wirtschaftlichen Grundfreiheiten der Union garantiert sind: der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen sowie die Freizügigkeit von Arbeit und Kapital. Dies gelang durch den Wegfall von Zoll- und Handelsbarrieren, die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen, die Harmonisierung sonstiger rechtlicher Rahmenbedingungen und die Absicherung des Binnenmarkts durch eine europäische Gerichtsbarkeit. Es geht bei der wirtschaftlichen Integration - und das ist für die Zukunft der EU von entscheidender Bedeutung - aber nicht nur darum, marktwirtschaftlichen Prinzipen zum Durchbruch zu verhelfen. Auch soziale Gesichtspunkte sollen in der Wirtschaft berücksichtigt werden. Der Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2009 spricht deshalb erstmals von einer "in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft".

Trotz aller Erfolge der Integration sind die Legitimationsprobleme der Europäischen Union heute evident. Europa hat gegenwärtig mit beachtlichen Schwierigkeiten zu kämpfen - sowohl in wirtschaftlicher als auch vor allem in politischer Hinsicht. Es geht um die Legitimation des europäischen Projektes insgesamt. Die Begeisterung für Europa, die nach dem Ende des kalten Krieges von weiten Teilen der Bevölkerung ganz Europas geteilt wurde, ist heute teilweise heftiger Ablehnung gewichen. Nicht wenige sehen heute in der EU - in "Brüssel" - nur noch ein bürokratisches Monster, dem es im vermeintlich nationalen Interesse zu entrinnen gilt.

Diese negative Entwicklung zeichnete sich bereits ab bei dem Versuch, der Europäischen Union eine eigene Verfassung zu geben. Der von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnete Verfassungsvertrag hätte im Jahr 2006 in Kraft treten sollen. Er wurde in den in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 durchgeführten Volksabstimmungen abgelehnt. Damit war die Idee einer weiteren politischen Vertiefung der Integration durch eine gemeinsame Europäische Verfassung zunächst gescheitert.

Der daraufhin geschmiedete und 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon war gleichsam der Ersatz für die gescheiterte Verfassung. Zu dieser Zeit geriet jedoch die Union durch die Finanzmarktkrise von 2008 und die sich anschließende Euro- und Staatsschuldenkrise erneut in gefährliches Fahrwasser.

Zwar betraf die einsetzende Kritik an der Währungsunion bei Licht besehen nicht die Europäische Union insgesamt, denn nur 19 von deren 28 Mitgliedern nehmen an der Währungsunion teil. Die Kritik an den zur Bewältigung der Euro- und Staatsschuldenkrise getroffenen Rettungsmaßnahmen weitete sich aber aus und richtete sich schließlich gegen die europäische Integration insgesamt. Aus der von sehr populistischen Politikern ausgegebenen Parole "Raus aus dem Euro" wurde alsbald ein "Raus aus der EU". Dessen ungeachtet muss man genau differenzieren zwischen der Krise der Währungsunion und den ungelösten Problemen der EU insgesamt.

Von nationalen Eigeninteressen geleitete Fliehkräfte

Die Europäische Union steht mittlerweile in einem ganz wörtlichen Sinn an ihren Grenzen und zwar nicht nur an ihren äußeren Grenzen. Innerhalb der Union wachsen die von tatsächlichen oder vermeintlichen nationalen Eigeninteressen geleiteten Fliehkräfte, die mit der europäischen Integration kein historisch einzigartiges Zukunftsprojekt mehr verbinden. Die EU - und das gilt insbesondere auch für Deutschland - musste mit großem Bedauern zur Kenntnis nehmen, dass Großbritannien sich für den Brexit entschieden hat und zukünftig seinen Weg außerhalb der Union sucht. Viele der britischen Kritikpunkte hätten sicherlich als Teil eines Reformprogramms diskutiert werden müssen. Die wirtschaftlichen Folgen für Großbritannien und die EU sind in ihren ganzen Ausmaßen bislang noch nicht abzusehen.

Aber nicht nur in Großbritannien, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern haben antieuropäische Strömungen und Parteien an Zulauf gewonnen. Dieses egoistische Denken tritt bei den Versuchen der EU zur Bewältigung der Flüchtlings- und Migrationskrise sehr offen zutage.

Ebenso bahnt sich ein ganz neuer, in der EU noch nicht da gewesener Grundsatzkonflikt in den Auseinandersetzungen der EU-Kommission mit Polen über eine Verletzung von Grundwerten der EU ab. Jeder Mitgliedsstaat hat sich bei seinem Beitritt zu den in Artikel 2 des EU-Vertrages niedergelegten Werten bekannt, auf die sich die Union gründet. Dies sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Polen steht derzeit am Pranger, weil nach Auffassung der EU-Kommission die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte besteht. Wie immer das Verfahren ausgeht: Es ist mehr als schmerzlich, dass innerhalb der von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geprägten EU darüber gestritten werden muss, ob ein Mitglied diese Grundwerte der EU verletzt.

Die Probleme, die der Europäischen Union heute zu schaffen machen, lassen sich auf einen Nenner bringen: Mit der Erweiterung der EU von 12 auf 28 Mitglieder und - parallel dazu - der Errichtung der Währungsunion mit jetzt 19 Mitgliedern wurde zu viel auf einmal gewollt. Der Sprung von 12 auf 28 Mitglieder erfolgte viel zu schnell, an die Stelle von klaren Beitrittskriterien sind politische Visionen getreten bis hin zu Träumereien, die einer nüchternen Prüfung damals wie heute nicht standgehalten hätten.

Ursachen der Krise - Defizite der EU

Einige der neuen Mitglieder waren, wie sich später zeigte, sowohl wirtschaftlich als auch politisch nicht hinreichend auf einen Beitritt vorbereitet. Und auch die Organe und Institutionen der EU mit ihren schwerfälligen politischen Entscheidungsprozessen waren überfordert, mit einer so schnellen territorialen und thematischen Ausweitung der EU fertig zu werden. Das wurde schon früh erkannt und sollte durch die Verträge von Amsterdam, Nizza und insbesondere Lissabon (2004) korrigiert werden. Gelungen ist dies aber nur zum Teil, wie die gegenwärtigen Schwierigkeiten und die schwindende Akzeptanz der EU zeigen.

Der Vertrag von Maastricht stellte mit der Vereinbarung der Währungsunion die Weichen für die Zukunft der EU. Während bis dahin die wirtschaftliche Integration - der freie Austausch von Waren und Dienstleistungen - im Mittelpunkt gestanden hatte, wurde mit dem Startschuss für den Euro ein politisches Ziel verfolgt. Die gemeinsame Währung sollte der Beginn einer politischen Union Europas sein. Die Währungsunion litt aber von Anfang an unter mangelnder Regelbefolgung.

Um die Entwicklung zu einer politischen Union voranzutreiben, wurden auch Staaten, nicht nur zum Beitritt, sondern auch zur Währungsunion zugelassen, die viele der vertraglich vereinbarten Kriterien für einen Beitritt noch nicht erfüllten. Das blieb nicht ohne Folgen. Denn politische Visionen kommen nicht an ökonomischen Realitäten vorbei. Das hat die immer noch nicht vollständig überwundene Staatsschuldenkrise in einigen Ländern mit ihren negativen Auswirkungen auf den Euro als Gemeinschaftswährung gezeigt.

Extrem weitgehende Vetorechte einzelner Mitglieder

Ein besonders gravierendes Problem der EU liegt auch darin, dass es versäumt wurde die Governance-Strukturen rechtzeitig an die bevorstehende Ost-Erweiterung nach dem Fall der Mauer anzupassen. Die extrem weitgehenden Vetorechte einzelner Mitglieder sind völlig ungeeignet für eine Gemeinschaft mit mehr als doppelt so vielen Mitgliedern.

Die Kriterien für die Aufnahme neuer Mitglieder und die Frage nach den Abstimmungserfordernissen - also bei welchen Entscheidungen welche Mehrheiten erforderlich sind - muss geklärt werden. Denn das Einstimmigkeitsprinzip und Vetorechte Einzelner kann es bei einer so großen Mitgliederzahl, wenn überhaupt, nur noch in ganz eng begrenzten Ausnahmefällen geben.

Auch fehlen hinreichende Sanktionsinstrumente, um gegen Staaten vorzugehen, die sich nicht an die gemeinsamen vereinbarten Regeln oder verbindliche Mehrheitsentscheidungen halten. Der Mangel an effektiven Sanktionen trat offen zutage, als es nicht gelang, die Entscheidung über die angemessene Verteilung von Flüchtlingen auf die Mitgliedsstaaten tatsächlich durchzusetzen.

Die EU-Verträge regeln zwar detailliert, unter welchen Voraussetzungen ein Land Mitglied werden kann und sehen seit dem Vertrag von Lissabon auch die Möglichkeit eines freiwilligen Austritts vor. Sie lassen aber keinen zwangsweisen Ausschluss eines Mitglieds zu, das sich nicht an die Verträge oder verbindliche Entscheidungen hält.

Zwar wurde mit dem Vertrag von Lissabon versucht, Versäumtes nachzuholen und die EU mit einer Ausweitung des Mehrheitsprinzips und der Einschränkung der Vetorechte einzelner Mitglieder handlungsfähiger zu machen. Die in Lissabon beschlossenen Vertragsänderungen waren jedoch nicht ausreichend. Weiter gehende Eingriffe in die Rechte der Mitgliedsstaaten waren aber nicht durchsetzbar. Denn dafür hätte es der Zustimmung aller - damals bereits 27 - Mitglieder bedurft.

Ein Legitimationsproblem wegen des Demokratiedefizits

Schließlich hat die EU auch ein Legitimationsproblem wegen ihres Demokratiedefizits. Die Unionsbürger haben keine Möglichkeit, die exekutiven und gesetzgebenden Organe der EU - insbesondere die Kommission und den Ministerrat - in Wahlen demokratisch zur Verantwortung zu ziehen, und das obwohl jeder einzelne Bürger von der Politik und den Gesetzgebungsakten der EU unmittelbar betroffen ist. Die Politik der EU ist nur insofern demokratisch legitimiert, als die Entscheidungsorgane der EU von den demokratisch gewählten Regierungen der Mitgliedsstaaten eingesetzt sind. Die demokratische Legitimation der EU ist vermittelt durch die Mitgliedsstaaten als Herren der Verträge. Dieses Demokratiedefizit sollte im Vertrag von Lissabon durch eine Aufwertung des Europäischen Parlaments behoben werden, dem mehr Befugnisse bei der Gesetzgebung der EU und der Besetzung der Kommission eingeräumt wurden.

Das Europäische Parlament in seiner derzeitigen Ausgestaltung kann den Mangel an demokratischer Eigenlegitimation der EU aber nicht beheben. Abgesehen davon, dass die Kompetenzen des Europäischen Parlaments hinsichtlich der Gesetzgebung und der Kontrolle der exekutiven Organe der EU nach wie vor nicht mit denen eines nationalen Parlaments vergleichbar sind, repräsentiert das Europäische Parlament auch nicht die Gesamtheit der Unionsbürger. Denn seine Sitze werden subjektiv nach festen nationalen Quoten zugeteilt, welche die unterschiedlichen Bevölkerungszahlen zwar berücksichtigen, aber nicht widerspiegeln. Länder mit kleiner Bevölkerung sind im Europäischen Parlament erheblich überrepräsentiert. Das Europäische Parlament leidet somit selbst unter einem Demokratiedefizit.

Verkappte nationale Wahlen

Hinzu kommt, dass die Europawahlen in Wirklichkeit (verkappte) nationale Wahlen sind, die weniger mit europäischen als mit nationalen Themen Wahlkampf machen. Dementsprechend wird das Wahlergebnis meist unter nationalen Aspekten - als Sieg der nationalen Regierung oder Opposition - gewürdigt. Schließlich leidet die demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments auch darunter, dass die gewählten nationalen Parteien - zurzeit mehr als 200 - im Parlament nicht mehr in Erscheinung treten. Dort spielen die europäischen Fraktionen, zu denen sich politisch nahestehende nationale Parteien aus den Mitgliedsstaaten zusammenschließen, die entscheidende Rolle.

Die Politik dieser Fraktionen beruht jedoch auf Kompromissen, ist also mit dem Programm der in den Mitgliedsstaaten gewählten nationalen Parteien nicht ohne Weiteres identisch. Das führt zu dem Paradox, dass die Parteien, die in der Europawahl gewählt werden, im Parlament selbst nicht handeln, während die dort handelnden Fraktionen nicht zur Wahl standen und vielen Wählern auch gar nicht bekannt waren.

Die Arbeit des Europäischen Parlaments wäre durch die Gesamtheit der Unionsbürger erst dann vollständig demokratisch legitimiert, wenn die Wahlen tatsächlich europäisiert würden. Voraussetzung dafür wäre zum einen, dass sich europäische Parteien bilden und in der gesamten Union zur Wahl stellen.

Zum anderen müssten alle von den Unionsbürgern abgegebenen Stimmen tatsächlich gleiches Gewicht haben. Die aktuelle Sitzverteilung im Europäischen Parlament nach nationalen Quoten, die nicht der jeweiligen Bevölkerungszahl entsprechen, ist nicht korrekt. Die Besetzung der EU-Kommission mit 28 Kommissaren, Kabinetten und anhängenden Administrationen ist ein Akt populistischer Opportunität, stärkt die Bürokratie, verlangsamt Entscheidungen und ist politisch wie wirtschaftlich unsinnig.

Von der gegenwärtigen Krise der EU dürfen wir uns nicht entmutigen lassen! Denn die ursprüngliche Vision der europäischen Integration ist nicht gescheitert und sollte auch nicht scheitern. Denn es steht außer Frage, dass mehr denn je ein starkes Europa - eine starke EU - gebraucht wird. Globale Herausforderungen wie Klimaschutz, internationaler Terrorismus, weltumspannende Flucht- und Migrationsbewegungen lassen sich nicht im nationalen Alleingang bewältigen. Europäischer Zusammenhalt und europäische Stärke sind auch deshalb gefordert, weil Europa im globalen Machtgefüge an Gewicht verloren hat und zunehmend auf sich gestellt ist. Um die großen Aufgaben im Bereich der Wirtschaft und der Sicherheit bewältigen zu können, muss die Europäische Union mit einer Stimme sprechen.

Reformstau beheben

Die EU ist eine großartige Vision, sie ist gut gestartet, leider wurden zu viele wichtige Themen vertagt, der Kreis der Mitgliedsländer massiv und übereilt ausgeweitet. Europa steht heute vor einem Reformstau. Was muss geschehen, welche Reformen sind denn besonders dringend?

1. Abschaffung von Vetorechten, die bei genau festzulegenden Themen zum Beispiel durch eine Quote von 75 Prozent oder 66 Prozent der Mitgliedsstaaten ersetzt werden könnte.

2. Direktwahl der EU-Abgeordneten in vergleichbar zugeschnittenen Wahlkreisen.

3. Einführung schärferer Sanktionsregeln bei schwerwiegenden Verstößen von Mitgliedsstaaten.

4. Spezifizierung von Regeln für geordnete Austrittsverfahren.

5. Konzepte für eine einheitliche Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

6. Konzepte für eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme gehört daher auch, nach Alternativen zu suchen. Wenn sich eine Mehrheit für Reformen findet, dann muss diese Mehrheit entscheiden, ob sie sich noch länger einer unwilligen Minderheit fügen soll.

Zu wünschen ist eine starke, reformierte Europäische Union, für die zu arbeiten sich lohnen wird.

Prof. Dr. h.c. Klaus-Peter Müller Ehrenvorsitzender des Aufsichtsrats, Commerzbank AG, Frankfurt am Main
Tobias Bange Abteilungsdirektor, Public Affairs Issue Management, Commerzbank AG, Frankfurt am Main
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