Bankenunion vollenden, Kapitalmarktunion forcieren, Verteidigungsunion begründen

Prof. Dr. Michael Hüther, Foto: IW

Die Europäische Union hat derzeit mit einer Vielzahl von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Problemen und Krisen zu kämpfen: massive Migrations- und Flüchtlingsbewegungen aus Armuts- und Krisengebieten, ungünstige sozioökonomische Entwicklungen in vielen Ländern Europas, erstarkender Rechtspopulismus, offener Anti-Europäismus und nicht zuletzt der Brexit. Der Autor geht der Frage nach, wie sich die Währungsunion, die Bankenunion und die Kapitalmarktunion in diesen Zeiten weiterentwickeln müssen. Gerade bei der Währungsunion sieht er die zwischenzeitlich gemachten Krisenerfahrungen nur halb ins Konstruktive gewendet, indem institutionelle Lücken geschlossen und neue Regeln gefunden wurden. Bei der Bankenunion verweist der Autor auf die Notwendigkeit, den Blick auf alle Institutionen der Finanzintermediation zu richten und die Fragmentierung der Märkte beherzt anzugehen. (Red.)

So können sich die Zeiten ändern: Während zum zehnjährigen Bestehen der Europäischen Währungsunion der Befund überwiegend positiv und eher gelassen war, stehen wir zehn Jahre weiter da wie das Kind beim Dreck. Die zwischenzeitlich gemachten Krisenerfahrungen wurden nur halb ins Konstruktive gewendet, indem institutionelle Lücken geschlossen und neue Regeln gefunden wurden. Die funktionale Herausforderung, die mit einer Währungsunion unweigerlich verbunden ist, deren Mitglieder ihre finanzpolitische Souveränität jedenfalls grundsätzlich behalten, bleibt substanziell wirksam. Der Brexit und das nahezu überall zu beobachtende Erstarken populistischer Kräfte bis hin zur Regierungsbeteiligung stellen heute sogar die Existenzfrage für die erreichten Formen europäischer Integration.

Enttäuschte Erwartungen, unerwartete Lektionen

Es ist daran zu erinnern, dass sich weder die eigentliche Motivation für eine volle Währungsintegration erfüllt noch die darauf bezogenen Befürchtungen bestätigt haben. Dagegen erbachten die zwanzig Jahre Europäischer Währung manch Unerwartetes. Einerseits war durch die Staatsschuldenkrise zu lernen, dass Erwartungen und Hoffnungen auf effiziente Kapitalmärkte sich nicht ohne eigenes Zutun erfüllen. Denn deren Logik, eine verlässliche und glaubwürdige Stabilitätskultur als Grundlage der eigenen Bewertungen zu nehmen und Sanktionen tatsächlich nicht graduell entsprechend dem finanzpolitischen Fehlverhalten auszuüben, sondern - nicht nur bei plötzlich sich auf ösenden Informationsasymmetrien - in Form von Null-Eins-Entscheidungen, lässt auch eine Währungsunion nicht zur Freifahrt in das stabilitätspolitisch Beliebige werden. Andererseits ist deutlich geworden, dass Probleme und Herausforderungen für das institutionelle Design an anderer Stelle auftauchen als mehrheitlich vor Beginn der Währungsunion gedacht, nämlich bei den Geschäftsbanken.

Zwanzig Jahre europäische Währung haben - wie konnte es bei einem solchen Großexperiment anders sein - ebenso beachtliche Lernprozesse ausgelöst. Neben der Schärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes durch Two-Pack und Six-Pack sowie strikterem Haushaltscontrolling durch die EU, waren die Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus und die Begründung der Bankenunion die qualitativ neuen Ableitungen aus dem Erlebten.

Zusammen mit der Kapitalmarktunion liegen hier wichtige Stabilisierungsansätze für die Währungsunion, die bei allen sachlichen Erwägungen weniger im politischen Streit stehen, da es in erster Linie nicht um nationale Souveränitätsrechte geht. Anders sieht dies unverändert bei der Finanzpolitik aus, wie der Fall Italien belegt. Doch hier haben die Partner in der Eurozone keinen Spielraum.

Notwendige Bankenunion

Die Ausgestaltung der Bankenunion ist die zentrale Lektion der Krise. Denn die Währungsunion hatte dazu geführt, dass die für das Bilanzstrukturmanagement der Banken bedeutsamen Staatsanleihen (hochliquide, ohne Eigenkapitalunterlegung) nach dem Wegfall des Wechselkursrisikos auch von Banken anderer Staaten der Eurozone genutzt werden konnten. Das führte zu einer Euro-weiten Vernetzung der Bankbilanzen und Betroffenheit im Falle drohender Staatsinsolvenz. Das Projekt Bankenunion richtete das Augenmerk auf eine gemeinsame Aufsichtsstruktur in der Eurozone sowie einen entsprechenden Abwicklungsmechanismus. Während hierzu die institutionellen Vorkehrungen weitgehend erledigt sind, bleibt die Einlagensicherung als dritte Säule bisher ungestaltet.

Tatsächlich ist die Einlagensicherung besonders kritisch, da sie eine Risikoteilung begründet. Dennoch ist sie grundsätzlich geboten, weil sie systemische Bankenkrisen eindämmt. So machte die Banco Santander ganze 124 Prozent des spanischen BIP aus, BNP Paribas und Crédit Agricole erreichen 86 Prozent respektive 75 Prozent des französischen BIP. Ein Kollaps dieser Banken hätte gravierende Folgen, die Mittel in den einzelnen Mitgliedsstaaten wären unzureichend. Beherrschbarer stellen sich die Risiken erst für den gesamten EU-Binnenmarkt dar: In Bezug auf das BIP der Europäischen Union sinkt das Verhältnis auf 15 bis 20 Prozent. Die Bankenunion muss deshalb dem eigentlichen Ziel dienen, einen europäischen Bankenmarkt zu schaffen.

Allerdings ist die Einführung der Europäischen Einlagensicherung an Voraussetzungen gebunden, die derzeit nicht erfüllt sind. Zurecht wird darauf hingewiesen, dass zunächst Altlasten, vor allem asymmetrisch verteilte Risiken, bereinigt werden müssen. Eine Auswertung des Instituts der deutschen Wirtschaft von 76 großen, systemrelevanten Banken im Euroraum verdeutlicht das Problem:1) So gilt für 13 Prozent der Banken, dass deren Bücher zu einem Fünftel aus latent ausfallgefährdeten Krediten bestehen; 20 Prozent der europäischen Problemtitel bündeln sich in diesen Instituten. Keine Bank mit einem Anteil von 25 Prozent oder mehr an Problemkrediten im Jahr 2012 hat es vollbracht, die Kreditqualität bis zum Jahr 2017 zu verbessern.

Mit einer angemessenen Rekapitalisierung der europäischen Banken bis zum Jahr 2022 verbinden sich beachtliche volkswirtschaftliche Herausforderungen (vgl. Abbildung). Um die Abschreibungen für eine Reduzierung der Quote notleidender Kredite auf maximal 3 Prozent und eine Eigenkapitalausstattung von mindestens 7 Prozent der Bilanzsumme zu erreichen, sind in Zypern, Griechenland und Frankreich, aber auch in Deutschland beachtliche Beträge aufzubringen.

Das freilich wird nicht ausreichen, um eine Einlagensicherung strategieunanfällig zu gestalten. Insbesondere die hohen Investitionen in Staatsanleihen des eigenen Landes einiger Institute stehen einer europäischen Einlagensicherung im Weg. Bei italienischen Banken machen diese momentan 10,1 Prozent der Bilanzsumme aus, in Portugal 8,8 und in Spanien 7,4 Prozent. Um solche Klumpenrisiken zu entzerren, müssten Staatsanleihen in der EU nicht mehr als grundsätzlich risikofrei eingestuft werden. Eine zweite Grundvoraussetzung für die europäische Einlagensicherung wäre demnach eine risikogewichtete Eigenkapitalvorschrift für das Halten von Staatsanleihen.

Um den nationalen Besonderheiten Rechnung tragen zu können, spricht dem Subsidiaritätsprinzip folgend viel für ein übergreifendes Rückversicherungssystem, das erst greift sobald die nationale Einlagensicherung ausgeschöpft ist. Verlängert würde so die Sicherungskaskade der Bankenunion von der Eigenkapitalunterlegung bis zur Abwicklung, ohne erfolgreiche nationale Systeme auszuhebeln. Finanziert werden müsste eine solche Rückversicherung über Beiträge aller europäischen Banken, die sich an einer länderspezifischen sowie institutsspezifischen Komponente orientieren. Wer sich an alle Maßnahmen der Risikovorsorge hält und seine Problemkredite sukzessive abbaut, würde eine günstigere Prämie erhalten. So könnte verhindert werden, dass Banken mit hohen Risiken in einer gemeinsamen Versicherung "free-riding" betreiben.

Die Bankenunion bleibt freilich unvollendet, wenn in der Eurozone nicht der Blick auf alle Institutionen der Finanzintermediation gerichtet und die Fragmentierung der Märkte nicht angegangen wird. Es geht um die Kapitalmarktunion, die nach dem Ausscheiden des britischen EU-Kommissars Jonathan Hill allerdings unter die Räder gekommen ist und durch den Verlust des Kapitalmarktzentrums London durch den Brexit an Bedeutung gewonnen hat.

Die Chance, die sich damit verbindet, hat zwei Aspekte: Zum einen geht es um die Beseitigung von regulatorischen und institutionellen Hürden für einen europäischen Kapitalmarkt. Tatsächlich sind die nationalen Märkte immer noch fragmentiert und es dominiert bei der Finanzierung wie bei der Finanzanlage ein institutioneller Home Bias. Dies ist der Schwerpunkt der Kommissionsanstrengungen, die im Jahr 2015 mit der Bekanntgabe eines Aktionsplans eingeleitet wurden. Darin geht es um eine konsistente europäische Regulierung respektive Gestaltung bedeutsamer Finanzmarktprodukte wie Verbriefungen und gedeckte Schuldverschreibungen, wichtiger Sicherungsvorgaben (Solvabilität), des Zugangs zu einzelnen Marktsegmenten (Aktien und Anleihen für kleine und mittlere Unternehmen) sowie der Transparenz- und Verbraucherschutzvorschriften.2)

Beseitigung von regulatorischen und institutionellen Hürden

Die auch aus dem EU-Parlament zu hörende Kritik, eine weitere Liberalisierung der europäischen Kapitalmärkte sei kein Beitrag zur Finanzmarktstabilität, geht - gemessen an den genannten Themen des Aktionsplans - an der Sache vorbei. Zudem gilt, dass weniger fragmentierte, das heißt auch liquidere Märkte in geringerem Maße dem Risiko von Fehlbewertungen und damit Fehlsignalen für Investoren ausgesetzt sind.

Überdies sorgen einheitliche Regulierungsstandards nicht nur für geringere Regulierungskosten bei gleichem Sicherungsniveau, sondern auch dafür, dass sich eine Regulierungsarbitrage nicht lohnt. Der Vorstoß des ESA-Reviews auch die Zuständigkeit der Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde (ESMA) auf Nicht-Euro-EU-Länder zu erweitern, geht in diesem Sinne genau in die richtige Richtung.

Zum anderen sollte die Kapitalmarktunion auch dazu genutzt werden, das Zusammenspiel von Banken und Märkten bei der Finanzierung gesamthaft in den Blick zu nehmen. Die forcierte Re-Regulierung nach der globalen Finanzkrise hat gelegentlich den Blick auf die eigentliche Funktion des Systems verloren. Dies gilt auch für die langfristige Unternehmensfinanzierung durch Kredite im Lichte der neuen Liquiditätsvorschriften (ab 2015 Liquidity Coverage Ratio, ab 2018 Net Stable Funding Ratio). Dass damit die Vergabe langfristiger Kredite (Laufzeit von mehr als fünf Jahren) sehr unattraktiv wird und nahezu austrocknen dürfte, hat die EU-Kommission im Jahr 2013 mit einem Grünbuch zur Zukunft der Langfristfinanzierung selbst thematisiert. 3) Hintergrund der neuen Regulierung war die Feststellung, dass die Finanzkrise auch aus einer Überdehnung der Fristentransformation einzelner Institute und deren resultierende Illiquidität resultierte.4)

Da die Langfristfinanzierungen aber Planungssicherheit für die Realwirtschaft gewährleisten und somit einen entscheidenden Beitrag zur Stabilität der Märkte erbringen soll, kam die EU-Kommission zu der Schlussfolgerung, dass ersatzweise für die prohibitiv regulierten Banken nun andere Finanzmarktakteure (Crowdfunding, Versicherungen, Kreditfonds) dieses Geschäft übernehmen könnten. Dieser Vorschlag geht in die Irre, da er die infrastrukturellen Voraussetzungen und notwendigen Kompetenzen ignoriert. Deshalb bleiben Banken aufgrund ihrer Refinanzierungsmöglichkeiten, ihres Geschäftsmodells und ihrer langen Erfahrung dafür prädestiniert. Die Kapitalmarktunion böte für die neue EU-Kommission nun die Chance, durch eine entsprechende Neufassung der Liquiditätsregulierung einen Beitrag zur Stabilität der Märkte zu leisten. Manchmal ist weniger mehr.

Seit der Rede des französischen Präsidenten Macron am 24. September 2017 geistert durch Deutschland die Fama von einem großen Programm europäischer Erneuerung, dem sich Deutschland nun endlich anschließen müsse. Tatsächlich waren die Vorschläge weder systematisch hergeleitet noch von durchweg überzeugender Logik. Verdienstvoll ist aber ohne Zweifel der damit gegebene Anstoß, die europäische Integration weiterzudenken und zu führen.

Dennoch: Viele der Ideen bleiben im Klein-Klein stecken oder lassen nicht wirklich erkennen wie Europa damit weiterkommt. Das gilt auch für das Vorschlagspaket der EU-Kommission vom Nikolaustag 2017, das auf dem Fünf-Präsidentenbericht von Mitte 2016 sowie dem Refexionspapier der Kommission vom Frühjahr 2017 aufbaut und die Rede Macrons spiegelt. Die Vorschläge umfassen im Wesentlichen die Schaffung eines Europäischen Finanzministers, mehrerer Budgetlinien für EWU-Zwecke im EU-Haus halt und eines Europäischen Währungsfonds (EWF). Damit wird Europa nicht wirklich weiterkommen in einem politischen Umfeld des Populismus und des billigen Anschwärzens der EU für alle Probleme zuhause.5)

In dieser Gemengelage gelingt es noch nicht einmal, den - bezogen auf wichtige gesamtwirtschaftliche Indikatoren wie Arbeitslosigkeit, Beschäftigung, Staatsschulden, Industrieproduktion, Arbeitsproduktivität sowie digitale Konnektivität - positiven Befund über die Entwicklung der letzten Jahre zu vermitteln. Darum wird es aber grundsätzlich gehen müssen: um die Verankerung Europas in praktischen Vorteilen für seine Bürger. Das gilt bereits für die Handelspolitik und die Regulierung der digitalen Transformation. Perspektivisch steckt dafür Potenzial in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Dafür spricht zunächst, dass öffentliche Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit ein europaweites öffentliches Gut sind, nationale Alleingänge machen deshalb wenig Sinn. Dazu kommt, dass in der geopolitischen Struktur zwischen den Vereinigten Staaten, die den transatlantischen Konsens infrage stellen, und dem staatskapitalistischen China ein zersplittertes Europa wenig Einfluss gewinnen kann. Europa wird seine historisch geprägten Werte und Überzeugungen in dem normativen Konflikt unserer Globalisierung nur profilieren können, wenn es gemeinsam bei Außenpolitik, Sicherheit und Verteidigung ein starkes Signal der Gemeinsamkeit sendet. Arbeiten wir konsequent an der Europäischen Verteidigungsunion.

Fußnoten

1) Vgl. Markus Demary, 2018, Tackling Non-performing loans in the Euro area - What are the costs of getting banks fit for a European Deposit Insurance Scheme? IW-Report 16/2018.

2) Vgl. EU Commission, 2015, Capital markets union. A plan to unlock funding for Europe's growth (europa.eu, 20.11.2018). Vgl. dazu Demary, Markus / Matthias Diermeier / Heide Haas, 2015, A capital Markets Union for Europe - The Relevance of Banks and Markets, IW policy papers, 16/2015.

3) EU-Kommission, 2013b, Grünbuch Langfristige Finanzierung der Europäischen Wirtschaft, Brüssel sowie EU-Kommission, 2014, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die langfristige Finanzierung der europäischen Wirtschaft, Brüssel. Vgl. dazu Michael Hüther / Michael Voigtländer / Heide Haas / Philipp Deschermeier, 2015, Die Bedeutung der Langfristfinanzierung durch Banken. Vorteile und zukünftige Herausforderungen, Köln.

4) Vgl. Anat R. Admati / Martin F. Hellwig, 2013, The bankers' new clothes. What's wrong with banking and what to do about it, Princeton.

5) Vgl. Michael Hüther / Jürgen Matthes, 2018, Ein kritischer Blick auf die aktuellen Reformvorschläge der EU-Kommission, Wirtschaftsdienst Jg. 98/1, S. 30-34.

Prof. Dr. Michael Hüther Direktor, Institut der deutschen Wirtschaft Köln e. V., Köln
Prof. Dr. Michael Hüther , Direktor und Mitglied des Präsidiums , Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V., Köln

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