Soziale Dimension von Kreditgenossenschaften - Moderatoren im Markt

Dr. Holger Blisse, Foto: H. Blisse

Schon bei Hermann Schulze-Delitzsch, dem Initiator der deutschen gewerblichen Genossenschaftsbewegung, herrschte laut Autor das angloamerikanisch geprägte Verständnis von Entstehen und Vergehen von Unternehmen. Er weist darauf hin, dass es mit dieser Einstellung viele Kreditgenossenschaften heute nicht mehr gäbe. So wundert er sich auch, dass heute wieder auf europäischer Ebene der Ruf nach mehr Größe und Kapitalmarktorientierung der Banken laut wird, war es doch gerade die Größe der Institute und der Kapitalmarktprodukte, die in der Finanzkrise die Finanzstabilität bedrohten. Durch die Kapitalmarktorientierung von Banken sieht Blisse das Risiko und den Bedarf an Eigenkapital steigen. Zudem würden dadurch die Interessen von Eigentümern und Kunden divergieren, sofern diese nicht selbst Eigentümer der Bank sind. Der Sozialanalytiker findet, dass ein rein erwerbswirtschaftliches Geschäftsmodell der Natur von Kreditinstituten widerspreche. (Red.)

Die Rücklagen der Kreditgenossenschaften in Deutschland sind über viele Generationen von Mitgliedern gewachsen und haben dazu beigetragen, die heutigen Verbund- und Verbandsstrukturen aufzubauen und zu erhalten. Der individuelle Eigenkapitalbeitrag jedes Mitgliedes wird zum Nominale mit dem Beitritt zur Genossenschaft ein- beziehungsweise beim Austritt wieder zurückgezahlt (vgl. § 73 GenG).

Doch die Zeit hat sich gewandelt. Blicken wir in europäische Nachbarländer von Deutschland und nehmen das angloamerikanische Verständnis von Unternehmen, das immer mehr die Wirtschaftsweise in (Kontinental-)Europa prägt, dann sollten sich auch Unternehmen in der Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft einfügen in das "Entstehen, Werden und Vergehen" von Unternehmen. Dazu gehören Umwandlungen und das Spektrum der Möglichkeiten von Mergers & Acquisitons, wie es umso leichter anzuwenden ist, je standardisierter die Unternehmen in ihren Abläufen und in Bezug auf die Bewertung, idealerweise durch eine Börsennotierung, werden.

Ein ähnliches Verständnis findet sich bereits bei Hermann Schulze-Delitzsch (1808 bis 1883), Initiator der deutschen gewerblichen Genossenschaftsbewegung und des Genossenschaftsgesetzes, für die Entwicklung von Genossenschaften. Er ist davon nie frei geworden. Hätten sich die nachfolgenden Generationen diesem Verständnis angeschlossen, dann gäbe es viele der heutigen Kreditgenossenschaften nicht mehr. Mit Sicherheit wären Bankdienstleistungen dann teurer, oder es hätten sich neue lokale Selbsthilfeorganisationen gebildet, wie sie im angloamerikanischen Raum aber zum Beispiel auch in osteuropäischen Ländern die auf Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818 bis 1888) zurückgeführte Credit-Union-Bewegung hervorgebracht hat.

Soziale Marktwirtschaft als Ausgleich

Zum (theoretischen) Verständnis einer Markt- und Wettbewerbsökonomie gehört es, dass am Markt nicht überlebensfähige Einrichtungen ausscheiden. Doch es sind nur vordergründig Unternehmen, die "untergehen". Dahinter stehen immer Menschen, deren persönliche Lebensumstände davon betroffen sind und sogar getroffen werden. Daher ließ sich schon der Befürworter einer Marktwirtschaft in der jungen Bundesrepublik Deutschland, Ludwig Erhard, davon überzeugen, dass es eines sozialen Ausgleichs bedarf - zumindest in Gestalt einer sozialen Marktwirtschaft.

Auf europäischer Ebene geht man im Zusammenhang mit der Banken- und Kapitalmarktunion davon aus, dass sich "stärkere Kapitalmärkte ... in die starke europäische Tradition der Bankenfinanzierung einfügen" werden, mit dem Vorteil, dass finanzielle Risiken geteilt werden und die EU-Bürger und -Unternehmen bei Bankenschrumpfungen künftig weniger verwundbar sind." (Europäische Kommission, 2015). Dass es aber gerade die Größe der Marktteilnehmer, ihre Verflochtenheit ("too big and too interconnected to fail") und Kapitalmarktprodukte gewesen sind, die Kreditinstitute und Versicherungen in Schwierigkeiten gebracht haben und Staaten und Notenbanken in der Finanzmarktkrise seit 2007 mit ihren Rettungsmaßnahmen gefordert waren, das wird als eine Erkenntnis ausgeblendet.

Schutz durch genossenschaftliche Rechtsform und Verbund

In Erinnerung bleibt aber, dass die eigene Systeme ausbildenden, man könnte auch sagen sehr weitgehend marktautonomen dezentralen Bankengruppen weniger betroffen waren, darunter die genossenschaftliche Finanzgruppe - mit Ausnahme zweier sehr großer Institute.

Vor allem für die großen europäischen Kreditinstitute rechnet die Europäische Bankenaufsichtsbehörde in den nächsten Jahren mit zunehmendem aufsichtsrechtlichem Eigenkapitalbedarf von über 135 Milliarden Euro, besonders bei den großen Instituten.

Vor diesem Hintergrund ist es zwar nachvollziehbar, wenn vonseiten der europäischen Bankenaufsicht das Geschäftsmodell einer (börsennotierten) Aktienbank bevorzugt wird. Als Kapitalgeber treten vor allem internationale Investoren auf. Nicht sogleich nachvollziehbar ist der Plan, die Fusion zu immer größeren Einheiten zu fördern, wenn diese Einheiten nur mit einem höheren Kapital lebensfähig sind. Es sei denn, es wird ein Eigentümerwechsel bei den Instituten vorbereitet, der allmählich auch diese Institute "geordnet" aus dem Markt führen und Bankleistungen durch Marktleistungen ersetzen soll.

Woher soll das Geld kommen?

In der Dynamik, ein für Investoren attraktives Geschäftsmodell zu bieten, nehmen Risiken und zusätzlicher Eigenkapitalbedarf in den Kreditinstituten wechselseitig zu. Die Risiken steigen, um die Aussicht auf höhere Erträge beizubehalten, und sind durch zusätzliches Eigenkapital abzudecken, weil die Ausfallgefahr steigt und die Institute dafür selbst aufkommen sollen, um nicht noch einmal den Staat und damit die Allgemeinheit zu belasten. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten der Risikodiversifizierung begrenzt, indem für bestimmte Aktiva wie Unternehmensbeteiligungen eine immer höhere Unterlegung mit Eigenkapital gefordert wird.

Das Dilemma eines so regulierten Geschäftsmodells für Kreditinstitute liegt darin begründet, dass die Einlagen der Kundinnen und Kunden auf dem Spiel stehen. Die Interessen von Eigentümern börsennotierter Banken und Bankkunden geraten immer weiter auseinander. Das Management hat diesen Spagat auszuhalten. Es sei denn, Investoren setzen selbst das Management ein. Dann stimmen zumindest Eigentum und Kontrolle über die Unternehmensführung überein.

Doch wie steht es um das Interesse der Kunden und letztlich der Allgemeinheit, Einlagen sicher zu verwahren und zu einer verantwortungsvollen Vergabe von Krediten zu verwenden? Dies scheint eine vor allem auf hohe Gewinne für die Eigentümer setzende Ertragsorientierung auszuschließen. Daher wäre für Kreditinstitute, die im Eigentum besonders ertragsorientierter Eigentümer stehen, eine eigene Einlagensicherung ratsam. Das Beispiel von Kreditinstituten, bei denen die Interessen von Kunden, Eigentümern und Management weitgehend übereinstimmen, gilt es zu pflegen. Denn dies sind Institute, die - im Fall der Fälle - am wenigsten Probleme bereiten, sofern diese Interessenkongruenz auch beachtet wird. Und dazu zählen eben Kreditgenossenschaften mit ihrer Mitgliederförderung und Sparkassen mit ihrer Gemeinwohlorientierung, aber darüber hinaus im Selbstverständnis immer mehr für alle Kunden.

Eine Börsennotiz und damit Marktorientierung eines Kreditinstitutes bedeutet stets, dass die Interessen auseinanderlaufen - es sei denn, die Kunden selbst halten die Aktien. Doch wie lange? Denn geraten auch diese Institute in den Blick von Finanzinvestoren, dann zeichnet sich - wie es die Marktpreise für die großen europäischen Kreditinstitute bereits ankündigten - das Ende einer bewährten Institution ab, die doch gerade eine Alternative zum Markt darstellt beziehungsweise selbst marktähnlich aufgebaut ist.

Zwar sind Kapitalmärkte alles andere als perfekt, aber im Idealfall sollen sie gerade möglichst niedrige Transaktionskosten hervorrufen. Es überrascht nicht, wenn Märkte (Börsen) ursprünglich als Genossenschaften und Vereine konzipiert waren - nicht nur die Träger, Börsenvereine, in Deutschland, sondern zum Beispiel auch in der Schweiz. Dann kommen die Vorteile aus dem Marktmechanismus allen organisierten Marktteilnehmern zugute.

Vor diesem Hintergrund ist es notwendig zu betonen, dass ein (rein) erwerbswirtschaftliches Geschäftsmodell der Natur von Kreditinstituten, Banken und Sparkassen, widerspricht und dass zunehmende Ertragsorientierung in diesem Bereich mit ursächlich dafür ist, dass die Institute ihre (Re-)Finanzierung mit Preisen am Markt verglichen und Marktprodukte erworben haben, die in ihrer Komplexität und damit ihrem Risiko sogar von Rating-Agenturen schwer eingeschätzt werden konnten.

Arbeitsteilung im deutschen Bankensystem erhalten

Im heutigen Umfeld wären die Kreditinstitute gut beraten, zurück zu ihren Wurzeln zu kehren, solange die Substanz noch so gut und vorhanden ist, dass es Spielräume gibt, auch technologisch schwierige Umbruchphasen zu verkraften. Doch es könnte derzeit sogar der Eindruck entstehen, dass die Interessenvertretungen gegen ihre Mitglieder und für den Kapitalmarkt arbeiten, wenn sie Negativzinsen für (neue) Privatkunden billig(t)en oder den Sparerinnen und Sparern empfehlen (würden), ihr Geld doch besser in Investmentfonds anzulegen, und mithilfe und mangels Alternativen über IT-Lösungen das Bankgeschäft so sehr standardisier(t)en, dass die Freiheitsgrade und Entscheidungsspielräume bei der einzelnen Kreditgenossenschaft vor Ort immer weiter zurückgehen und am Ende eine reine Markt(mittler)funktion verbleibt.

Die vielen Generationen von Mitgliedern, private wie gewerbliche Kunden, vor heute, haben auf den Fortbestand ihrer Kreditgenossenschaften - beziehungsweise auch kommunalen Sparkassen - vertraut. Sie haben für die heutige Generation und künftige Generationen mit dem gewachsenen Vermögen vorgesorgt. Wenn diese dem Kapitalmarkt nicht zugängliche - soziale - Dimension von Kreditgenossenschaften erhalten bleibt, dann besteht die Aussicht, im Markt und (Preis-)Wettbewerb zu moderieren, ähnlich, wie es in der Wohnungswirtschaft geschieht.

Sozial verantwortlich entscheiden

Das, was einer Bank eine heute umso größere Daseinsberechtigung verschafft, das ist, entgegen einem "Banking is necessary, banks are not"-Gedanken, das Vertrauen der Sparerinnen und Sparer in die Institution und ihre Fähigkeit, das Geld einerseits sicher (und verzinst) zu verwahren und andererseits Personen und Unternehmen zur Verfügung zu stellen, die es für größere und langfristige Vorhaben - durchaus mit regionalem oder lokalem Bezug - benötigen. In dieser, einem Markt vergleichbaren aber im Eigentum der Kundinnen und Kunden stehenden Konstellation braucht es die Fähigkeit, sozial verantwortlich über die Mittelverwendung zu entscheiden - im Hinblick auf die Rückzahlbarkeit aber auch im Hinblick auf die Verwendung der Gelder.

Das Geld, das gerade der arbeitsteiligen Gesellschaft und ihrem Zusammenhalt dient, weil es den Verkehr von Handel, Waren und Dienstleistungen regelt, gerät nicht allein in den Einfluss einiger weniger - von wiederum wenigen kontrollierten - Einrichtungen, sondern verbleibt mit dem Verständnis von "Banks are necessary, listed banks are not" in der Verfügung einer breiten (Mitglieder-/Eigentümer-/Bevölkerungs-) Basis.

Literaturhinweise

Bartels, Hans G. (1994): Durch eine Umwandlung in Aktiengesellschaften erhalten die Eigner Zugriff auf die Rücklagen. In: Handelsblatt, Nr. 51, 14.03., S. 12. Blisse, Holger (2019): Genossenschaften im Markt - Zum ausgleichenden Beitrag einer Rechtsform im Markt und Wettbewerb am Beispiel der Kreditgenossenschaften - Grundlagen. Wien.

Blisse, Holger (2019): Die Vermögensverfassung der Genossenschaft (Teil 1 und 2)- Glaubens- oder Existenzfrage in einem arbeitsteiligen Bankensystem als Alternative zum Kapitalmarkt? In: Bank intern, Spezial, 22. Jg., Nr. 42 und Nr. 50.

Europäische Kommission (2015): Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion. Brüssel, S. 3.

European Banking Authority (EBA): Basel III Reforms: Impact Study and Key Recommendations. European Banking Authority, Paris, 2019, S. 22, online abrufbar unter: https://eba.europa.eu/documents/10180/2886865/Basel+III+reforms+-+Impact+study+and+key+reccomendations.pdf.

Fuhrmann, Uwe (2017): Die Entstehung der "Sozialen Marktwirtschaft" 1948/49. Konstanz.

Nordthüringer Volksbank (2011): Auszug aus einem Brief, zitiert nach: https://www.nordthueringer-volksbank.de/content/dam/f0459-0/aktuelles/finanzmarktkrise.pdf.

O. V. (apa/dpa) (2019): Negativzinsen treffen immer mehr deutsche Bankkunden. In: Wiener Zeitung, Nr. 226, 21.11., S. 10.

O. V. (apa/red.) (2020): Banken brauchen neue Einnahmequellen. In: Wiener Zeitung, Nr. 4, 07.01., S. 9.

Pal, Raoul (2019), zitiert in: https://www.onvista.de/news/der-europaeische-banken-sektor-steht-aus-chart-sicht-kurz-vor-dem-abgrund-coba-auf-rekordtief-deutsche-bank-groesste....

Tügel, Nelli (2018): Wie das Soziale in die Marktwirtschaft kam. In: Neues Deutschland, 15.01., https://www.neues-deutschland.de/artikel/1076195.wie-das-soziale-in-die-marktwirtschaft-kam.html.

Waldecker, Ludwig (1916): Die eingetragene Genossenschaft. Tübingen, S. 26, Fn. 1.

Dr. Holger Blisse Wirtschafts- und Sozialanalytiker, Wien
Dr. Holger Blisse , Wirtschafts- und Sozialanalytiker, Wien
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