Sind Japans Staatsschulden noch beherrschbar? - Lehren für Europa

Rainer Claussen, Hannover - Die ernüchternden Ergebnisse der japanischen Zins- und Geldpolitik der vergangenen Jahrzehnte sollten Europa eine Mahnung sein, die Funktion eines niedrigen Zinses nicht zu überdehnen. Der Autor gründet diese Kernbotschaft auf die Entwicklung der japanischen Wirtschaft in den beiden vergangenen Jahrzehnten. Angesichts der wirtschaftlichen Eckdaten aus Japan plädiert er für eine kontrollierte Beendigung der Niedrigzinspolitik der EZB möglichst im Gleichschritt mit der Fed. Als generelle wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ausrichtung will er in Deutschland und Europa das Modell einer Gesellschaft der sozialen Teilhabe gepflegt sehen. Besonderen Wert legt er dabei auf ein breites Bildungsangebot und Qualifizierungschancen für die jüngere Generation. (Red.)

Von allen Staaten in der OECD hat Japan mit 245 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) die höchste Staatsverschuldung. Für Deutschland und die Eurozone sind daher die Fragen von Interesse, wie es dazu kam, wie sich eine derartige Entwicklung verhindern lässt und ob Japan jemals die Chance hat, diesen Schuldenberg abzutragen? Und wenn diese Chance nicht bestehen sollte, welches Szenario sich dann ökonomisch und politisch ergeben könnte.

Die Entwicklungslinien Japans

Folgende Entwicklungslinien sind in den vergangenen 20 bis 40 Jahren für Japan festzustellen:

- langfristige Zinsen von unter 2 Prozent seit Ende der 90er Jahre,

- sehr hohe Staatsverschuldung seit 1994. In der Regel 7 bis 8,5 Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt ( BIP). Dementsprechend entstanden große Finanzierungslücken im Staatshaushalt. Beispiel aus 2013: Einnahmen 33,1 Prozent/Ausgaben 42,4 Prozent in Relation zum BIP,

- schwache Steuerbasis bei Personen (Einkommensteuer) und bei der Besteuerung von Gütern und Diensten (Mehrwertsteuer),

- sinkende Stundenlöhne von 2000 bis 2007 und in den Jahren 2009, 2010 und 2012,

- sinkende Ersparnis der privaten Haushalte vom disponiblen Einkommen von 7 Prozent im Jahr 2000 auf minus 0,05 Prozent 2013. Zum Vergleich: In Deutschland hingegen ist die Ersparnis mit etwa 10 Prozent nahezu konstant. Dazu passt spiegelbildlich der Schuldenstand der privaten Haushalte: in Japan mit 127 Prozent zum BIP, in Deutschland beträgt er 95 Prozent (2012),

- steiler Anstieg des Anteils alter Menschen (über 65 Jahre) an der Bevölkerung von 7 Prozent 1970 auf 25 Prozent 2013,

- niedrige Altersbezüge der Rentner. Im Vergleich zum Nettoeinkommen vor Rentenantritt betrugen die Netto-Renten im Jahr 2012 nur knapp 41 Prozent. Das ist der niedrigste Wert in der OECD. Zum Vergleich: in Deutschland 57 Prozent, in Frankreich 71 Prozent und in den Niederlanden 101 Prozent!

- hohe und noch steigende Anzahl alter berufstätiger Menschen oberhalb von 60 bis weit über 70 Jahre. Während in dieser Altersgruppe 1985 noch 6,3 Millionen Menschen berufstätig waren, waren es im Jahr 2008 schon 10,9 Millionen. In Relation zur Erwerbsbevölkerung waren das 6,6 beziehungsweise 9,9 Prozent!

- niedriger Anteil junger Leute (über 15 Jahre) von knapp 13 Prozent (2013) - mit Deutschland zusammen hat Japan die niedrigste Geburtenrate innerhalb der OECD,

- niedriger Anteil von Migranten an der Bevölkerung. Japan 1,6 Prozent, Deutschland 8,5 Prozent (Stand 2011). Jährliche Zuwanderung im Zeitraum 2001 bis 2014 in Japan etwa 80 000 und in Deutschland mehr als 200000,

- sehr niedrige Wachstumsrate der Industrieproduktion. Von 1985 bis 2014 nur plus 19,5 Prozent! Zum Vergleich: Deutschland hingegen plus 59,2 Prozent. Dazu passt die Wachstumsrate des BIP pro Kopf. Im Zeitraum 1995 bis 2014 betrug sie für Japan plus 59 Prozent, in Deutschland hingegen plus 94 Prozent (etwa OECD-Durchschnitt),

- ständige Verschlechterung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Die Terms of Trade fielen von Anfang der neunziger Jahre von knapp 150 kontinuierlich auf 89 im Jahr 2013. Der reale und gewichtete Wechselkurs-Index für den Yen (2010 = 100) fiel unter Schwankungen von seinem Höhepunkt mit 150,2 im Jahr 1995 auf mittlerweile 69 im Juli 2015. Diesen Entwicklungen entsprechend drehte die Handelsbilanz von einem Überschuss von 105 Milliarden US-Dollar im Jahr 1995 in ein Minus von 121 Milliarden US-Dollar im Jahr 2014. Sie ist seit 2011 negativ. In der gleichen Zeit gelang Deutschland eine Verfünffachung seines Handelsbilanzüberschusses auf 294 Milliarden US-Dollar im Jahr 2014.

Blick auf die Demografie

So weit zur Vergangenheit. Um anhand dieser Datenlage sich einer wahrscheinlichen Prognose zu nähern, bedarf es noch des Blicks auf die Demografie, denn die Anpassungslasten und den Abbau der Staatsschulden hat maßgeblich die Erwerbsbevölkerung zu leisten.

Die Bevölkerungspyramide ist keine, sondern hat die Form eines Buchsbaums: Oben rund und bis zur Mitte eine Kugel, darunter immer schmaler werdend. Die am stärksten besetzten Altersklassen sind 40 bis 44, 60 bis 64 und 65 bis 69 Jahre mit jeweils knapp 10 Millionen. Abgesehen von den Alten jenseits der 80 ist die Gruppe der Babys und Kleinkinder von 0 bis 4 Jahren mit etwas mehr als 5 Millionen die kleinste Altersgruppe. Der Zenit der Bevölkerungsentwicklung lag mit 127 Millionen im Jahr 2013. Für die nächsten Jahrzehnte schrumpft die Bevölkerung stetig. Für 2040 werden noch 107 Millionen und für das Jahr 2060 noch 83 Millionen erwartet.

Aus der Fülle der Fakten lassen sich folgende Kernaussagen ableiten:

Von der überragenden Wettbewerbsfähigkeit Japans zu Beginn der neunziger Jahre ist nicht mehr viel übrig geblieben. Alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen, diesen Prozess zu stoppen oder gegenzusteuern, waren weitestgehend erfolglos. Auch wenn die Wechselkurspolitik unter dem Tarnmantel "Überwindung der Deflation und Stimulierung des Preisauftriebs (In flation)" politisch verkauft wird, hat die rasante Abwertung des Yen gegenüber den weltweit wichtigsten Handelspartnern Züge einer Beggarmyneighbour-Politik angenommen, ohne allerdings von Erfolg gekrönt zu sein.

Schwache Steuerbasis des Staates

Die Wachstumsrate des BIP war im zweiten Quartal 2015 sogar negativ. Im gesamten Jahr 2015 dürften es knapp 0,5 Prozent gewesen sein. Für die Jahre 2016 und 2017 werden Wachstumsraten von unter 1 Prozent prognostiziert. Die Exporte gehen zurück. Die Handelsbilanz bleibt negativ. Augenfällig ist aber auch, dass selbst Nullzinsen nicht zu Kapitalinvestitionen führen, vermutlich, weil man der Zukunft nicht traut. Die Unternehmen horten ihre Gewinne, investieren nicht, geben ihren Mitarbeitern keine höheren Löhne, sondern zahlen höhere Dividenden oder starten Aktien-Rückkauf-Programme.

Die schwache Steuerbasis des Staates bei der Einkommen- und Mehrwertsteuer kann wirtschaftspolitisch nur so interpretiert werden, dass die Nettolöhne und die Kaufkraft möglichst hoch bleiben sollten, damit der Konsum nicht geschwächt wird und keine Kompensation durch höhere Bruttolöhne vonseiten der Gewerkschaften und Arbeitnehmer gefordert werden konnte, denn höhere Bruttolöhne hätten die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen verschlechtert. Das wollte man nicht, bestand doch bei einigen Branchen und Konzernen die Gefahr, ihre Weltmarktstellung zu verlieren. Die Konsequenz war eine stetige Verschuldung des Staates zu niedrigen Zinsen.

Das Nichtabwürgen der Konjunktur durch Verzicht auf Steuereinnahmen und die unzähligen Programme, der lahmenden Konjunktur wieder neuen Schwung zu geben, waren letztendlich vergeblich, weil eine doppelte Unsicherheit in der Bevölkerung das Konsumieren verhindert. Die erste Unsicherheit sind die niedrigen Renten. Das führt spätestens ab dem 40. Lebensjahr zu verstärkten Sparanstrengungen. Und wie wird reagiert, wenn die Zinsen extrem niedrig sind? Es wird noch mehr gespart. Denn von den eigenen Kindern kann nicht viel erwartet werden, wenn überhaupt welche da sind. Das steht scheinbar im Widerspruch zur insgesamt sinkenden Sparquote. Dieser Widerspruch löst sich aber auf, wenn zugleich die Einkommenssituation der Menschen im Rentenalter betrachtet wird. Sie müssen entsparen und ihr Einkommen durch Arbeit aufstocken.

Ausdruck dieser prekären Einkommenssituation für die Rentner ist die Quote der noch erwerbstätigen Männer und Frauen jenseits des 69. Lebensjahres. Bei den 70- bis 74-Jährigen lagen die Erwerbsquoten im Jahr 2008 bei 30,5 Prozent (Männer) und bei 14,9 Prozent (Frauen). In der Altersgruppe 75 plus betrugen die Quoten noch 13,9 und 5,5 Prozent! Die zweite Unsicherheit betrifft die nachfolgende Generation der frisch ausgebildeten jungen Leute. Wie in Deutschland werden sie - nicht zuletzt wegen der fragilen Konjunktur - nur befristet eingestellt und schlecht bezahlt. Ein Drittel aller Beschäftigungsverhältnisse sind befristet. Folgen: Als starke Konsumentengruppe fallen sie aus, Heirat und Kinder - wenn überhaupt - später. In das Bild niedriger oder sinkender Löhne passt die mittlerweile bei null angekommene Sparquote. Damit ist das Potenzial für eine Steigerung des Konsums ohne strukturelle Veränderungen erschöpft.

Zuwanderung erfolgt nur in geringer Zahl und ist politisch nicht erwünscht. Wegen der niedrigen Geburtenrate wird die Erwerbsbevölkerung weiter kontinuierlich sinken. Von 1991 - ihrem Höhepunkt mit knapp 70 Millionen - sank sie bis 2013 auf 62 Millionen.

Szenario für Japan

Wenn die Kaufkraft in der Bevölkerung über einen langen Zeitraum derart niedrig gehalten wird, ist eine Deflation unausweichlich und kann mit den Mitteln der Geldpolitik nicht überwunden werden. Es sind zu konstatieren: sinkende Löhne, stagnierende Sparguthaben, ein sehr niedriges Rentenniveau, schlecht bezahlte befristete Beschäftigungsverhältnisse in großer Zahl sowie steigende Importpreise durch die massive Abwertung des Yen. Die Bekämpfung der Deflation mittels "qualitative and quantitative easing" ist daher eine Chimäre. Die Entwicklung der ökonomischen Grunddaten kann nur so interpretiert werden, dass Japan weiterhin eine "Gesellschaft des sozialen Verzichts" ist und Verzicht leistet zugunsten der Unternehmen zur Wahrung und Verbesserung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit und ihrer investiven Kraft. Japans börsennotierte Firmen sitzen auf umgerechnet 685 Milliarden Euro Cash, aber sie investieren nicht, jedenfalls nicht in Japan.

Eine Staatsverschuldung von 245 Prozent zum BIP kann bei einem Zinssatz von 0,52 Prozent für langfristige Kredite (2014) problemlos im Haushalt finanziert werden, denn es ergeben sich lediglich Zinsbelastungen von 3 Prozent der Staatsausgaben. Peanuts, könnte man sagen. Das sagen die Japaner vermutlich bereits seit 1998, dem Jahr, in dem das Niveau für langfristige Zinsen den Wert von 2 Prozent unterschritt und seitdem darunter verharrt. Aber was passiert, wenn Zinsen von 5 Prozent zu verkraften sind? Dann steigt die Zinslast auf 12 Prozent des BIP - das dürfte knapp 30 Prozent des Staatshaushalts entsprechen. Mögliche zwangsläufige Folgen: Die Löhne der Staatsbediensteten werden gekürzt, staatliche Investitionen unterbleiben, Sozialtransfers werden zusammengestrichen, Bildung wird vernachlässigt, Steuern werden erhöht.

Im Ergebnis wird eine Rezession unvermeidlich sein, da die Nachfrage massiv einbricht. Ein fiskalpolitisches Gegensteuern ist bei einem Schuldenstand von 245 Prozent zum BIP so gut wie ausgeschlossen. Proteste und politische Unruhen liegen auf der Hand, das Vertrauen in Parteien und in das parlamentarische System schwindet, neue radikale Parteien bekommen Oberwasser. Der ökonomische und politische Niedergang wird zudem noch mittelfristig durch die sinkende internationale Wettbewerbsfähigkeit verschärft, da die Infrastruktur marode wird und das Bildungssystem unzureichend ausgebildete Menschen entlässt. Wer investiert dort noch? Es wird wohl eher nach dem Motto ablaufen: Rette sich, wer kann. Das bedeutet Kapitalflucht bei ständiger Abwertung.

Folgen einer Zinswende in den USA

Die entscheidende Frage lautet: Wann ist Schluss mit den niedrigen Zinsen oder hat Japan eine Chance, seine Niedrigzinspolitik fortzusetzen? Trigger für steigende Zinsen sind die Notenbanken. Die Zinswende ist in den USA jüngst eingeleitet worden. Im Raum stehen weitere Zinserhöhungen vonseiten der Fed. Das wird zur Folge haben, dass sich die Zinssatzdifferenzen zwischen den Währungsräumen erhöhen werden. Das trifft auf eine Situation, in der weltweit die Geld- und Kapitalmärkte durch eine ultraleichte Geldpolitk mit Liquidität geflutet sind. Jede noch so geringe Chance, durch das Umschichten von Aktiva eine höhere Rendite zu erzielen, wird massiven Kapitaltransfers in das Land mit den höheren Zinsen auslösen. Und diese Kapitaltransfers sind fast risikolos, da sich zugleich der Wechselkurs positiv für die Kapitalexporteure entwickelt. Befeuert wird diese Entwicklung zudem noch, wenn dann der Yen weiter gezielt abgewertet wird. Hierfür setzt die Bank of Japan gegenwärtig bis auf Weiteres das Vehikel "Ankauf von Staatsanleihen" ein. Dadurch sinken die Renditen für diese Papiere. Die Zinssatzdifferenzen zwischen den Währungsräumen werden sich dann noch zusätzlich vergrößern.

Ein schwacher Yen verteuert schlagartig die importierten Güter und Dienstleistungen, während sich die Erfolge beim Export erst sukzessive einstellen werden. Die niedrigen Energiepreise verdecken diese Entwicklung zurzeit. Die negative Handelsbilanz in den letzten Jahren konnte durch hohe Nettofaktoreinkommen aus dem Ausland noch ausgeglichen werden. Japan ist in guten Zeiten einer der wichtigsten Hauptgläubiger der Welt geworden. Die Erträge aus Auslandsanlagen in Form von Krediten sowie Portfolio- und Direktinvestitionen sind trotz des weltweit niedrigen Zinsniveaus immer noch so bedeutsam, dass sich ungeachtet des hohen Defizits in der Handelsbilanz ein Überschuss in der Leistungsbilanz ergibt. Die Frage, Löcher in der Leistungsbilanz zu finanzieren, stellt sich momentan noch nicht, wenngleich der Überschuss 2014 nur noch 0,5 Prozent des BIP betrug. Japan ist mithin ein Land, in dem das Inländerprodukt deutlich größer ist als sein Inlandsprodukt.

Die Faktoreinkommen sind die entscheidende Bestimmungsgröße für den Leistungsbilanzsaldo und die Schuldentragfähigkeit im Innern und bei seinen internationalen Gläubigern. Durch die gezielte Abwertung des Yen hat sich in den letzten Jahren Japans "mismatch"-Problem - niedrige Erträge aus internationalen Dollaranlagen und hohe Verpflichtungen in heimischer Währung - aufgelöst, da nunmehr die internationalen Währungsanlangen, in Yen gerechnet, deutlich höhere Erträge erzielen. Doch diese Konstellation wird nicht von Dauer sein. Japan als rohstoffarmes Land lebt entscheidend von der Innovationskraft seiner Unternehmen. Und - wie bereits erwähnt - sitzen die börsennotierten Unternehmen auf Bergen von Cash und investieren nur zögerlich.

Staatsverschuldung einfach zu hoch

Lässt aber die Innovationskraft nach, werden die erzielbaren Renditen sinken. Dann sind auch rückläufige Faktoreinkommen aus dem Ausland absehbar. Verteuern sich zudem die Energie- und Rohstoffpreise wieder, tut sich mittelfristig ein größeres Loch in der Leistungsbilanz auf, das finanziert werden muss. Dafür können prinzipiell Devisenreserven oder ausländisches Kapital eingesetzt werden. Das Dahinschmelzen der Devisenreserven ist dann nur eine Frage der Zeit. Der Zustrom ausländischen Kapitals ist allerdings nur unter der Bedingung steigender Zinsen zu mobilisieren. Das führt wieder an den Anfang zurück und nichts ist durch den Ankauf der Staatsanleihen gewonnen. Schöne neue Welt?

Die bestehende Strategie der japanischen Regierung, die Staatsverschuldung über steigendes Wachstum sukzessive abzutragen, kann bereits als gescheitert betrachtet werden. Die aktuellen und prognostizierten Wachstumsraten von unter 1 Prozent dürften mit Sicherheit der Strategie zum Abbau der Staatsverschuldung nicht entsprechen. Mithin werden die ungelösten strukturellen Probleme im Staatshaushalt zu noch höherer Staatsverschuldung führen. Die erreichten 245 Prozent Staatsverschuldung in Relation zum BIP dürften sich bei anhaltender Wachstumsschwäche noch deutlich erhöhen. Die Vorstellung, dass die Zinsen weltweit dauerhaft auf dem heutigen niedrigen Niveau verharren, ist abwegig.

Ob mit oder ohne weltweiter Rezession kommt spätestens beim substanziellen Anstieg der Zinsen in den großen Wirtschaftsräumen die Stunde der Wahrheit für die Staaten mit hoher Staatsverschuldung. Dann sind 245 Prozent oder mehr Staatsverschuldung in Relation zum BIP für Japan - wie skizziert - einfach zu hoch. Es würde der Welt eine neue offene Flanke in der Staatsschuldenproblematik bescheren.

Konsequenzen für Europa?

Die Staaten in Europa folgen eher dem Modell "Gesellschaft der sozialen Teilhabe", obwohl sich in den letzten Jahrzehnten deutliche Fehlentwicklungen aufgetan haben. Zu nennen: Die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert sich, Altersarmut nimmt zu, befristete Beschäftigungsverhältnisse haben einen hohen Anteil erreicht, die Geburtenraten sind niedrig. Gleichwohl bewegen sich Spar- und Konsumneigung auf einem stabilen Niveau, die Staatshaushalte befinden sich auf dem Weg der Besserung oder sind sogar ausgeglichen, Im- und Exporte weisen keine markanten Verwerfungen auf, die Leistungsbilanz ist mit 250 Milliarden Euro positiv, Europa ist attraktiv für Migranten. Das sind gute Voraussetzungen, dass bei steigenden Zinsen die Konjunktur nicht gleich erdrosselt wird und die Staatshaushalte die erhöhte Zinslast solide finanzieren können. Um die sich vergrößernden Probleme Japans zu vermeiden, ist es für Europa empfehlenswert:

- die Politik niedriger Zinsen im Gleichschritt mit der Fed zu beenden. Niedrige Zinsen führen zu Fehlallokationen (Blasen). Weil Geld kaum noch etwas kostet, wird es orientierungslos und sickert in unproduktive Bereiche. Konjunkturell kann sich Europa steigende Zinsen leisten. Die haushälterische Allokation knapper Mittel schafft Ordnung und Struktur. Eine lange oder noch längere Phase niedriger Zinsen verschärft zudem die Kluft zwischen Arm und Reich. Vor allem verhindern niedrige Zinsen die Vermögensbildung der Beschäftigten für ihre Altersvorsorge. Bei einem erwarteten sinkenden Rentenniveau und einer starken Zunahme alter Menschen in den Gesellschaften sind niedrige Zinsen eine immer stärker tickende Zeitbombe.

Wenn werden soll, dass noch über 70-Jährige - wie in Japan - berufstätig sind und Dächer decken oder den Megaliner von München nach Hamburg lenken, dann sollte die EZB den Spuk niedriger Zinsen umgehend beenden. Unveränderte Zinssatzdifferenzen des Euro zum Dollar verhindern zudem massiven Kapitaltransfer in den Dollarraum und lassen das Importpreisniveau unverändert. Löcher in der Leistungsbilanz werden dadurch vermieden und die Devisenreserven geschont.

- Das Modell der "sozialen Teilhabe" ist zu pflegen. Junge, gut ausgebildete Menschen haben es nicht verdient, mit schlecht bezahlten Zeitverträgen abgespeist zu werden, die es fast unmöglich machen, eine Familie zu gründen und Kinder in die Welt zu setzen. Gut bezahlte und reguläre Jobs schaffen Lebenssicherheit. Das stärkt den Konsum und erlaubt den jungen Menschen, angemessen für das Alter vorzusorgen. Wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften es gemeinsam nicht schaffen, diesen wichtigen Faktor für eine stabile Gesellschaft anzuerkennen, sollte sich aufgrund der Erfahrungen in Japan die Politik nicht scheuen, in diesem Bereich gestaltend einzugreifen.

- Auch wenn der Zusammenhang zwischen Zins und Wachstum nicht monokausal ist, ist das niedrige japanische Wachstum trotz der niedrigen Zinssätze für langfristiges Kapital über einen Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten erstaunlich. Es widerspricht der ökonomischen Lehrmeinung. Pointiert kann dieser empirische Befund in den Satz umgemünzt werden: Dauerhaft niedrige Zinsen führen zu Wohlfahrtsverlusten. Das BIP pro Kopf entwickelte sich in Japan deutlich schlechter als der Durchschnitt für die OECD oder in Deutschland. Eine schlüssige Analyse kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Gleichwohl sollten die ernüchternden Ergebnisse der japanischen Zins- und Geldpolitik uns in Europa eine Mahnung sein, die Funktion eines niedrigen Zinses - den "Preis für die Zeit" - nicht zu überdehnen.

Quellen

OECD, BIZ, ILO, SZ, BoJ, MoF/J, IMF

Noch keine Bewertungen vorhanden


X