Natürlicher Zins: kein geeignetes Instrument für die Steuerung der Geldpolitik

Ulrike Groschopp, Foto: DVFA

Die Nachteile der expansiven Geldpolitik werden immer sichtbarer und spiegeln sich in der laufenden Bilanzsaison deutlich in der Ertragsrechnung aller hiesigen Bankengruppen wider. Nur dem Wachstum des Kreditgeschäftes und der Kundeneinlagen ist eine gewisse Entlastung der Ertragsrechnung zu verdanken. Die seit Jahren anhaltende Verschiebung der Struktur der Kundeneinlagen lenkt den Blick der Aufsicht allerdings verstärkt auf das Zinsänderungsrisiko der Institute. Leitzinserhöhungen wie sie in vergangenen Schwächephasen zu beobachten waren, sind nicht mehr möglich, die Notenbanken denken über andere geldpolitische Instrumente nach, unter anderem über das Konzept des natürlichen Zinses. Die Autoren erläutern diesen Ansatz, halten ihn aber nicht für geeignet, die Geldpolitik zu steuern. Ihre Botschaft: Ein theoretisches Konzept mit solch vielen methodischen Schwächen darf nicht zur Begründung für weitere unkonventionelle Maßnahmen der EZB werden. (Red.)

In den drei großen Wirtschaftsblöcken - den Vereinigten Staaten, Japan und der Eurozone - waren die Notenbankzinsen im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise auf historisch niedrige Niveaus gesenkt und als das nicht auszureichen schien, ist die Geldpolitik über massive Anleihekäufe der Zentralbanken noch expansiver ausgestaltet worden. Die Nachteile dieser expansiven Geldpolitik werden immer deutlicher sichtbar und sie drohen sich angesichts einer nachlassenden Konjunktur zu perpetuieren. So erodiert langsam das Zinsgeschäft der Banken und im Versuch, ihre Zinsergebnisse einigermaßen zu stabilisieren, vergeben sie Kredite zu immer längeren Laufzeiten, während gleichzeitig der Anteil der kurzfristigen Einlagen wächst. So entfallen bei den deutschen Sparkassen sowie Volks- und Raiffeisenbanken rund zwei Drittel der Kundeneinlagen auf täglich fällige Gelder. Hier baut sich ein Zinsänderungsrisiko auf, das mittlerweile sogar die BaFin beschäftigt. Sie sieht zwar noch keine konkreten Gefahren für die Finanzstabilität in Deutschland, äußert aber Wachsamkeit.

Kaum noch Chancen zur Lockerung der Geldpolitik

Dies ist durchaus angezeigt, weil eine Änderung der Zinspolitik der EZB nicht abzusehen ist. Während die Leitzinsen in den USA schon wieder um gut 200 Basispunkte angehoben wurden, verharren sie in der Eurozone weiterhin im negativen Bereich (Einlagensatz) oder bei null (Refinanzierungssatz). Im Gegensatz zur Fed hat die Europäische Zentralbank das positive Umfeld der letzten Jahre nicht genutzt, die Geldpolitik zumindest ansatzweise zu normalisieren. Nun, da sich das konjunkturelle Bild wieder eingetrübt hat, wachsen die Zweifel, ob die EZB für einen möglichen Abschwung gerüstet ist. Die Leitzinsen, so die Zweifler, könnten schließlich nur gesenkt werden, wenn sie vorher erhöht worden seien. Die EZB habe die Chance zu Zinserhöhungen in den letzten Jahren verpasst und habe nunmehr kaum noch Optionen, die Geldpolitik wieder zu lockern, wenn das erforderlich werden sollte. Denn historisch gesehen seien in einer schweren Rezession Leitzinssenkungen um 3 bis 6 Prozentpunkte nötig gewesen.

Vor diesem Hintergrund werden zunehmend Überlegungen angestellt, die Ziele der Geldpolitik entweder zu verändern oder den Instrumentenkasten der Notenbanken zu erweitern. Ein höheres Inflationsziel, Helikoptergeld oder die Senkung der Leitzinsen tief in den negativen Bereich sind einige Optionen, die in diesem Zusammenhang genannt werden. So schlägt zum Beispiel der finnische Notenbankchef Olli Rehn vor, die Prinzipien, wichtigsten Annahmen und Instrumente der Geldpolitik zu überprüfen. Schließlich würden die Inflationserwartungen weiter sinken und unter dem Zielwert von "nahe, aber unter 2 Prozent" aus der geldpolitischen Strategie der Europäischen Zentralbank aus dem Jahr 2003 liegen.

Weil als Haupthindernis für noch tiefer negative Zinsen gilt, dass Bürgern und Finanzinvestoren Bargeld als Ausweichoption zur Verfügung steht, gehen IWF-Ökonomen in Denkschriften sogar so weit, die Geldmenge zu teilen: Zum einen in "E-Ge l d", das elektronisch auf den Spar- und Girokonten liegt, zum anderen in Bargeld. Das Bargeld solle im Bedarfsfall gegenüber dem E-Geld abgewertet werden, im gleichen Maß wie der Negativzins.

Das Konzept des natürlichen Zinses

Solchen Vorschlägen liegt die Vorstellung zugrunde, dass es nicht die Geldpolitik ist, die die Zinsen in den negativen Bereich getrieben hat, sondern säkulare Veränderungen im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld. Hier kommt das Konzept des natürlichen Zinses ins Spiel, das eine theoretische Begründung für dauerhaft niedrige oder deutlich negative Leitzinsen liefern könnte.

Der natürliche Zins (r*) wird ursprünglich definiert als "jene Rate des Darlehenszinses, bei welcher dieser sich gegenüber den Güterpreisen durchaus neutral verhält und sie weder zu erhöhen noch zu erniedrigen die Tendenz hat..." (Wicksell 1898) Das heißt, der Gütermarkt befindet sich im Gleichgewicht und das Preisniveau ist stabil. Übersetzt auf die Geldpolitik bedeutet das, dass der neutrale (reale) Leitzins derjenige Leitzins ist, der den gesamtwirtschaftlichen Finanzierungszins auf das Niveau seines Gleichgewichts r* bringt.

Der natürliche Zins kann aber weder gemessen noch berechnet werden, sondern er wird geschätzt. Er ist damit stark von den verwendeten Modellen abhängig und variiert über die Zeit. Wenn schon der Referenzmaßstab nicht genau definiert ist, ist es schwierig zu beurteilen, ob der gesamtwirtschaftliche Finanzierungszins darüber oder darunter liegt, die Geldpolitik mithin restriktiv oder expansiv wirkt.

Wenn die Aussage zuträfe, dass ein nominaler Leitzins von Null auf die Wirtschaft immer noch restriktiv wirkt, wäre die Senkung der Leitzinsen tief in den negativen Bereich zu rechtfertigen. Allerdings ist die Frage, ob ein bestimmter Leitzins auf die Wirtschaft expansiv oder restriktiv wirkt, schwer zu beantworten. Hierfür ist es erforderlich, einen Maßstab zu finden, der die Finanzierungsbedingungen in der Gesamtwirtschaft widerspiegelt. Der aktuelle Stand dieses Zinssatzes muss dann verglichen werden mit demjenigen Stand, der als neutral anzusehen ist. Würde der gesamtwirtschaftliche Finanzierungszins über seinem Gleichgewichtsniveau r* liegen, könnte das ein Indiz für die Zentralbank sein, dass der Leitzins zu hoch, die Geldpolitik mithin zu restriktiv ist. Eine expansivere Geldpolitik mit niedrigeren Leitzinsen, die auch den gesamtwirtschaftlichen Finanzierungszins auf tieferes Niveau senken würde, wäre die Folgerung aus dieser Beobachtung.

Dass das Thema natürlicher Zins nicht nur theoretischer Natur ist, sondern sich auch Notenbanken damit beschäftigen, zeigt die Tatsache, dass die EZB im Dezember 2018 ein Arbeitspapier veröffentlicht hat, das darlegt, dass der natürliche Zins seit Jahrzehnten sinke. Es spreche vieles dafür, dass er im Euroraum aktuell sogar negativ sei. Vor dem Hintergrund, dass selbst die Bank of England bereits geldpolitische Entscheidungen mit diesem Befund begründet hat (Inflationsbericht August 2018), erhält diese vermeintlich akademische Betrachtung geldpolitische Relevanz.

Selbst wenn die Leitschnur der EZB das Inflationsziel ist und bleibt - in dem Moment, in dem über den "natürlichen Zins" auch eine Anhebung des aktuellen Inflationsziels von 2 Prozent ins Spiel kommt, würde damit weiter expansiver Geldpolitik der Weg bereitet. Man könnte dann nämlich argumentieren, die aktuelle Geldpolitik sei gar nicht so expansiv, wie es scheine. Für die Zentralbanken weltweit ist die Analyse des natürlichen Zinses deshalb von großer Bedeutung als Referenzmaßstab für die Ausrichtung ihrer Geldpolitik - und sei es nur ex post.

Auch nach Ansicht der DVFA-Kommission "Geldpolitik" (siehe Fußnote) ist unbestritten, dass r* in den letzten Jahren und sogar Jahrzehnten tendenziell gesunken ist. Grund ist ein geringeres Trendwachstum und demografische Faktoren. Die verschiedenen Ausarbeitungen zum Thema stellen richtigerweise fest, dass in den entwickelten Volkswirtschaften die Bevölkerung altert und schrumpft, weshalb auch die Verfügbarkeit des Produktionsfaktors Arbeit ab nimmt. Der Produktionsfaktor Arbeit wird vermehrt durch Kapital ersetzt, die Produktivität des Produktionsfaktors Kapital sinkt damit, und das geringere Produktivitätswachstum führt zu niedrigerem r*. Gleichzeitig nimmt die Lebenserwartung zu und die Menschen betreiben mehr Vorsorge für den längeren Ruhestand. Höhere Sparquoten erhöhen das Kapitalangebot und senken r*. Was ebenfalls das Kapitalangebot erhöht, ist eine zunehmende Einkommensungleichheit: Reiche Haushalte sparen einen größeren Teil ihres zusätzlichen Einkommens, wodurch das Kapitalangebot zunimmt und der Zins ceteris paribus sinkt.

Keine gute Basis für geldpolitische Schlüsse

Selbst wenn man all diese Beobachtungen teilt und so akzeptiert wird, dass der natürliche Zins tendenziell gesunken ist, warnt die DVFA-Kommission "Geldpolitik" jedoch davor, daraus geldpolitische Schlüsse zu ziehen.

1. Zunächst gibt es ein erhebliches Maß an Ungenauigkeit im Konzept. r* lässt sich kaum seriös ermitteln. Die bisherigen Modellansätze kommen zu stark abweichenden Ergebnissen über die Höhe und weitere Entwicklung von r*. Außerdem ist die statistische Unsicherheit vieler Modelle recht hoch, und r* schwankt auch innerhalb vieler Modelle im Zeitablauf stark. Die Entwicklung vieler Einflussfaktoren in der Zukunft lässt sich aber kaum zuverlässig prognostizieren.

2. Häufig werden kurzfristige Zinssätze für die modellbasierte Ermittlung von r* he# rangezogen. Um jedoch als Näherungsgröße für die echten Finanzierungsbedingungen in der Realwirtschaft verwendet werden zu können, sollte ein Zinssatz min# destens eine mittlere Laufzeit aufweisen.

3. Vielleicht noch wichtiger ist die Risikokomponente. Weitgehend risikofreie Renditen von Bundesanleihen, wie sie in vielen Modellen zur Abschätzung von r* verwendet werden, sind nicht geeignet für eine Antwort auf die Frage, ob und wie stark der aktuelle Zinssatz von r* abweicht. Credit Spreads sind daher zu berücksichtigen, wenn der natürliche Zins den Preis für Finanzierungen in der Realwirtschaft reflektieren soll. Dann würde man sehen, dass die Renditen von Unternehmensanleihen weniger stark gesunken sind als die weitgehend für r* herangezogenen Renditen von Bundesanleihen. Berücksichtigt man außerdem die Eigenkapitalverzinsung von Unternehmen und betrachtet die Gesamtkapitalrendite, ist der Rückgang noch weniger ausgeprägt.

4. Die Fokussierung vieler Modelle auf die Rendite (kurzfristiger) Staatsanleihen greift also zu kurz. Wählt man längere Laufzeiten und berücksichtigt man Risiken, fällt der Rückgang von r* in den vergangenen Jahren deutlich schwächer aus. Eine Aussage über das Ausmaß des Rückgangs, die aktuelle Höhe von r* oder gar das Ausmaß seiner Veränderung in den kommenden Jahren kann kaum getroffen werden.

Fehlender Instrumentenkasten

Neben diesen methodischen Schwächen kommt die DVFA-Kommission zu dem Schluss, dass der Geldpolitik gar nicht der Instrumentenkasten zur Verfügung steht, um die relevanten gesamtwirtschaftlichen Finanzierungszinsen auf das Niveau von r* zu bringen. Die klassische Zinspolitik einer Notenbank ist nicht dazu geeignet, risikobehaftete Zinssätze mit einer mittleren bis längeren Laufzeit zu steuern. Es wären somit außerordentliche Maßnahmen wie Anleihe- oder sogar Aktienkäufe erforderlich, um die Finanzierungskonditionen der Wirtschaft an r* auszurichten. Damit verstärkt sich der ohnehin bereits zu beobachtende Effekt, dass der Zins, also der Preis des Geldes, seine Allokationsfunktion verliert.

Hierin liegt nach Ansicht der DVFA die eigentliche Gefahr dieser Debatte. Sie ist dazu geeignet, den Weg zu bereiten für eine Orientierung der Geldpolitik an einem fragwürdigen theoretischen Konzept - mit der Konsequenz einer dauerhaften Erweiterung des EZB-Instrumentariums um Assetkäufe und einer Verstetigung des Nullzinses. Zwar waren die Anleihekäufe der EZB in der Vergangenheit durchaus hilfreich. Die unkonventionelle Geldpolitik der EZB sowie Null- beziehungsweise Negativzinsen sind aber bei Inflationsraten um 1,5 Prozent und moderatem Wachstum eigentlich schon seit geraumer Zeit kaum mehr zu rechtfertigen. Wenn nun noch im Verhältnis zu einem gen null oder unter null sinkenden - theoretisch wenig überzeugend begründeten - natürlichen Zins ein tatsächlicher Leitzins von null als restriktiv angesehen wird, könnte das als Begründung für dauerhafte Negativzinsen, den anhaltenden Einsatz unkonventioneller Instrumente oder eine Veränderung des Inflationsziels verwendet werden. Allein die Debatte über r* steuert schon die Markterwartungen. Ein Konzept mit derart vielen und gravierenden methodischen Schwächen und Ungenauigkeiten ist jedoch als Kompass für die Geldpolitik abzulehnen.

Fußnote

Mitglieder der DVFA Kommission Geldpolitik: Ulrike Groschopp, Deutsche Börse AG, Mitglied des DVFA Vorstands (Leiterin); Uwe Burkert, Landesbank Baden-Württemberg; Dr. Frank Engels, Union Investment Privatfonds GmbH, Mitglied des DVFA Vorstands; Dr. Jan Holthusen, CEFA, DZ Bank AG; Prof. Dr. Markus C. Kerber, Europolis; Ingo R. Mainert, Allianz Global Investors GmbH, stellvertretender Vorsitzender des DVFA; Dr. Hans-Peter Rathjens, CEFA, Allianz Global Investors GmbH; Harald Schmidt, Apus Capital GmbH; Dr. Klaus Wiener, Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV)

Ulrike Groschopp Leiterin der DVFA Kommission Geldpolitik, Deutsche Börse AG, Frankfurt am Main
Dr. Jan Holthusen Berichterstatter DVFA Kommission Geldpolitik, und Leiter Fixed Income Research, DZ Bank, Frankfurt am Main
Ulrike Groschopp , Leiterin der DVFA Kommission Geldpolitik, Deutsche Börse AG
Jan Holthusen , Berichterstatter DVFA Kommission Geldpolitik und Leiter Fixed Income Research, DZ Bank

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