Unkonventionelle Geldpolitik der EZB: Möglichkeiten und Grenzen

Prof. Dr. Peter Bofinger, Lehrstuhl für VWL, Geld und internationale Wirtschaftsbeziehungen, Universität Würzburg, Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - Das von der EZB im Zusammenhang mit dem viel diskutierten Ankaufprogramm vorgetragene Ziel einer Bilanzausweitung in eine Größenordnung des Jahres 2012 hält der Autor insofern für unglücklich gewählt und/oder kommuniziert als sich inzwischen die Situation der Banken grundlegend geändert hat. Interpretiert man die Wirkung der Ankaufprogramme indes als Versuch einer direkten Steuerung der langfristigen Zinsen, erachtet er es für völlig offen und unerprobt, welche Volumina erforderlich sind, um einen angestrebten Effekt auf die Renditen zu erzielen. Eine massive "quantitative Lockerung", so sein Zwischenfazit, wäre mit großen Risiken und Nebenwirkungen verbunden. Die EZB sieht er derzeit in dem Dilemma, mit dem angedachten Ankaufprogramm einen enormen Vertrauensschaden in Deutschland heraufzubeschwören oder möglicherweise die Erwartungen der Marktteilnehmer zu enttäuschen und somit eine erneute Aufwertungstendenz des Euro einzuläuten. Als Ausweg skizziert er eine Unterstützung durch die deutsche Fiskalpolitik. (Red.)

Bei seiner letzten Sitzung im Jahr 2014 hat sich der EZB-Rat einstimmig für zusätzliche unkonventionelle geldpolitische Maß nahmen ausgesprochen, sofern es erforderlich sei, den Risiken einer zu lang anhaltenden Periode niedriger Inflation zu begegnen. Der umfangreiche Einsatz unkonventioneller geldpolitischer Maßnahmen würde für die EZB einen Strategiewechsel bedeuten, da sie - ganz im Gegensatz zu anderen großen Notenbanken - bisher darauf verzichtet hat, in großem Stil Staatsanleihen oder private Schuldtitel zu erwerben. So belaufen sich die Anleihebestände der EZB auf rund 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Euroraums, während die entsprechenden Portfolios der Bank of England, der Bank of Japan und der Federal Reserve mit rund 22 Prozent, 53 Prozent beziehungsweise 24 Prozent der Wirtschaftsleistung deutlich darüber liegen.

Geldpolitischer Handlungsbedarf durch "lowflation" und Deflationsrisiken

Grundsätzlich ist die Ankündigung unkonventioneller Maßnahmen durch die EZB nachvollziehbar. Nach den jüngsten Prognosen ihres Stabs ist für das Jahr 2016 mit einer Inflationsrate von 1,3 Prozent zu rechnen, die sich damit merklich unter dem Zielwert der EZB von knapp unter 2 Prozent bewegen würde. Die OECD erwartet für das Jahr 2016 mit 1,0 Prozent sogar einen noch schwächeren Preisanstieg. Beunruhigend ist dabei zudem, dass die anhand von indexierten Anleihen abzulesende Inflationserwartung der Marktteilnehmer für die nächsten fünf Jahre nur noch 0,8 Prozent beträgt. Es ist bei unveränderter Politik der EZB somit eine Zielverletzung über einen längeren Zeitraum zu erwarten. In einem Umfeld mit einer hohen privaten und öffentlichen Verschuldung ist eine Deflation, aber auch eine unter dem Zielwert liegende Inflation (lowflation) problematisch. Es fällt dann den Schuldnern, die überwiegend von einer höheren Inflationserwartung ausgegangen sein dürften, sehr viel schwerer aus der Verschuldung herauszuwachsen als bei einer dem Inflationsziel der EZB entsprechenden Preisentwicklung. So gesehen besteht zwischen einer Deflation bei einer Inflationsrate von beispielsweise minus 0,3 Prozent und einer "lowflation" mit einer Inflationsrate von plus 0,3 Prozent kein qualitativer, sondern lediglich ein quantitativer Unterschied.

Kein weiterer Spielraum bei konventioneller Zinspolitik

So gesehen ist für die EZB also durchaus ein geldpolitischer Handlungsbedarf angezeigt. Sie sieht sich dabei in der schwierigen Position, dass sie bei ihren traditionellen zinspolitischen Instrumenten über keinen nennenswerten Handlungsspielraum verfügt. Ihr sogenanntes Hauptrefinanzierungsinstrument stellt den Banken Zentralbankgeld für jeweils eine Woche zu einem Satz von 0,05 Prozent zur Verfügung. Im Prinzip bietet die EZB den Banken Liquidität also schon nahezu wie Freibier an.

Für überschüssige Liquidität, die bei der EZB in der Einlagenfazilität angelegt wird, müssen die Banken einen Strafzins von 0,2 Prozent bezahlen. Hier dürfte ebenfalls kein allzu großer Spielraum nach unten mehr bestehen, da die Banken sonst zur Bargeldhaltung übergehen. Die Untergrenze für die Einlagenfazilität wird also durch die Kosten der Lagerung und des Transfers großer Bargeldbestände bestimmt. In Anbetracht des Handlungsbedarfs und der kaum noch vorhandenen Handlungsspielräume bei den konventionellen Instrumenten ist es naheliegend, dass sich die EZB intensiv mit der Option nicht-konventioneller Maßnahmen befasst. Zu prüfen ist dabei, ob sich damit tatsächlich ein effektiver Beitrag zur Erhöhung der Inflationsrate in die Richtung des Inflationsziels erreichen lässt und welche Nebenwirkungen dabei zu befürchten sind.

Wirkungskanäle unkonventioneller Geldpolitik

Dies führt auf die Frage der Wirkungskanäle unkonventioneller Maßnahmen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen unmittelbaren Effekten des Ankaufs auf die Menge an Liquidität im Bankensystem (Geldbasis, das heißt die von Banken bei der Notenbank gehaltenen Guthaben und der Bargeldumlauf) und auf die Zinsen längerfristiger Aktiva. Hinzu kommen mittelbare Effekte, die sich über die Erwartungen der Marktteilnehmer ergeben.

Zu den eindeutig positiven Erwartungseffekten der Ankündigung unkonventioneller Maßnahmen gehört die seit Mai 2014 zu beobachtende Abwertung des Euro, der einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsländer des Euroraums leistet. Es ist ein unbestreitbarer Verdienst von Mario Draghi, auf diese Weise die gefährliche Aufwertungstendenz des Euro gestoppt und einen spürbaren Abwertungstrend eingeleitet zu haben. Die EZB geht zudem davon aus, dass sich von den unkonventionellen Maßnahmen ein Effekt auf die längerfristigen Inflationserwartungen ergibt, die sich seit einiger Zeit vom Zielwert der EZB nach unten bewegen.

In der Theorie spielen die Inflationserwartungen eine wichtige Rolle, weil sie eine wesentliche Determinante von Tarifabschlüssen darstellen. Bei einer auf Jahre hinweg voraussichtlich hohen Arbeitslosigkeit im Euroraum ist jedoch zu befürchten, dass es grundsätzlich bei sehr niedrigen Lohnerhöhungen oder sogar Lohnsenkungen bleiben wird, die mit deflationären Tendenzen einhergehen.

Ausweitung der Geldbasis

Bei den direkten Effekten scheint für die EZB die Ausweitung der Geldbasis an sich ein wichtiges Ziel zu sein. In ihrer Kommunikation erwähnt sie immer wieder, das sie das Volumen ihrer Bilanz, das sich derzeit auf rund 2 Billionen Euro beläuft, in die Richtung der Dimensionen zu erhöhen, die sie Anfang des Jahres 2012 betragen hatte. In den Monaten Januar und Februar 2012 belief sich die EZB-Bilanz auf rund 2,7 Billionen Euro, sie erhöhte sich Anfang März auf etwa 3 Billionen. Die von der EZB angestrebte Ausweitung würde sich daraus ergeben, dass sie von den Banken Aktiva abkauft und ihnen ein entsprechendes Guthaben auf ihren Notenbankkonten gutschreibt.

Dabei ist jedoch zu fragen, ob es heute bei den Banken einen Bedarf für derart hohe Notenbankguthaben gibt. Die Situation des ersten Quartals 2012 war dadurch gekennzeichnet, dass sich viele Banken einem großen Vertrauensverlust gegenüber sahen, der ihre aktuellen und erwarteten Refinanzierungsmöglichkeiten am Interbankenmarkt massiv beeinträchtigte. In diesem Umfeld nahmen sie das Angebot der EZB, für drei Jahre eine sichere Refinanzierung zu erhalten, gerne an. Sie waren dabei bereit, deutlich mehr Liquidität nachzufragen und bei der EZB zu halten, als sie aktuell für ihre Mindestreserve benötigten. Dies lässt sich anhand von Überschussreserven der Banken in Höhe von rund 1 Billion Euro im März 2012 ablesen. Diese "Vorsichtskasse" bedeutete für die Banken einen Zinsverlust, da die Guthabenzinsen der EZB in der Einlagenfazilität 75 Basispunkte unter dem Refinanzierungszins für die langfristige Refinanzierung lagen.

Die Situation hat sich seither massiv gewandelt, was man daran erkennen kann, dass viele Banken von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, die langfristige Refinanzierung nach frühestens einem Jahr vorzeitig zurückzuzahlen. Dementsprechend ist die Bilanzsumme der EZB massiv geschrumpft und die Überschussreserven der Banken belaufen sich derzeit auf nur noch rund 100 Milliarden Euro.

Kaum noch Bedarf an einer Vorsichtskasse

Es ist daher mehr als fraglich, ob das Bilanzvolumen zu Beginn des Jahres 2012 einen sinnvollen Zielwert für die unkonventionelle Geldpolitik darstellt. Für das Bankensystem insgesamt gibt es heute kaum noch einen Bedarf an einer Vorsichtskasse, die dazu noch zu negativen Zinsen bei der EZB gehalten werden muss. Und wenn man bei Leitzinsen von nahe Null für die Liquiditätsversorgung durch die EZB schon in einer Situation des Freibiers ist, wird man auch dann nicht mehr als die Sättigungsmenge trinken, wenn noch zusätzliche Bierkästen bereitgestellt werden.

Dies und die Erwartung, dass sich an der Freibier-Konstellation so schnell nichts ändern wird, dürfte auch den für manche Beobachter unerwartet geringen Erfolg der im September 2014 gestarteten und im Dezember 2014 wiederholten "Targeted Long-Term Repurchase Agreements" erklären, die zu einem Zinsaufschlag von 10 Basispunkten und unter recht komplexen Voraussetzungen eine Refinanzierung über vier Jahre ermöglichen.

Fehleinschätzung der EZB

Die Fehleinschätzung der EZB liegt da rin, dass die mit unkonventionellen Maßnahmen einhergehende Ausweitung der Geldbasis eigentlich nur einen Nebeneffekt darstellt. Ihre Hauptwirkung besteht darin, dass eine Notenbank durch den Ankauf von Wertpapieren deren Kurse erhöht und damit die Zinsen für langfristige Anleihen direkt beeinflussen kann. Hierin besteht ein wichtiger Unterschied zur klassischen Zinspolitik, bei der die Notenbank einen sehr kurzfristigen Geldmarktzins steuert und darauf setzt, dass damit ein mittelbarer Effekt auf die langfristigen Zinsen ausgeht.

In einer Situation, in der die kurzfristigen Zinsen die "Nullzins-Grenze" erreicht haben, ist es naheliegend, auf eine direkte Steuerung der langfristigen Zinsen überzugehen. Allerdings ist bei einer direkten Steuerung der langfristigen Zinsen völlig offen, welche Menge erforderlich ist, um einen angestrebten Effekt auf die Renditen zu erzielen. Der schon seit einigen Monaten zu beobachtende Rückgang der Anleiherenditen zeigt, dass schon die bloßen Ankündigungseffekte ausreichen können, um den angestrebten Effekt auf das langfristige Zinsniveau zu erzielen. Wenn man also einen Effekt auf Renditen erzielen will, ist es wenig zielführend, dafür ein Mengenziel festzulegen.

Damit stellt sich die Frage, ob es in der aktuellen Situation, die mit Ausnahme Griechenlands für alle Mitgliedsländer des Euroraums allein schon aufgrund der Ankündigungseffekte mit historisch niedrigen langfristigen Zinsen gekennzeichnet ist, angemessen ist, diese durch massive Anleihekäufe der EZB noch weiter zu reduzieren. Ein starres Festhalten der EZB an der Zielvorgabe von rund 1 Billion Euro, bei der in erheblichem Umfang auch deutsche Anleihen gekauft werden müssten, könnte für ein breites Fristenspektrum zu Nullzinsen führen.

Vertrauensschaden für die EZB in der deutschen Öffentlichkeit vermeiden

Eine massive "quantitative Lockerung" wäre mit großen Risiken und Nebenwirkungen verbunden. Diese ergeben sich daraus, dass ein unter konjunkturpolitischen Aspekten zwar nicht starker, aber immerhin positiver Effekt durch niedrigere langfristige Zinsen, mit erheblichen Problemen für die gesamte Versicherungswirtschaft und Pensionsfonds im Euroraum verbunden ist. Dies gilt insbesondere für Deutschland, das sich bei einer Umlaufrendite von nur noch rund 0,50 Prozent schon jetzt gravierenden Problemen für die kapitalgedeckte private Altersvorsorge gegenübersieht. Eine weitere deutliche Absenkung der Umlaufrendite durch EZB-Ankäufe deutscher Anleihen würde die Akzeptanzprobleme der europäischen Geldpolitik in der deutschen Öffentlichkeit noch einmal massiv vergrößern.

Deshalb sollte die EZB davon Abstand nehmen, um jeden Preis ein durch nichts zu rechtfertigendes Ziel für die Ausweitung ihrer Bilanz durchzusetzen. Allerdings besteht für die EZB das Problem, dass sie dann die Erwartungen der Marktteilnehmer enttäuscht und somit eine erneute Aufwertungstendenz des Euro einläutet. Aber der Schaden, der sich für die EZB daraus ergibt, dass sie für die "Enteignung des deutschen Sparers" verantwortlich gemacht werden kann, wäre wahrscheinlich noch größer. Dieses Dilemma wird nicht einfach zu lösen sein. Es ist zu hoffen, dass Mario Draghi wie schon mehrfach in der Vergangenheit noch ein geschickter Ausweg einfallen wird. Immerhin hat die EZB bewusst darauf verzichtet, einen konkreten Zeitrahmen für die Bilanzausweitung zu nennen.

"Game of chicken" mit der deutschen Wirtschaftspolitik

Die ebenso schwierige wie undankbare Aufgabe, der sich die EZB heute gegenübersieht, resultiert vor allem daraus, dass sie bei der Lösung der Anpassungsprobleme des Euroraums von der deutschen Finanzpolitik ebenso wenig Unterstützung findet wie von den Tarifpartnern. Die von der Bundesregierung präferierte Lösungsstrategie für den Euroraum ist asymmetrisch angelegt. Sie setzt einseitig auf Anpassungsprozesse in Form der Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen von den wirtschaftlich schwächeren Ländern. Und sie ist nicht bereit über das Bereitstellen von Rettungsfazilitäten im Notfall hinaus einen aktiven Beitrag zur Belebung des Euroraums zu leisten.

EZB so weit wie möglich entlasten

Während die Geldpolitik kaum noch über sinnvolle Handlungsmöglichkeiten verfügt, wäre es für die deutsche Fiskalpolitik ein leichtes, durch ein groß angelegtes Investitions- und Zukunftsprogramm, das über den Kapitalmarkt finanziert wird, einen substanziellen Beitrag zu einer symmetrischeren Anpassung des Euroraums zu leisten. Stattdessen wird hierzulande die "Schwarze Null" gefeiert, als ob wir auf einer Insel lebten, für die der Zustand des Euroraums völlig belanglos ist. Gefährlich ist es auch, wenn man in vielen Ländern direkt oder indirekt (über "strukturelle Reformen") eine Politik der Lohnzurückhaltung fordert, ohne dass in Deutschland ein entsprechendes Gegengewicht in der Lohnpolitik geschaffen wird. Der bei dieser asymmetrischen Anpassung entstehende deflationäre Druck ist mit konventionellen wie unkonventionellen Instrumenten der Geldpolitik nur schwer aus der Welt zu schaffen.

Die deutsche Wirtschaftspolitik spielt mit der EZB nun schon seit Längerem ein "game of chicken". Darunter versteht man ein "Spiel", bei dem zwei Fahrer aufeinander zufahren. Wenn beide nicht ausweichen, gibt es einen tödlichen Frontalzusammenstoß. Wenn ein Fahrer ausweicht, während der andere nicht ausweicht, hat er verloren, er ist der Feigling (chicken).

Bisher ist es der Bundesregierung gelungen, konsequent an ihrem Kurs festzuhalten. Die EZB hat demgegenüber stets nachgegeben, indem sie im Juli 2012 mit der Ankündigung der "Outright Monetary Transactions" die Stabilität des Euroraums gerade noch sichern konnte und indem sie in diesem Jahr durch die Ankündigung großvolumiger unkonventioneller Maßnahmen den Euro-Wechselkurs drehen konnte. Aber die EZB kommt dadurch in immer schwierigere Konstellationen, insbesondere was ihre Akzeptanz in Deutschland angeht. Dies kann nicht im Interesse der deutschen Politik liegen. Sie sollte daher alles tun, um die EZB bei ihrer zunehmend schwierigeren Aufgabe so weit wie möglich zu entlasten.

Noch keine Bewertungen vorhanden


X