Wirtschaftsnobelpreis

Jean Tirole - "Wirtschaftswissenschaft umgebrochen und geprägt"

Prof. Dr. Ernst-Ludwig von Thadden, Rektor, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Mikroökonomische Theorie, Universität Mannheim

Als Jean Tirole im Jahr 1981 seinen PhD am Massachussetts Institute of Technology erwarb, befanden sich die Wirtschaftswissenschaften im Umbruch. Die klassischen Paradigmen der Wirtschaftspolitik sowohl im Bereich der Makroökonomik als auch der Mikroökonomik waren an Grenzen gestoßen, die sowohl fachimmanent als auch von außen erzwungen worden waren. In der Makroökonomik hatten die Folgen des ersten Ölpreisschocks von 1971 sowohl die klassische Keynesianische Wirtschaftspolitik der fünfziger und sechziger Jahre als auch die traditionelle Wachstumstheorie in ihren Grundfesten erschüttert. In der Preistheorie und Wettbewerbspolitik waren die klassischen Konzepte der Erklärung von Märkten auf der Basis von "Structure-Conduct-Performance" und des Rekurs auf vollkommenen Wettbewerb durch das Entstehen neuer Marktformen, Unternehmensstrategien und Regulierungsprobleme weitgehend überholt.

Interessanterweise wandte sich Tirole zunächst dem ersteren Problemkreis zu und wendete die Theorie rationaler Erwartungen auf die Untersuchung von Spekulationsblasen in allgemeinen Finanz- oder Gütermärkten an. Diese erste bahnbrechende Veröffentlichung von 1982 und eine weitere von 1985 fanden damals zwar große Anerkennung, hatten aber geringe Konsequenzen; sie sind erst wieder nach der großen Finanzkrise von 2007 bis 2010 in das Bewusstsein weiter Kreise der Wissenschaft geraten.

Sehr schnell wandte sich Tirole dann dem großen Feld der Wettbewerbstheorie zu, das er in wenigen Jahren vollkommen neu aufstellte. Seit den siebziger Jahren hatten Harsanyi, Selten, Kreps, Wilson und andere die Spieltheorie zu einem Werkzeug entwickelt, das es erlaubte, den Wettbewerb zwischen strategisch agierenden Marktteilnehmern auf neue Weise zu interpretieren und beschreiben. Diese Gründerväter der neuen Wettbewerbstheorie waren beileibe keine weltabgewandten Theoretiker - Selten hatte zum Beispiel in einem schönen, wenig bekannten Artikel argumentiert, dass in vielen Wettbewerbssituationen vier Marktteilnehmer "wenig" und sechs "viel" seien. Aber es fehlte derjenige, der die neuen Werkzeuge systematisch einzusetzen in der Lage war, um strategische Probleme wie ruinösen Wettbewerb, vertikale Integration, Patentrennen, Kartelle, Beschaffungswesen, und vieles mehr zu analysieren und in einem gemeinsamen theoretischen Gebäude zusammenzuführen. Dank seiner enormen synthetischen Intelligenz, Originalität und Leistungsfähigkeit gelang dies Tirole in den achtziger Jahren. Seine 1988 erschienene "Theory of Industrial Organization" war das Ergebnis seiner jährlichen PhD-Vorlesungen am MIT, in denen er Kohorten der besten Nachwuchswissenschaftler der Welt mit seinen Ideen konfrontierte und diese damit weiter entwickelte und in die wissenschaftliche Welt hinaustrug.

Parallel zu diesem Umbruch der Wettbewerbstheorie hatte Tirole die Spieltheorie so weit weiter entwickelt, dass sie für diese und viele andere Anwendungen einsetzbar war. Sein Lehrbuch "Game Theory", das er 1991 zusammen mit Drew Fudenberg veröffentlichte, ist bis heute das Standardwerk der Spieltheorie geblieben, obwohl und gerade weil es manche der Fundamentalprobleme und -debatten der Spieltheorie auf geniale und pragmatische Weise umschiffte.

Seine bahnbrechende Arbeit in der Wettbewerbstheorie und -politik wurde dadurch allerdings nicht gebremst. Schon 1993 fasste er zusammen mit Jean-Jacques Laffont die wichtigsten neuen Arbeiten in einem weiteren Buch zusammen, dem 700 Seiten starken Werk "A Theory of Incentives in Procurement and Regulation". Hier finden sich insbesondere wegweisende Gedanken zum Problem des Beschaffungswesen der öffentlichen Hand, das hier zum ersten Mal systematisch als Informations- und Anreizproblem in einer bilateralen Vertragssituation analysiert wurde. Diese Gedanken sind heute auch in Deutschland aktueller denn je, wie die jüngsten Erfahrungen mit dem Beschaffungs(un)wesen der Bundeswehr zeigen. Kurz darauf folgte, ebenfalls gemeinsam mit Laffont, das Buch "Competition in Telecommunications", in dem beide den im Entstehen begriffenen Markt für Telekommunikationsdienste im Lichte der neuen Theorien analysierten. Die Deregulierung dieses Marktes in den neunziger Jahren, die konzeptionell nicht einfach war, hat vermutlich mehr Wohlstand in der breiten Bevölkerung erzeugt als manche gut gemeinte lohnpolitische Offensive einer Regierung.

Mit dieser Bilanz hätte Tirole, gut zehn Jahre nach seiner Promotion, in aller Ruhe zurückschalten und dem Nobelpreis entgegensehen können. Stattdessen hat er in den letzten 20 Jahren nicht nur die Wettbewerbstheorie weiter entwickelt und für die Welt des Internets geöffnet, sondern auch bahnbrechende Arbeiten auf dem Gebiet der Unternehmensfinanzierung und Finanzmärkte verfasst (zusammen mit Bengt Holmström), die in seiner monumentalen "Theory of Corporate Finance" von 2005 mündeten, hat die Theorie der Bankenregulierung lange vor dem Ausbruch der globalen Finanzkrise neu aufgestellt, hat Grundlegendes im Bereich der Organisationstheorie geleistet, wo er die Struktur von Hierarchien, Bürokratie und Unternehmen in der Nachfolge Max Webers neu durchdacht hat, hat (zusammen mit Roland Benabou) die psychologischen Grundlagen ökonomischen Verhaltens systematisch infrage gestellt und neu formuliert, und hat in vielen weiteren Bereichen, von der Arbeitsmarktpolitik bis zum Problem der globalen Erwärmung grundlegende Anstöße für die Wirtschaftspolitik gegeben. Und ein Ende ist nicht absehbar. Schon jetzt hat Tirole wie kaum ein anderer die gesamte Wirtschaftswissenschaft umgebrochen und geprägt.

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