Schweizer EU-Skepsis europavorbildlich? Über Folgen der Brexit-Desillusionierung

Michael Altenburg Foto: Studio Ecker

Das Schweizer Prinzip der direkten Demokratie mit Volksabstimmungen im Verfassungsrang hält der Autor nach wie vor für hochriskant. Jedenfalls will er nicht per se ausschließen, dass Volksverführer, Populisten und Radikale in einer Krisenphase Volksabstimmungen zur Zerstörung der Demokratie selbst benutzen und schrittweise den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung und damit am Ende die Verantwortlichkeit der Herrschenden gegenüber dem Volk abschaffen könnten. Mit Blick auf die Einsichten der Europäischen Union im Rahmen des unvermeidlichen Austritts der Briten aus dieser, sowie zu den ungelösten und immer wieder neu zu diskutierenden Abwägungsfragen einer offenen, demokratischen Gesellschaft registriert er eine gewisse Einsicht in die notwendige Berücksichtigung europäischer Diversität im Wege pragmatischer Kompromisse und auch eine neue Rücksichtnahme auf das Schweizer Verfassungsprinzip der direkten Demokratie. (Red.)

Die Schweizer Verfassung hat als höchstes Prinzip die direkte Demokratie. Das bedeutet, dass die jährlich mehrfach stattfindenden Volksabstimmungen Verfassungsrang haben und von der Regierung, dem Schweizer Bundesrat, zwingend umgesetzt werden müssen. Das gibt es so nirgendwo sonst auf der Welt. Und zwar deswegen nicht, weil es vorkommen könnte, dass das Volk etwas beschließt, das objektiv keinen Sinn macht oder dem Land schadet. Deswegen sehen die Verfassungen anderer Länder Volksabstimmungen meist nur in stark eingeschränkter Form vor. In Deutschland steht die Verfassung über dem Volksentscheid, über dessen Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz das Bundesverfassungsgericht in letzter Instanz entscheidet.

EU: Katalog des rechtlichen Besitzstandes der Gemeinschaft

Es gibt daher auch in der Schweiz Zweifler an der Vernünftigkeit des Prinzips der direkten Demokratie. Volksverführer, Populisten, Radikale könnten in einer Krisenphase Volksabstimmungen zur Zerstörung der Demokratie selbst benutzen, indem sie schrittweise den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung und damit am Ende die Verantwortlichkeit der Herrschenden gegenüber dem Volk ganz abschaffen. Die deutsche Geschichte liefert dafür ein besonders abschreckendes Beispiel und jüngere Entwicklungen in der Türkei, aber auch in EU-Mitgliedsländern wie Ungarn oder Polen sind ebenfalls besorgniserregend.

Die EU hat gerade daher den sogenannten "acquis communautaire" entwickelt, eine Art detaillierten Katalog des rechtlichen Besitzstandes der Gemeinschaft, dessen Merkmale von beitrittsinteressierten Ländern erfüllt sein müssen, bevor sie aufgenommen werden. Die hierin angelegte und strategisch gewollte Harmonisierung nationalen Rechts mit Gemeinschaftsrecht hat zum Ziel die Sicherstellung und den Schutz einer rechtsstaatlichen Kernsubstanz, was nur bei teilweisem Verzicht auf die vollständige nationale Souveränität jedes einzelnen EU-Mitgliedslandes erreichbar ist.

1992 lehnte die Schweiz genau deshalb, also im Hinblick auf das vorrangige Prinzip der direkten Demokratie, einen Beitritt zum damals sogenannten EWR/Europäischen Wirtschaftsraum in einer Volksabstimmung ab - übrigens entgegen dem Votum der Bundesregierung und aller größeren Parteien. Seitdem konnte sich die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied gleichwohl in insgesamt 120 bilateralen Verträgen mit der EU die Einbeziehung in den gemeinsamen Wirtschaftsraum offenhalten. Das darin auch übernommene Prinzip der Personenfreizügigkeit in der EU wurde mit der Volksabstimmung "Gegen Masseneinwanderung" 2014 allerdings wieder infrage gestellt, was seitdem für stark zunehmende Spannungen mit der EU sorgte.

Enttäuschung über die erhofften Segnungen globaler Marktwirtschaft

Dass die EU nicht sofort stärkeren Druck auf die Schweiz ausübte, hatte wohl vor allem damit zu tun, dass Brüssel im Zuge der Osterweiterung mit anderen Themen absorbiert war. Unbeabsichtigt negative Auswirkungen der Personenfreizügigkeit erfolgten besonders in den neuen EU-Mitgliedsländern Mittel- und Osteuropas. Durch starke Lohnkostenunterschiede gingen einerseits westliche Arbeitsplätze Richtung Osten verloren und ergab sich andererseits eine teilweise dramatische Entvölkerung zurückgebliebener ländlicher osteuropäischer Gebiete in Richtung Westen. Das verstärkte in den wirtschaftlich insgesamt sehr erfolgreichen neuen osteuropäischen Mitgliedsländern die Kluft zwischen entwickelten städtischen und unterentwickelten ländlichen Gebieten und führte damit auch zu neuen, krassen Ungleichheiten in der Einkommensentwicklung und zu einer stark zunehmenden Anti-EU-Stimmung bei den wirtschaftlich und sozial Zurückgebliebenen.

Dieser in allen mittel- und osteuropäischen Ländern seit ihrer EU-Mitgliedschaft zu beobachtende politische Trend hat mit Enttäuschungen über die erwarteten Segnungen der globalen Marktwirtschaft zu tun. Der bulgarische Politologe Ivan Krastev hat in seinem Buch "Europadämmerung" von 2017 thematisiert, wie sich im Lauf der Flüchtlingskrise diese Enttäuschungen und Ängste der Zurückgebliebenen in Fremdenhass und nationalistische Abschottung steigerten. Der Rechtsstaat ging hier und da gleich auch zu Bruch, wenn sich korrupt-oligarchische Strukturen in autokratische Kleptokratien verwandelten.

Der Yale-Historiker Timothy Snyder geht in einem bemerkenswerten neuen Buch* noch weiter und stellt einen ursächlichen Zusammenhang her zu subversiven Destablisierungsstrategien Russlands, die mit dem Überfall auf die Ukraine ihren Anfang genommen und sich in der Beeinflussung des Brexit-Referendums und der Trump-Wahl in den USA fortgesetzt hätten. Dies ist nicht der Ort, die Plausibilität und Tragweite von Snyders Belegen zu überprüfen, aber sowohl das britische wie das amerikanische politische Erdbeben kamen vollkommen unerwartet. Auch wenn man Snyders Einschätzungen nicht zu folgen bereit ist, bleibt die Frage, wie mit diesen völlig neuen Bedrohungszenarien umzugehen ist, bei denen Verführung, Manipulation von Fakten und zynische Täuschung über Social Media in die Meinungsbildung der Öffentlichkeit eindringen, wodurch das Vertrauen in die politische Führung auch bereits in Westeuropa in Teilen der Bevölkerung erheblich verunsichert wurde.

Neuer Blick auf multilaterale Handelsabkommen

Die erste Brüsseler Reflexreaktion auf das Brexit-Referendum vom Juni 2016 war natürlich, den Briten den Ausstieg so schwer und hart wie nur möglich zu machen, um von weiteren Exit-Versuchungen abzuschrecken. Damit sah sich auch die Schweiz plötzlich wieder neuem Druck ausgesetzt, EU-Mitglied zu werden, während der Schweizer Bundesrat innenpolitisch dem Vorwurf ausgeliefert blieb, den Masseneinwanderungsstop nicht vollständig umgesetzt zu haben. Im Laufe der vergangenen eineinhalb Jahre, wurde indessen immer deutlicher, dass nicht nur Großbritannien - ganz entgegen den Erwartungen und Versprechungen der Brexit-Befürworter - durch das Verlassen der EU bleibenden Schaden nehmen könnte, sondern auch die EU.

Die internationalen Verflechtungen haben in den letzten Jahrzehnten derart stark zugenommen, dass ihre vollkommene Trennung nicht mehr ohne gravierende Einbußen auf beiden Seiten möglich ist. Dasselbe gilt für frühe Ankündigungen des amerikanischen Präsidenten Trump, aus internationalen Handelsabkommen auszusteigen und auf lediglich bilaterale Handelsverträge im vorrangigen Interesse der USA zu setzen. Inzwischen scheint sich zumindest bei seinen Beratern die Einsicht durchgesetzt zu haben, dass multilaterale Handelsabkommen nicht immer und per se schlecht und Korrekturen zu Detailaspekten meist vorteilhafter sind als pauschale Aufkündigungen.

Die Frage, durch wen und in welchen Prozessen die Vorteilhaftigkeit internationaler Wirtschaftsbeziehungen beurteilt, verhandelt und umgesetzt werden soll, stellt sich somit politisch wieder ganz neu. Die angedeuteten Fehlentwicklungen in Osteuropa haben offensichtlich auch sehr viel mit den Wildwüchsen eines ungezügelten Neoliberalismus zu tun. Sollen etwa die wirtschaftlich mächtigsten, global operierenden privaten Akteure den Ausschlag geben, die sich und ihren Gesellschaftern lediglich Gewinnmaximierung zu schulden meinen? Umweltprobleme, Chancengleichheit, Gesundheitsfürsorge, der Schutz vor Ausbeutung privater Daten und lokale Diversität sollten bei den maßgeblichen Abwägungen zunehmend Berücksichtigung finden. Und würde das angesichts vielfach miteinander asymmetrisch und intransparent verfilzter privater wirtschaftlicher und öffentlicher politischer Interessen - und das nicht nur auf nationaler, sondern zunehmend auch auf EU Ebene - nicht womöglich doch noch am besten in der Weise geschehen, dass man das Volk direkt befragt?

Das ist natürlich eine heikle Frage. Man wird diese nur dann gelassen bejahen können, wenn vom Volk ein mündiges, verantwortliches Urteil zu erwarten ist. Wenn indessen infolge von Korruption, anhaltenden Missständen und Unterdrückung der Meinungs- und Informationsfreiheit bereits eine Grundstimmung von Hass, Angst oder Resignation überwiegt, sich eine emotional aufgeheizte Polarisierung entwickelt hat, in der Verschwörungstheorien für bare Münze genommen und selbst Lügen geglaubt werden - jedenfalls wenn sie von den "Unsrigen" kommen -, wird man versucht sein, mehr auf - demokratisch nicht legitimierten - technokratischen Sachverstand zu setzen. Eine ähnliche Abwägung mag der italienische Staatspräsident Mattarella vorgenommen haben, als er am 27. Mai entschied, den Vorschlag einer italienischen Regierungsbildung durch die Koalition der rechtspopulistischen Lega mit der links populistischen Fünf-Sterne-Bewegung deswegen ablehnen zu müssen, weil der Euro-kritische Paolo Savona als Finanzminister vorgesehen war. Ob die italienische Regierungskrise nun durch ein Koalitionskabinett mit einem Euro-freundlicheren Finanzminister doch noch nachhaltig überwunden werden kann, bleibt weiter offen. Denn man muss wohl bedenken, dass die vorläufige, der Mehrheit des italienischen Wahlergebnisses vom März widersprechende Entscheidung des italienischen Staatspräsidenten das Vertrauen in die Institutionen des italienischen Staates nur noch weiter zerrüttet haben könnte, was in einer Neuwahl das Gewicht der EU-feindlichen Lega nur weiter stärken würde. Die Zurückgewinnung von einmal verspieltem Vertrauen ist politisch weniger wahrscheinlich als ein dann eintretender Führungswechsel. Für Italien und Europa bleibt zu hoffen, dass der glimpflich ausgehen wird.

Sinneswandel in der Schweiz und in der EU

Aber zurück zum ebenfalls noch in der Schwebe befindlichen Ausscheiden Großbritanniens aus der EU: Geradezu wie durch ein Wunder schlagen sich die Einsichten der EU zum praktischen Wahnsinn des nunmehr anscheinend unvermeidlichen Brexits und zu den ungelösten und immer wieder neu zu diskutierenden Abwägungsfragen einer offenen, demokratischen Gesellschaft in einer neuen Rücksichtnahme auf das Schweizer Verfassungsprinzip der direkten Demokratie nieder.

Die inzwischen auch öffentlich erklärte Bereitschaft, noch in diesem Jahr zum Abschluss einer neuen Rahmenvereinbarung mit dem EU-Nichtmitgliedsland Schweiz zu kommen, wird laut Umfragen vom Schweizer Wahlvolk auch bereits mehrheitlich mit Zustimmung zur Verhandlungsstrategie des Bundesrates quittiert. Dem Sinneswandel sowohl der EU wie des Schweizer Wahlvolkes liegen letztlich sicher weniger emotionale Wallungen als wohlverstandenes wirtschaftliches Eigeninteresse zugrunde. Und von einer größeren Geneigtheit der Schweizer Stimmbürger für eine wirkliche Mitgliedschaft der Schweiz in der Europäischen Union kann nach wie vor keine Rede sein, auch wenn Avenir Suisse, ein Wirtschaftkreisen nahestehender Think-Tank, das Thema gerade wieder neu zu lancieren versucht.

Das Schweizer Modell der direkten Demokratie ist und bleibt gleichwohl hochriskant und hängt von zahlreichen qualitativen Voraussetzungen ab, deren Fortbestand selbst für die Schweiz nur zu hoffen bleibt. Unter diesen Voraussetzungen spielen ein gewisser Wohlstand, ein traditionell jedenfalls auf Kantonsebene stark ausgeprägter Gemeinsinn und vor allem das weitgehend unerschütterte Vertrauen in die öffentlichen Institutionen, deren Kompetenz und Integrität die ausschlaggebende Rolle. Auch die relativ geringe Größe der Schweiz und damit die Übersichtlichkeit der Verhältnisse haben besonderes Gewicht. Davon kann auf EU-Ebene nicht die Rede sein. Aber gerade deshalb scheint eine Korrektur der bisherigen Brüsseler One-sizefits-all-Integrationsstrategie überfällig im Sinne einer notwendigen Berücksichtigung europäischer Diversität im Wege pragmatischer Kompromisse.

Also nicht ever closer integration ist zukunftsfähig, sondern größere Wendigkeit, Schlagkraft und neue Attraktivität des Europaprojekts durch Refokussierung auf wenige gesamteuropäische Kernthemen wie Außen-, Geld-, Wirtschafts- und Verteidigungspolitik bei im Übrigen konsequenter Eigenverantwortung der Mitgliedsländer und Dezentralisierung. Nur so kann die EU das an ihren südlichen und östlichen Rändern drohende Menetekel noch abwenden, nur so ein milderer, allseits verträglicherer Brexit erzielt und nur so ein breiter, entschlossener Konsens für eine klare, grundsatzbasierte Abwehr gemeingefährlicher Sprunghaftigkeiten der gegenwärtigen US-Administration geschmiedet werden.

Konkordanzprinzip

Ob das gelingen wird, ist sicher nicht in erster Linie eine Frage ausgeklügelter ökonomischer Blaupausen, sondern wird davon abhängen, ob ein politischer Elan hierfür nicht nur in den Brüsseler Institutionen, sondern auch und vor allem beim Demos der EU-Mitgliedsländer neu entfacht werden kann. Und da politische Begeisterung allein nicht nachhaltig ist, liefert vielleicht die "Zauberformel" der schweizerischen Demokratie der EU eine Orientierungshilfe, welche eine geschmeidige Balance zwischen Kontinuität und Anpassungsfähigkeit unter Bedingungen großer Diversität verspricht.

Gemeint ist das von den Politikwissenschaftlern sogenannte Konkordanzprinzip, das stärker auf Konsens- als auf Mehrheitsentscheidungen ausgerichtet ist. Tatsächlich sind im siebenköpfigen Schweizer Bundesrat alle größeren politischen Parteien vertreten, proportional zu dem bei den Wahlen auf sie entfallenen Stimmenanteil. Das ist praktisch also eine andauernde Allparteienregierung, nicht nur eine vorübergehende Große Koalition.

Das Resultat ist eine sehr explizite strategische Bereitschaft zum Eingehen auf und die pragmatische Berücksichtigung von abweichenden Mindermeinungen. Faktisch wird auf diesem Wege die Führungsschicht sämtlicher wesentlicher gesellschaftlicher Interessengruppen in den Prozess exekutiver Entscheidungen einbezogen. Eine Opposition im Parlament erübrigt sich, und unliebsame, disruptive Volksentscheide drohen nur, wenn stärkere Unruhe und Unzufriedenheit an der Basis übersehen beziehungsweise ungenügend oder zu spät berücksichtigt werden. Die verfassungsmäßige direkte Demokratie könnte so natürlich auch zum Deckmantel einer Elitenherrschaft entarten.

Davon ist die Schweiz indessen weit entfernt: Durch ein hohes Maß an Transparenz, durchgängige Verantwortlichkeit und Bürgerorientiertheit der Verwaltung sichert sie ihren inneren Zusammenhalt trotz vier verschiedener Landessprachen und in den 26 Kantonen stark unterschiedlicher historischer Traditionen und wirtschaftlicher Strukturen. Während die politische Praxis des Europäischen Rates dem Konkordanzprinzip nahekommt, scheint jene der Europäischen Kommission eher gekennzeichnet von einem vielfach vergeblichen, überwiegend polarisierenden Ringen um eine allseits verbindliche Orthodoxie, der sich dann alle Mitgliedsländer unterwerfen sollen. Praktisch funktioniert das nicht, weil gefasste Beschlüsse weder einheitlich befolgt werden, noch deren Nichtbeachtung geahndet wird, weil dafür Einstimmigkeit der Beschlussfassung erforderlich ist.

* The Road to Unfreedom/Russia.Europe.America; New York 2018. Die Veröffentlichung der deutschen Ausgabe wird für September 2018 erwartet.

Michael Altenburg Luzern, Schweiz
Michael Altenburg , Luzern, Schweiz
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