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Bestandsaufnahme Finanzmarktregulierung - der Fahrplan Kapitalmarktunion im Zeichen des bestehenden Umfeldes

Dr. Michael Meister, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, Berlin - Bei allem Lob für die Arbeit an einem neuen Ordnungsrahmen für die Finanzmärkte hat der Autor auch die verbleibenden Hürden im Blick. So befürchtet er angesichts der öffentlichen und privaten Verschuldung in einigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union eine Beeinträchtigung des Wachstumspotenzials. Und auch den Abbau der notleidenden Kredite in den Bilanzen der europäischen Banken identifiziert er als dringliche Aufgabe. Als wichtigen Beitrag zur Entschärfung der Probleme stuft er den langfristig angelegten Aktionsplan Kapitalmarktunion ein, von dem er sich bis in den Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen hinein einen Abbau der Hemmnisse zwischen anlagesuchenden Investoren und kapitalsuchenden Unternehmen erhofft. Zu den erfolgversprechenden Einzelmaßnahmen rechnet er nicht zuletzt auch eine Wiederbelebung des europäischen Verbriefungsmarktes durch ein gleichermaßen transparentes wie beaufsichtigtes Qualitätsprodukt. (Red.)

Die Finanzkrise hat die Notwendigkeit eines neuen Ordnungsrahmens für die Finanzmärkte aufgezeigt. In relativ kurzer Zeit wurden zur Krisenbewältigung und -prävention sowohl auf globaler als auch auf europäischer und nationaler Ebene im Banken-, Wertpapier-, Investment- und Versicherungswesen weitreichende Reformen umgesetzt oder auf den Weg gebracht. Ziel dieser Reformen ist es insbesondere, die Stabilität des Finanzsektors zu verbessern, das Risiko, dass Steuerzahler für notleidende Finanzunternehmen aufkommen müssen, zu reduzieren sowie die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Staat und Finanzsektor zu verringern.

Über 40 Legislativvorschläge verabschiedet

Im Einzelnen wurden allein auf Ebene der Europäischen Union (EU) deutlich über 40 Legislativvorschläge verabschiedet. Zu den wesentlichen Neuerungen gehören auf globaler Ebene die höheren Eigenkapitalanforderungen an Banken nach Basel III, die vom Financial Stability Board entwickelten sogenannten Key Attributes für die Bankenabwicklung sowie internationale Standards zur Abwicklung von OTC-Derivaten.

Europäisch waren die Schaffung der Bankenunion mit der Europäischen Zentralbank (EZB) als zentraler Aufsichtsbehörde für bedeutende Banken des Euroraums und dem einheitlichen Abwicklungsmechanismus sowie die Erweiterung der regulatorischen Anforderungen im Wertpapierbereich auf bisher nicht regulierte Handelsplätze und Finanzinstrumente durch die überarbeitete Finanzmarktrichtlinie (Mi-FID II) wesentliche Schritte, um einen sicheren und soliden Finanzsektor zu schaffen.

Als vorläufige Zwischenbilanz der Reformen lässt sich festhalten: Sie tragen dazu bei, dass etwa acht Jahre nach dem Zusammenbruch der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers die Finanzmärkte heute erheblich stabiler sind als vor Ausbruch der Krise. Selbst ein so weitreichendes Ereignis wie das Votum der britischen Bevölkerung im Juni 2016, die Europäische Union zukünftig zu verlassen, hat das Vertrauen in die Stabilität der Finanzmärkte nicht in seinen Grundfesten erschüttert. Auch die Ergebnisse des Stresstests der Europäischen Bankenaufsicht (EBA) von Ende Juli dieses Jahres bestätigen, dass das europäische Bankenund Finanzsystem insgesamt außerordentlichen Belastungen gewachsen ist.

Als Fernwirkung der Finanz- und Schuldenkrise ist die Europäische Union gleichwohl immer noch mit einem Patienten vergleichbar, der auf vollständige Gesundung und Erholung wartet. Insbesondere hat die öffentliche und private Verschuldung in einigen Mitgliedsstaaten ein Ausmaß erreicht, das das Wachstumspotenzial beeinträchtigt.

Haushaltskonsolidierung und Bilanzbereinigung

Parallel dazu berichtet die EZB in ihrem aktuellen Finanzstabilitätsbericht vom Mai 2016, dass europäische Banken in ihren Bilanzen notleidende Kredite (Non-Performing Loans) mit einem Gesamtvolumen von 950 Milliarden Euro ausweisen. Die notleidenden Kredite schmälern die Profitabilität der Banken, führen zu eingeschränkter Kreditvergabe an die Realwirtschaft, erschweren die wirtschaftliche Erholung und belasten die Finanzstabilität im Euroraum.

Finanz- und wirtschaftspolitisch sind wachstumsorientierte Haushaltskonsolidierung, einschließlich Bilanzbereinigung im privaten Sektor, sowie konsequente strukturelle Reformen unerlässlich, damit die EU und ihre Mitgliedsstaaten im internationalen Standortwettbewerb bestehen können. Jeder Mitgliedsstaat, aber auch die EU ist gefordert, im jeweiligen Verantwortungsbereich Reformen zu initiieren beziehungsweise umzusetzen, um attraktive wirtschaftliche Rahmenbedingungen herzustellen.

Aktionsplan Kapitalmarktunion

Stabile, funktionsfähige Finanzmärkte sind ein wesentliches Element dieser Rahmenbedingungen. Auf EU-Ebene verbürgt sich unter der Überschrift "Kapitalmarktunion" ein umfangreiches Maßnahmen- und Reformpaket, das die Abhängigkeit der Realwirtschaft von bankbasierten Finanzierungen reduzieren will. Im Kern zielt das Vorhaben darauf, Hemmnisse zwischen anlagesuchenden Investoren und kapitalsuchenden Unternehmern abzubauen sowie Hürden zu überwinden, die insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU) davon abhalten, einen breiteren Investorenkreis zu erreichen. Durch die Umsetzung diverser, in einem Aktionsplan beschriebener Maßnahmen soll bis 2019 ein einheitlicher EU-Kapitalmarkt entstehen.

Der Aktionsplan Kapitalmarktunion vom 30. September 2015 beschreibt Maßnahmen, die folgende sechs Vorhaben in Angriff nehmen sollen: (1) Förderung der marktbasierten Wachstumsfinanzierung für Start-ups und KMU, (2) Vereinfachung des KMU-Kapitalmarktzugangs, (3) Förderung von Langfrist-, Infrastruktur- und nachhaltigen Investitionen, (4) Stärkung von privaten und institutionellen Investoren, (5) Unterstützung der Banken bei ihrer Finanzierungsaufgabe und (6) Vereinfachung grenzüberschreitender Investitionen.

Erster Fortschrittsbericht der Kommission

Ein erster Fortschrittsbericht der Kommission vom April 2016 bestätigt, dass die zeitlich prioritären Maßnahmen des Aktionsplans initiiert wurden. Der aktuelle Stand im Einzelnen:

- Die Solvency-II-Regelungen für Infrastrukturvorhaben wurden angepasst, um ungerechtfertigte aufsichtsrechtliche Hindernisse zu beseitigen. Auf der Grundlage einer Empfehlung der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) wurden Rechtsvorschriften erlassen, die eine eigene Anlageklasse für Infrastrukturinvestitionen schaffen und die vorgeschriebene Eigenmittelunterlegung der Schuldtitel- und Beteiligungsinvestitionen von Versicherern in qualifizierte Infrastrukturprojekte absenken. Die Europäische Kommission plant, zukünftig zu untersuchen, inwieweit die reduzierten Kapitalanforderungen auch auf andere Assetklassen übertragen werden können.

- Der Rat einigte sich im Dezember 2015 auf einen Gesetzgebungsvorschlag der Europäischen Kommission zur Wiederbelebung der Verbriefungsmärkte. Der Vorschlag enthält einen Rechtsrahmen für Verbriefungen, die einfach, transparent und standardisiert (simple, transparent and standardized, STS) sind und einer angemessenen Aufsicht unterliegen; die STS-Verbriefungen werden gegenüber herkömmlichen Verbriefungen erleichtert.

Mit den Änderungen ist die Erwartung verbunden, dass die Verbriefungsemissionen in der EU wieder das Vorkrisenvolumen erreichen können. Sollte dies der Fall sein, könnte dies nach den Schätzungen der Kommission zwischen 100 Milliarden und 150 Milliarden Euro zusätzliche Finanzmittel für die Wirtschaft freimachen. Das Europäische Parlament wird seinen Bericht voraussichtlich Ende des Jahres verabschieden, sodass das europäische Gesetzgebungsverfahren 2017 abgeschlossen werden kann.

- Der Rat verständigte sich im Juni dieses Jahres auf einen Gesetzgebungsvorschlag der Europäischen Kommission zu vereinfachten Prospektanforderungen und verringerte Verwaltungslasten, damit die Kapitalbeschaffung für Unternehmen günstiger wird. Der Gesetzgebungsvorschlag enthält unter anderem ein vereinfachtes Verfahren für KMU. Das Europäische Parlament wird seinen Bericht voraussichtlich im September 2016 beschließen.

- Ein Maßnahmenpaket zur Ankurbelung der europäischen Märkte für Wagniskapital hat die Europäische Kommission kürzlich vorgelegt. Dazu gehört die Überprüfung der Verordnungen über Europäische Risikokapitalfonds (EuVECA) und Europäische Fonds für soziales Unternehmertum (EuSEF). Die von der Kommission vorgeschlagenen Verordnungen sollen dazu beitragen, die Finanzierungsquellen für KMU zu diversifizieren und Kapital freizusetzen, indem Anlegern, Fondsverwaltern und Portfoliounternehmen der Zugang zu EuVECA- und EuSEF-Fonds erleichtert wird.

Graduelles Vorgehen

Die EU geht mit dem Aktionsplan graduell vor: Die überwiegende Mehrheit der Vorhaben werden zunächst öffentlich konsultiert und anschließend erst konkrete Vorschläge entwickelt. Der Ablauf stellt Transparenz und Öffentlichkeit her. Das Vorgehen der Europäischen Kommission wird nachvollziehbar und interessierten Organisationen und Individuen wird eine Möglichkeit der Beteiligung gegeben. Im schrittweisen Ansatz sind für die verbleibendenden Monate dieses Jahres weitere Maßnahmen angekündigt, die von der Europäischen Kommission mit Nachdruck verfolgt werden:

- Die Kommission prüft mögliche Barrieren für den grenzüberschreitenden Vertrieb von Investmentfonds. Eine Konsultation und ein Workshop mit Industrievertretern haben bereits stattgefunden. Ziel ist es, sogenannte Best Practices zu ermitteln.

- Vorschläge im Nachgang zu einer Konsultation zum Zusammenwirken der Finanzmarktregulierung (Call for Evidence) wird die Kommission voraussichtlich im Rahmen der jeweiligen Rechtsgebiete vorlegen. Ziel der Sondierung war, ein besseres Verständnis der Wechselwirkung einzelner Vorschriften und der kumulativen Wirkung des gesamten Regelwerks zu gewinnen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse sollen die Regelwerke überprüft und - sofern erforderlich - angepasst werden.

Keine Verdrängung der Finanzierung durch Banken

Erforderlich ist in diesem Rahmen auch eine Effektivierung der sehr unterschiedlichen nationalen Insolvenzverfahren, um unter anderem das Ausmaß notleidender Kredite in den Bankbilanzen dauerhaft zu reduzieren.

Deutschland unterstützt den von der Europäischen Kommission initiierten Aktionsplan Kapitalmarktunion aktiv. Dabei geht es nicht um eine Verdrängung einer - insbesondere in Deutschland - erfolgreichen Finanzierung durch Banken. Jedoch kann die Diversifizierung der Finanzierungsquellen einen wichtigen Beitrag leisten, um die europäische Wirtschaft widerstandsfähiger zu machen. Gut funktionierende Kapitalmärkte haben das Potenzial, Chancen und Risiken zu streuen und an Anleger weiterzugeben, die bereit und in der Lage sind, die Risiken zu tragen. Eigenkapital kann ein Stoßdämpfer sein, wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert. Die puffernde Kapazität der Kapitalmärkte ist besonders hoch, wenn Kapital in Form von Eigenkapital eingesetzt wird.

Die noch für dieses Jahr angekündigten Maßnahmen werden den Finanzbinnenmarkt weiter vertiefen. Hierzu können nicht zuletzt auch effizientere nationale Insolvenzverfahren beitragen. Nationale Insolvenzregime in einigen Mitgliedsstaaten müssen kostengünstiger, verlässlicher und zügiger funktionieren, nicht zuletzt in den Bereichen, die relevant sind für die Solvenz und Abwicklung von Banken. Effiziente Insolvenzverfahren könnten dort spürbar zur Verbesserung der Standortbedingungen sowie zum Abbau leistungsgestörter Kredite beitragen.

Umfassende konsultationsbasierte Folgenabschätzung

Weitere Vorschläge können sich im Nachgang zum Call for Evidence ergeben. Insbesondere müssen im Sinne des Proportionalitätsgedankens bürokratische Hürden (zum Beispiel Berichtspflichten gegenüber der Aufsicht) für kleine Banken hinterfragt werden. Es sollte ein vereinfachtes Regime geschaffen werden, das speziell auf die Bedürfnisse kleiner, regionaler Kreditinstitute zugeschnitten ist. Kleine, regionale Institute sind häufig Hausbanken von KMU. Sie gilt es, zu erreichen und wo möglich zu entlasten, ohne zu deregulieren oder neue Regelungslücken für bedeutsamere Institute zu schaffen.

Neue Legislativvorschläge der Kommission müssen sich darüber hinaus in die Initiative für eine bessere europäische Rechtsetzung (Better Regulation) einfügen. Die Kommission ist gefordert, Rechtsakte, die erhebliche wirtschaftliche und soziale Auswirkungen haben, erst nach umfassender konsultationsbasierter Folgenabschätzung vorzulegen und ihre eigenen Richtlinien für eine kluge Rechtsetzung einzuhalten. Bei der Vorlage ihres Vorschlags für ein euroraumweites Einlagensicherungssystem hatte die Kommission auf eine aktuelle Folgenabschätzung und eine Konsultation verzichtet. Dies erschwert bis heute erheblich eine konstruktive Diskussion im Rat.

Im Bankensektor bleibt es dringend erforderlich, die immer noch bestehenden Risiken durch wirksame Maßnahmen weiter zu reduzieren, bevor vorschnell eine weitere Vergemeinschaftung von Risiken, wie zum Beispiel die Schaffung einer gemeinsamen Einlagensicherung, geplant wird. Ziel muss sein, dass zukünftig nicht mehr Bürger und Steuerzahler für Banken haften.

Die Kapitalmarktunion ist ein Langfristvorhaben. Auch nach Laufzeitende des Aktionsplans Ende 2019 werden Maßnahmen erforderlich sein, um die Tiefe, Integration, Ergiebigkeit und Weite der europäischen Finanzmärkte weiter zu verbessern.

Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen als flankierende Maßnahmen

Die erwarteten positiven Wirkungen auf Wachstum und Beschäftigung wird der Aktionsplan Kapitalmarktunion nur vollständig entfalten können, wenn er von wachstumsorientierter Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen begleitet wird. Der Abbau der öffentlichen und privaten Verschuldung ist weiterhin zentral, um die Wachstumsgrundlagen in der EU zu stärken. Strukturreformen in den Mitgliedsstaaten sind geboten, um günstige Rahmenbedingungen für unternehmerische Investitionstätigkeit zu schaffen. Die Maßnahmen des Aktionsplans zur Stärkung der Eigenkapitalfinanzierung können dazu beitragen, die Standortbedingungen für Unternehmen zu verbessern. Es sind aber weitere Reformen notwendig, um das unternehmerische Wachstumspotenzial vollständig in der EU auszuschöpfen. Die an die Mitgliedsstaaten im Europäischen Semester adressierten länderspezifischen Empfehlungen skizzieren den politischen Akteuren Aktionsfelder, um das Umfeld für Investitionen weiter zu verbessern.

Eine Kapitalmarktunion mit Einheitslösungen für alle Marktteilnehmer in der EU ist aufgrund der Heterogenität der Märkte jedoch nicht erstrebenswert. Auf längere Sicht kann eine Kapitalmarktunion nur erfolgreich sein, wenn ungeachtet der Notwendigkeit einheitlicher Regeln für internationale Geschäfte die Besonderheiten der nationalen Märkte der Mitgliedsstaaten Berücksichtigung finden.

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