Innovatives Bezahlen

Girocard City: Die Zukunft kommt aus Kassel

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Weil die deutsche Kreditwirtschaft kein Start-up ist, das neue Ideen schnell an den Markt bringen kann, ist sie in Sachen Innovationstempo im Nachteil. Spontane Aktionen waren bei dem bisherigen Konzept lokaler Feldtests kaum möglich, Langzeiterkenntnisse konnten schon gar nicht gewonnen werden. Das soll nun die "Girocard City" in Kassel ändern. Anstatt immer neue Netzwerke zu bilden, sollen dort künftig in einem Drei-Phasen-Modell alle neuen Innovationen rund um die Girocard getestet werden. So will man zum Beispiel ermitteln, wann die Information durch die Hausbanken ausreicht und wofür es eine Werbekampagne braucht. Die Kampagne zur "Girocardisierung" zeigt in Kassel bereits erste Erfolge: Die Bekanntheit der Marke Girocard hat sich deutlich erhöht. Red.

Die Einführung und Etablierung neuer Bezahllösungen der Deutschen Kreditwirtschaft (DK) verlief in der Vergangenheit nach einem stets wiederkehrenden Muster. Sobald eine Neuerung technisch ausgereift war, erfolgte eine erste Erprobungsphase auf regionaler Ebene und daraufhin der "Startschuss" für einen nationalen Rollout. So wurden bis dato sämtliche Pilotprojekte, vom einstigen Geldkarte-Start in Ravensburg und Weingarten bis hin zur Girogo-Einführung in Hannover, Braunschweig und Wolfsburg vollzogen.

Was am 20. April 2016 im Rahmen eines Pressegesprächs im Kasseler Kulturbahnhof offiziell angekündigt und gelauncht wurde, war für viele der Anwesenden umso überraschender. Denn es ging um ein Vorhaben, das deutlich breiter und strategischer angelegt sein wird: Girocard City in Kassel.

Der neue Innovationsstandort soll ab sofort und für mindestens 10 bis 15 Jahre langfristige und belastbarere Erkenntnisse rund um die Girocard zutage fördern. Zudem werden alle zukünftigen Innovationen auf Herz und Nieren erprobt sowie dauerhaft begleitet.

Etablierter Innovationsstandort für nachhaltige Ergebnisse

Natürlich fällt die Entscheidung für ein Langfristprojekt wie Girocard City nicht über Nacht - und schon gar nicht ohne Grund. Die DK stellte sich die Frage, warum das meistverbreitete und auch beliebteste Kartenzahlungsmittel Deutschlands noch nicht als treibende Innovationskraft am nationalen Bezahlsystememarkt gesehen wird. Und das, obwohl die Ergebnisse in den einzelnen Pilotregionen meist sehr positiv ausfielen und beim Handel wie auch den Verbrauchern gut ankamen.

Die Antwort auf diese Fragestellung ist eine Mischung aus verschiedenen Erkenntnissen der bisherigen Pilotprojekte. Zum einen ist der Branchenblick dem Konstrukt der deutschen Kreditwirtschaft geschuldet. Als Zusammenschluss der kreditwirtschaftlichen Spitzenverbände hat man natürlich eine besondere Verantwortung gegenüber den eigenen Instituten, Handelspartnern wie auch Bankkunden.

Man kann also nicht im Stile eines Startup-Unternehmens neue Ideen ins Blaue hinein testen und sich erst an eine sichere und stabile Lösung herantasten. Denn zu Recht liegt die Messlatte der Anforderungskriterien an DK-Innovationen sehr hoch und die Institute, Partner und Endverbraucher vertrauen auf eine stets solide Innovationsumsetzung.

Das bedeutet zwar nicht, dass alle Ideen zwingend den Nerv des Marktes treffen müssen oder von Beginn an ohne jegliche Optimierungsmaßnahmen auskommen. Es bedarf lediglich einer umfassenden Vorbereitungszeit, um bei Erprobungsstart mit einem ausgereiften System aufwarten zu können.

Zu schwerfällig beim finalen Markteintritt

Doch selbst dann war man aufgrund der Gesamtstruktur oftmals noch zu schwerfällig, was den finalen Markteintritt anbelangt. Pilotregionen wurden zunächst mühevoll aufgebaut, Partner mit hohem technischen wie auch finanziellen Aufwand mit eingebunden, Netzwerke gebildet und Endverbraucher umfassend informiert, um diese Region - und hier liegt der zentrale Knackpunkt - dann nach erfolgter Pilotierung und relativ kurzer Zeit doch irgendwann wieder zu verlassen.

Auf diese Weise konnten weder Langzeitergebnisse gewonnen werden noch spontanere Aktionen erfolgen, da hierfür zunächst wieder ein neuer, passender Standort installiert werden musste. Diese Herangehensweise galt es zu verbessern - und warum nicht von denjenigen lernen, die diese Herausforderung seit ewigen Zeiten erfolgreich meistern: große Markenartikler und erfahrene Marktforschungsinstitute.

GfK-Testmarkt in Haßloch als Vorbild

Den größten Vorbildcharakter bildete der GfK-Testmarkt in Haßloch. Trotz seiner geringen Bekanntheit hat jeder schon einmal indirekt von "Mini-Deutschland" profitiert. Haßloch weist ähnliche demografische Merkmale wie die Bundesrepublik auf und wird daher von der GfK als Testmarkt für neue Markenartikel und Konsumprodukte herangezogen.

Seit 1986 wird hier untersucht, ob und wie Innovationen von der Bevölkerung angenommen werden - samt Test der dazugehörigen Werbung. Und so reifte nach und nach die Idee der DK heran: Was wäre, wenn man das Prinzip eines dauerhaften Testmarkts auf sämtliche DK-Innovationen und Marketingmaßnahmen zur Girocard übertragen würde? Gemeinsam mit den Experten der GfK wurde diese Option näher beleuchtet. Und sämtliche Rahmeneckdaten führten zu dem Ergebnis, dass ein langfristiger DK-Innovationsstandort sowohl finanziell, bewertungstechnisch als auch in puncto Schnelligkeit enorme Vorteile mit sich bringt.

- Selbst kleinere Innovationen oder auch marketingbezogene Fragestellungen können problemlos und unmittelbar in einem längst vorbereiteten Markt mit einem ausgereiften Netzwerk erprobt werden.

- Dies macht die Art der Tests nahezu frei skalierbar - und selbst Neuerungen einzelner DK-Mitgliedsverbände könnten ohne große Gemeinschaftsinvestitionen oder Abstimmungsrunden unbürokratisch erfolgen. Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.

Warum gerade Kassel?

Natürlich wurde auch die Wahl des Standorts Kassel nicht dem Zufall überlassen und war das Resultat einer breit angelegten Recherche. Die Stadt Kassel ist aus den verschiedensten Gründen hervorragend als Innovationsstandort geeignet. Einerseits aufgrund der Lage und der regionalen Gegebenheiten: Kassel liegt nicht nur in der Mitte Deutschlands, was logistische Vorteile mit sich bringt, sondern ist die einzige Großstadt Nordhessens und damit zugleich Wirtschaftsmotor und Anlaufstelle für Verbraucher aus der ganzen Region. Die gewachsene Infrastruktur bietet ein ausgewogenes Verhältnis zwischen kleinen, mittelständischen und großen Handelspartnern sowie eine hervorragende Vernetzung der Banken und Sparkassen in der Region.

Auch aus Sicht der Marktforschung ist Kassel ideal geeignet und erfüllt eine Reihe von wertvollen soziodemografischen Kriterien. Allen voran: Die Bevölkerungsverteilung und -struktur ist nahezu deckungsgleich mit den Werten auf Bundesebene und macht dortige Ergebnisse somit übertragbar auf ganz Deutschland. Gleiches gilt unter anderem auch für die durchschnittliche Kaufkraft und die Einzelhandelsumsätze.

Zunächst geht es um die Grundbekanntheit

Um einen erfolgreichen Start des Langzeitprojektes zu garantieren, verständigte man sich darauf, zunächst die allgemeine Bekanntheit der Dachmarke zu stärken. Nur wenn die Bürger auch wissen, dass sie eine Girocard in ihrem Portemonnaie haben, können spätere Produktinnovationen zugeordnet und als Mehrwert wahrgenommen werden.

Untermauert wurde dieser Gedanke durch zahlreiche Studien, die bereits 2014 und 2015 in Zusammenarbeit mit den renommierten Marktforschern der GfK angefertigt wurden. So besitzen zwar rund 95 Prozent der Deutschen eine Girocard, 90 Prozent benutzen sie auch zum bargeldlosen Bezahlen im Handel und fast 70 Prozent möchten in Zukunft häufiger per Karte bezahlen.

Doch auf die Frage nach der Markenbekanntheit (zumindest dem Namen nach) liegt die Girocard rund 15 Prozent hinter dem veralteten Begriff "ec-Karte". 55 Prozent der Befragten waren sogar der Ansicht, dass die "ec-Karte" und die Girocard zwei verschiedene Systeme bezeichnen. Und nur ein Fünftel der Befragten wusste überhaupt vom Namenswechsel zur Girocard.

Ein ungünstiger Umstand. Schließlich sollte, gerade auch mit Blick auf alle zukünftigen Innovationen, durchweg bekannt sein, dass man in seinem Bezahlalltag bereits seit 2007 die Girocard nutzt. Folgerichtig wird in Kassel eine breit angelegte Aufklärungs- und Marketingkampagne zur Girocard vorangestellt, bevor anschließend mit den ersten Innovationsmaßnahmen begonnen werden kann.

Um die Veränderungen in Girocard City dauerhaft nachhalten zu können, setzt die DK übrigens auf eine anhaltend enge Zusammenarbeit mit den Experten der GfK. Ein kontinuierlich überprüfbares Panel registriert jede Änderung des Bezahlverhaltens vor Ort und macht sämtliche Maßnahmen in Kassel damit mess- und auswertbar.

Phasenmodell sichert exakte Auswertbarkeit

Das Prinzip von Ursache und Wirkung ist ein zentraler Baustein von Girocard City und das entscheidende Kriterium für eine Übertragung auf nationale Belange. Ziel ist die Erarbeitung der richtigen Strategie zur Einführung und Etablierung der Girocard als Marke und aller darauf basierenden Innovationen in ganz Deutschland.

Die Effektivität der Maßnahmen wird anhand eines ausgefeilten 3-Phasen-Modells erhoben. Das Modell bewertet in drei aufeinanderfolgenden Schritten die Erfolgsaussichten unterschiedlicher Kommunikationswege.

1. In Phase eins erhalten die Karteninhaber und Endkunden zunächst alle Informationen vonseiten der beteiligten Kreditinstitute vor Ort. In der Regel wird drei Monate lang in den Filialen, in persönlichen Gesprächen, per Newsletter, mittels Briefen oder über die institutseigene Website Informationsvermittlung betrieben. Dadurch lässt sich erheben, welchen Effekt institutseigene "Bewerbung" mit sich bringt.

Ein neues Produkt mit hohem Werbeetat bekannt zu machen, ist zweifelsohne leichter. Allerdings werden nicht alle Innovationen der DK mit großen Budgets hinterlegt sein. Insbesondere bei kleineren Neuerungen oder Weiterentwicklungen wäre eine nationale Kampagne viel zu teuer und überdimensioniert. Daher ist es ratsam zu wissen, wann eine direkte Ansprache der Banken und Sparkassen völlig ausreichend ist oder in welchem Fall eine stärkere Marketingunterstützung zwingend erforderlich ist.

2. Nach der reinen Institutskommunikation, die natürlich weiter fortgeführt wird, startet zusätzlich Phase zwei. Diese erweitert Phase eins um gezielte Handelspromotions und flankierende PR-Maßnahmen.

3. Nach wiederum drei Monaten beginnt Phase drei. Zusätzlich zu den Maßnahmen aus Phase eins und zwei startet eine klassische, groß angelegte Endkundenkommunikation, wie beispielsweise Plakatwerbung, Radio- oder Kinowerbung.

Kosten-Nutzen-Empfehlung für den nationalen Roll-Out

Nach jeder Phase erfolgt eine umfangreiche GfK-Messung, um den individuellen Wirkungsgrad der Einzelmaßnahmen festzuhalten. Je nach Ergebnis kann im Anschluss eine klare Kosten-Nutzen-Empfehlung für den nationalen Roll-out erfolgen. Sprich: Welcher Aufwand muss bei welcher Girocard-Zielsetzung oder Innovationseinführung erfolgen, damit der gewünschte Effekt eintritt?

Bestes Beispiel hierfür ist ein zuletzt in Girocard City ausgestrahlter Funkspot, der im Namen der dort teilnehmenden Institute erfolgte. Diese finanziell überschaubare Werbemaßnahme war derart erfolgreich, dass sich die DK kurzum für eine nationale Ausstrahlung entschied. So sollen auch zukünftige Aktivitäten ausgetestet, bewertet und im Erfolgsfall unmittelbar auf Bundesebene ausgedehnt werden. Girocard City wird in den kommenden 10 bis 15 Jahren folglich eine ganz besondere Vorreiterstellung im Technologie- und Bezahlsektor der Bundesrepublik Deutschland einnehmen und die Bestrebungen der Deutschen Kreditwirtschaft entscheidend mitbestimmen. Ein wahrlich innovativer Ansatz und zweifelsohne auch Novum für die gesamte Zahlungsverkehrsbranche.

"Girocardisierung" wirkt

Im April dieses Jahres ist Girocard City offiziell gestartet. Derzeit befinden wir uns in Phase eins der Basisinformationsvermittlung zur Girocard in Kassel und die Institute vor Ort informieren ihre Kunden zum Beispiel durch aufgestellte Roll-ups in der Filiale, ausgelegte Informationsflyer direkt am Bankschalter oder Hinweise am Geldautomaten beziehungsweise auf der institutseigenen Homepage.

Parallel dazu erfolgt in Kassel derzeit eine sogenannte "Girocardisierung". Hierbei wird das überholte ec-Logo im Sinne der Gesamtkommunikation vor Ort durch das Logo der Girocard ersetzt. Auch die Hinweise zur bargeldlosen Bezahlung im Handel werden momentan aktualisiert und mit dem neuen Girocard-Logo versehen.

Allein diese Maßnahmen der Phase eins zeigen bereits eine erfreuliche Wirkung und erstaunliche Zwischenergebnisse.

- Laut jüngster GfK-Umfrage wissen nunmehr rund 62 Prozent der Kasselaner, dass sich hinter den Begriffen "ec-Karte" und Girocard ein und dasselbe System verbirgt. Im vergangenen Jahr waren hiervon noch weniger als die Hälfte der Befragungsteilnehmer überzeugt (46 Prozent).

- Auch die Einstellung zur Girocard selbst hat sich stark positiv verändert. Zum Beispiel hielten vor gut einem Jahr nur 39 Prozent der Befragten die Girocard für innovativ. Mittlerweile ist fast die Hälfte der Kartennutzer dieser Ansicht (49 Prozent).

Eine so deutliche Steigerung in so kurzer Zeit offenbart, dass man sich auf einem sehr guten Weg befindet. Dennoch gilt es natürlich, die "Girocardisierung" in Kassel konsequent weiterzutreiben und die positive Entwicklung durch Phase zwei und drei sowie alle nachfolgenden Drei-Phasen-Modelle nachhaltig zu untermauern.

Um zuletzt noch auf die Innovationen einzugehen: Ein längst offenes Geheimnis ist die gemeinschaftliche Bestrebung, das kontaktlose Bezahlen mit der Girocard weiter auszubauen. Bereits seit Oktober 2015 setzt die genossenschaftliche Finanzgruppe auf die kontaktlose Funktionalität der Girocard in Kassel. Mit großem Erfolg: Zuletzt (Stand: 8. Mai 2016) stiegen die Transaktionszahlen in Kassel auf über 2 500 kontaktlose Zahlungen mit Girocard pro Woche. Aufgrund dessen werden die Volks- und Raiffeisenbanken und die Sparkassen ab Sommer 2016 insgesamt 14 Millionen kontaktlose Girocards in ganz Deutschland ausgeben.

Unabhängig davon verfolgt die deutsche Kreditwirtschaft natürlich weitere spannende Trends und Anwendungsoptionen, die mittelfristig den Bezahlalltag bereichern werden. Wann diese Innovationsüberlegungen in Kassel live gehen, ist derzeit allerdings noch nicht absehbar.

Denn eines ist klar: Kassel ist zwar der neue Innovationsstandort der Girocard und wird in Zukunft viele neue Bezahlmöglichkeiten hervorbringen. Doch Girocard City ist definitiv keine Spielwiese für unausgereifte Ideen und wird sich auch in Zukunft ausschließlich mit Innovationen befassen, die den hohen Anforderungen der Deutschen Kreditwirtschaft gerecht werden.

Zum Autor

Ingo Limburg, Euro Kartensysteme GmbH, Frankfurt am Main

Ingo Limburg , Vorsitzender des Vorstands , Initiative Deutsche Zahlungssysteme e.V.

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