Nachhaltigkeit muss sich messen lassen - Modell eines ESG-Scoring-Systems

Volker Kurr, Foto: LGIM

ESG-Kriterien werden immer häufiger in die Entscheidungsprozesse institutioneller Investoren integriert. Das Bewusstsein, dass ein Wandel in Sachen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung dringend erforderlich ist, hat sich in der Finanzindustrie und Politik durchgesetzt. Dafür will die EU mit ihrer geplanten EU-Taxonomie nun allgemeine Regeln und Standards für die Marktteilnehmer etablieren und somit definieren, was Nachhaltigkeit ist. Zur Bewertung von Unternehmen hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit braucht es zudem klar nachvollziehbare Messsysteme. Es sollte laut dem Autor aber nicht nur um einzelne Firmen, sondern auch um den Erfolg der Wirtschaft und die Gesundheit des Marktes im Gesamtbild gehen. Und nicht immer seien Daten verfügbar oder entsprechend aufbereitet, damit eine Vergleichbarkeit hergestellt werden kann. Welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit das sogenannte Scoring-Modell angewendet werden kann, wird im Folgenden erläutert. (Red.)

Dass sich ESG-Themen auf die langfristigen Renditen von Investments auswirken, ist mittlerweile hinreichend bekannt und belegt. Vom Klimanotstand bis hin zu Schäden durch Missachtung der Mitarbeiter oder Korruption - zu gewaltig sind die Risiken, die hier bei Nichtachtung lauern. Sinnvoll ist daher die Beurteilung von Unternehmen anhand festgelegter globaler Mindeststandards. Bei der Definition der Kriterien sollte es nicht nur um einzelne Firmen, sondern auch um den Erfolg der Wirtschaft und die Gesundheit des Marktes insgesamt gehen. Von zentraler Bedeutung ist auch die Qualität der einbezogenen Daten. Diese müssen vor allem drei Bedingungen erfüllen:

- Verfügbarkeit: Melden die Unternehmen des Anlageuniversums die benötigten Informationen?

- Quantifizierbarkeit: Sind die Informationen in einem numerischen Format verfügbar, um in den Scores berücksichtigt zu werden?

- Verlässlichkeit: Werden die Daten regelmäßig gemeldet, um einen Vergleich zwischen allen relevanten Unternehmen zu ermöglichen?

Ein Scoring-Modell muss jedoch nicht alle potenziellen Bedenken gegenüber einem Unternehmen erfassen. Ziel ist vielmehr die Bewertung anhand eines konsistenten Satzes von Mindeststandards, der eine zuverlässige Messung gestattet. In der Praxis können die ermittelten ESG-Scores auch als Leitlinie für das Abstimmungsverhalten bei Hauptversammlungen dienen. Ein schlechtes Ergebnis führt also beispielsweise dazu, dass LGIM als Investor eher gegen das entsprechende Unternehmen stimmen wird.

Anpassung der Geschäftsmodelle aller Branchen nötig

Eine Methodik, die alle entscheidungsnotwendigen Aspekte abdeckt, wird zunächst einen transparenten Rahmen für die Bewertung der Chancen und Risiken von Unternehmen schaffen und damit eine "Black Box" für Investitionen vermeiden. Das stärkt die Rolle der Investoren, die auf der Grundlage klarer und einheitlicher globaler Standards Firmenverhalten entweder honorieren oder nachteilig bewerten. Außerdem können so Unternehmen die Kriterien nachvollziehen, anhand derer sie gemessen werden und ihre Aktivitäten entsprechend ändern.

Da Nachhaltigkeit ein sehr umfängliches Feld ist, ist es sinnvoll, die Analyse auf einzelne kleinere Teilaspekte der Bereiche Umwelt, Soziales, Unternehmensführung und Transparenz herunterzubrechen. Das ESG-Score-Modell vom LGIM beispielsweise arbeitet mit 28 Datenpunkten, deren Ergebnisse in eine Endbewertung einfließen, die zweimal jährlich aktualisiert und veröffentlicht wird - inklusive der Namen der über 16 000 analysierten Unternehmen.

Zur Bewältigung des Klimanotstands haben sich die Länder der Welt im Rahmen des internationalen Pariser Abkommens verpflichtet, in den nächsten Jahrzehnten den Ausstoß von Kohlendioxid, der Hauptursache globaler Erwärmung, auf netto Null zurückzufahren. Dies bedeutet, dass Unternehmen aller Branchen ihre Geschäftsmodelle für eine nachhaltige Zukunft anpassen müssen - auch aus Sicht der Anleger. Denn je mehr sich das Verbraucherverhalten ändert und der technologische oder regulatorische Druck zunimmt, desto schneller werden inaktive Unternehmen zum Investitionsrisiko. LGIM und viele weitere professionelle Anleger nutzen hier bereits ihre Position als aktive Eigentümer und nehmen Einfluss auf die Firmenpolitik - was auch den Abzug von Investments bei Fehlverhalten bedeuten kann. Durch diesen Diskurs haben sich beispielsweise bereits manche große Minenbetreiber ganz von ihren Kohlebergwerken getrennt, wie etwa Rio Tinto.

Mit drei Indikatoren lässt sich das Umweltverhalten bewerten: Einmal der Kohlendioxidausstoß, für den das Unternehmen verantwortlich ist. Dazu zählen direkte Emissionen, aber auch indirekte, durch zugekaufte Energie. Dann die Kohlenstoffreserven von Produzenten und Anbietern fossiler Energie (Öl, Kohle oder Gas) sind für Investoren auch deshalb langfristig riskant, weil ein wachsender gesellschaftlicher und politischer Druck auf die entsprechenden Unternehmen deren Wert schnell merklich reduzieren kann.

Der dritte Faktor misst die grünen Einnahmen, denn der Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft bietet eine Reihe von Investitionsmöglichkeiten. Neue Technologien werden bereits von der Landwirtschaft über die Infrastruktur bis hin zur Energiewirtschaft eingesetzt. Weitere Innovationen werden kommen, und zwar im gleichen Maße, wie Alternativen zum derzeitigen Umgang mit Energie und natürlichen Ressourcen entstehen.

Eine Vielfalt von Ansichten, Hintergründen, Werten und Lebensanschauungen macht Unternehmen innovativer, beweglicher und kulturell erfolgreicher. Wenn alle Talente effektiv genutzt werden, hat das auch wirtschaftliche Vorteile.

Drei Faktoren zur Bewertung des Umweltverhaltens

Als ein Indikator für die soziale Vielfalt dient im Scoring-Modell die prozentuale Verteilung nach Geschlecht. Daten über das Geschlecht werden weltweit berichtet und bieten eine leicht zu messende Möglichkeit, die gesamte Belegschaft und die Führungsebenen zu überprüfen. Mit ihnen lässt sich auch gut die Unternehmenskultur als Ganzes einschätzen, da bei einer geschlechtsspezifischen Vielfalt wahrscheinlich auch die Diversität in anderen Bereichen gefördert wird. Der Anteil von Frauen im Vorstand, auf Führungsebene, im Management und in der Belegschaft sollte mindestens bei 30 Prozent liegen. Auch in Richtung dieses Ziels können Asset Manager wirken. In Japan, einem Land mit besonders niedrigen Frauenquoten, nutzten LGIM und andere ausländische Vermögensverwalter bei den Hauptversammlungen im Juni 2020 ihren Einfluss auf japanische Unternehmen, um dort gegen Verwaltungsräte ohne Frauen zu stimmen.

Da Menschen der wichtigste Vermögenswert eines jeden Unternehmens sind, haben solche Häuser Erfolg, die die besten Talente anziehen, motivieren und halten können. Eine Reihe von Indikatoren gibt Investoren ein Gefühl dafür, wie Unternehmen mit den Risiken und Chancen umgehen, die mit ihrer Belegschaft verbunden sind. Art und Umfang der Meldungen über soziale Missstände oder Zwischenfälle zeigen, ob und wie das firmeneigene Regelwerk funktioniert. Anhand von vier Messgrößen werden die Ergebnisse in Bezug auf Diskriminierung, Bestechung und Korruption sowie Versammlungsfreiheit bewertet. Dazu wird auch geprüft, ob diese Regeln ebenfalls für Lieferanten gelten. Eine hohe Anzahl von Nichteinhaltungen oder Störfällen ist ein Zeichen für schlecht gemachte Richtlinien oder Mängel in der Umsetzung.

Der Abstimmungsprozess bei Hauptversammlungen ist ein entscheidender Faktor zur Bewertung der Unternehmensführung, denn das aktive Stimmrecht sorgt für Kontrolle und Ausgewogenheit zwischen Geschäftsleitung und Eigentümern.

Dafür ist es notwendig, dass die Kontrolle über ein Unternehmen proportional zum Risiko der Investoren steht. Das heißt: eine Aktie, eine Stimme. Im Scoring wird geprüft, ob das Unternehmen dies einhält oder es womöglich zwei verschiedene Klassen von Aktien beziehungsweise Regelungen gibt, die das Stimmrecht beschränken. Auch Vorgaben über die Mindestanzahl von Aktien für die Abstimmung werden bewertet. Grundsätzlich gilt dabei: Je größer die Anzahl der Aktien im Streubesitz, desto effektiver können die einzelnen Aktionäre mit ihrer Stimme etwas bewirken.

Weniger Risiko durch erfahrenen Aufsichtsrat

Eine weitere Messgröße ist die richtige Zusammensetzung an der Unternehmensspitze. Durch einen erfahrenen und unabhängigen Aufsichtsrat verringert sich das Risiko der Machtkonzentration auf eine oder wenige Personen. Es wird bewertet, ob der Aufsichtsrat aus neutralen Mitgliedern besteht, die Geschäftsführung und Kapital überwachen. Auch der Aufsichtsratsvorsitzende muss bei seiner Ernennung und während seiner gesamten Amtszeit unabhängig sein. Regelmäßige Wechsel im Aufsichtsrat tragen dazu bei, bewährte Praktiken infrage zu stellen und zu große Harmonie durch Gruppendenken zu vermeiden. Allerdings sollte nicht zu häufig gewechselt werden, denn gesammeltes Unternehmenswissen ist auch in diesem Gremium ein wertvolles Gut.

Zudem müssen die internen und externen Revisionsfunktionen unabhängig und widerstandsfähig sowie die Prozesse etabliert sein. Ein solcher Prüfungsausschuss schützt auch die Anlegerinteressen und zeigt Analysten, dass der Jahresabschluss ein wahrheitsgetreues und faires Bild der finanziellen Leistung und Position des Unternehmens vermittelt.

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Voraussetzung für die zuverlässige Messung der oben aufgeführten Kriterien ist der Zugang zu den entsprechenden Daten. Das klingt selbstverständlich, ist es in der Praxis aber leider nicht immer. Daher sollte der Faktor Transparenz in die Bewertung mit einfließen.

Eine besondere Rolle spielt dabei, ob und wie das Reporting dem ESG-Berichtsstandard entspricht. Dabei müssen internationale Vorgaben sowie Best Practices berücksichtigt und der Nachhaltigkeitsbericht nach entsprechenden Grundregeln extern verifiziert worden sein. Karbonemissionen beispielsweise sollten anhand eines einheitlichen CDP-Fragebogens gemeldet werden. CDP steht dabei für Carbon Disclosure Project. Im Sinne der Transparenz muss das Unternehmen auch alle international gezahlten Steuern offenlegen, ebenso Informationen zu Vorstandsmitgliedern, einschließlich der Biografien der Direktoren und deren Vergütungen. So können Investoren die Fähigkeiten und die relevanten Erfahrungen der nominierten Direktoren und die Gesamtqualität des Verwaltungsrates beurteilen.

Nachvollziehbare Messsysteme benötigt

Obwohl die Risiken, die aus einer Nichtachtung der ESG-Kriterien entstehen, für Unternehmen auf der ganzen Welt gelten, ist die Datenverfügbarkeit oft schlecht. Außerdem fehlen bisher noch für viele Indikatoren konsistente, global akzeptierte Definitionen und Messansätze. Internationale Gremien wie die Task Force on Climate Related Financial Disclosures (TCFD) sind angetreten, diese Lücke zu schließen und werden dabei von führenden Asset Manager unterstützt.

Um nachhaltige Anlagen attraktiver zu machen und dafür zu sorgen, dass ESG auch im Mainstream ankommt, werden klar nachvollziehbare Messsysteme benötigt. Je zuverlässiger die ausgewerteten Daten sind, desto stärker wird die Nachfrage sein. Damit steigt der Anreiz für Unternehmen, präzise Daten zu liefern, die wieder zu klareren Messergebnissen führen. So wird idealerweise ein Kreislauf in Gang gesetzt, von dem alle profieren.

Volker Kurr Leiter des institutionellen Geschäfts, Legal & General Investment Management (LGIM) in Europa, Frankfurt am Main

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Volker Kurr , Head of Europe, Institutional , Legal & General Investment Management (LGIM), Frankfurt am Main

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