Leitartikel

Girocard in der Krise?

sb - Im Vorwort der polizeilichen Kriminalstatistik 2009 wird das PIN-gestützte elec-tronic-cash-Verfahren, mittlerweile in Girocard umbenannt, im Vergleich zum "wilden" ELV als das sicherere Debitverfahren bezeichnet. Der genauere Blick in das Zahlenwerk scheint diese Einschätzung jedoch so wenig zu stützen, dass das EHI Retail Institute e. V., Köln, in einer Pressemitteilung verbreitet, das Lastschriftverfahren werde aus "Sicht der polizeilichen Kriminalstatistik heute sogar als sicherer bewertet als das PIN-basierte electronic-cash-Verfahren". Dank dem seit 2006 aufgebauten System "Kuno" ging der Betrug mit rechtswidrig erlangten Debitkarten ohne PIN auch 2009 erneut kräftig zurück, wenn auch nicht mehr ganz so drastisch wie 2008. Und die Fallzahl beim Betrug im Lastschriftverfahren lag 2009 noch deutlicher unter der im Girocard-Verfahren als im Vorjahr. Gleichzeitig hat der Betrug mittels rechtswidrig erlangten Daten von Zahlungskarten um 68,6 Prozent auf 17 072 Fälle - den bisher höchsten Wert in diesem Deliktsbereich - zugenommen. Ursächlich hierfür ist namentlich das Skimming. Die Manipulation von Geldausgabeautomaten zu diesem Zweck ist im vergangenen Jahr um fast 20 Prozent auf 960 Fälle angestiegen. Für die Kreditwirtschaft ist dies eine bittere Pille. Denn nicht nur, dass beim Verbraucher nach den Kartenskandalen aus dem Herbst 2009 und der Chipkartenpanne vom Beginn dieses Jahres erneut die für das Image des Mediums Karte so schädliche Botschaft ankommt, dass Karte und PIN nicht sicher sind. Sondern auch die Akzeptanzseite lässt sich angesichts der sich zulasten von Girocard öffnenden Schere beim Betrug mit Debitkarten mit dem Argument der Sicherheit kaum noch für die Umstellung auf das Girocard-Verfahren gewinnen.

Neben dem echten Fraud spielen für den Handel freilich auch die Ausfälle infolge mangelnder Bonität des Kunden - eines der stärksten Argumente für das Girocard-Verfahren - eine Rolle. Doch selbst beim leidigen Thema der Rücklastschriften hat sich die Lage entschärft, wenngleich die Quoten nach vier Jahren des Rückgangs 2009 wieder leicht angestiegen sind. Denn viele Netzbetreiber bieten inzwischen Dienstleistungen mit Zahlungsgarantie/Ausfallschutz an, die von rund 45 Prozent der Händler auch genutzt wer den. Und mit Gebühren von 0,15 bis 0,21 Prozent für große und 0,20 bis 0,25 Prozent für kleinere Unternehmen liegen die Preise der Netzbetreiber für die Zahlungsgarantie spürbar unter den 0,3 Prozent, mindestens aber acht Cent je Transaktion, die im Giro-card-Verfahren unverändert berechnet werden, ohne Skaleneffekte an den Handel weiter zugeben, wie es dessen Verbände seit langem fordern. Die Deutsche BP hat daraus die Konsequenz gezogen und kassiert seit September 2009 in Zusammenarbeit mit ihrem Dienstleister Easycash an allen deutschen Aral-Tankstellen wieder im Lastschriftverfahren. Und Aral ist nur ein prominentes Beispiel: Der EHI-Händlerumfrage 2010 zufolge ist der Anteil der mittelständischen Händler, die ausschließlich auf ELV setzten, im ver gangenen Jahr um beachtliche 13,4 Prozentpunkte auf 35,5 Prozent gestiegen. Am Gesamtumsatz des deutschen Einzelhandels hat der Anteil des Lastschriftverfahrens erstmals seit 2002 wieder leicht (um 0,2 Prozentpunkte) zugenommen.

Um dies nicht wieder zum Trend werden zu lassen, sind DSGV und BVR nicht nur der Mineralölindustrie bei den Konditionen entgegengekommen. Der DSGV hat als erster der kreditwirtschaftlichen Verbände auch konkrete Bereitschaft signalisiert, die Forderungen des Handels nach mehr Flexibilität zu erfüllen. Händler sollen im DSGV-Modell künftig frei über die Inanspruchnahme einzelner Leistungsbestandteile entscheiden können, die jeweils einzeln bepreist werden. Das kann nur die Basisleistung Transaktion zum einheitlichen Preis sein, mit dem die Infrastruktur finanziert wird. Zusatzleistungen wie die Zahlungsgarantie können optional vom jeweiligen Kartenemittenten hinzugekauft werden. Und hier läge - wettbewerbsrechtlich unbedenklich - die Preisstellung beim einzelnen Kreditinstitut, wobei es im Markt Unsicherheiten hinsichtlich der praktischen Umsetzung gibt. In jedem Fall dürften die Preise der Netzbetreiber für die Ausfallgarantien bei ELV dabei zur Richtschnur werden. Die Zahlungsgarantie wird dann zum Wettbewerbsthema. Um Preissenkungen wird die Kreditwirtschaft also wohl nicht herumkommen.

Längst geht es aber nicht mehr nur ums Geld. Zunehmend stellt der Handel auch unangenehme Fragen nach der Systemverfügbarkeit. Zwar ist der Anteil der Unternehmen mit Beanstandungen im Jahr 2009 gegenüber dem Vorjahr um sechs Prozentpunkte auf 45 Prozent zurückgegangen. Beschwerden über verzögerte Abwicklung haben jedoch deutlich zugenommen. Und damit verliert auch das Argument der Schnelligkeit Glanz, das noch bei der Entscheidung der Discounter für electronic cash eine maßgebliche Rolle gespielt hatte. Und diese Mängel könnten sich noch verstärken. Denn im Zuge der Umstellung auf TA 7.0 registriert der EHI-Umfrage 2010 zufolge mehr als die Hälfte der Händler eine zum Teil deutlich verlangsamte Abwicklung der Transaktionen. Die Chipkartenpanne zu Jahresbeginn hat der Forderung nach einer Verfügbarkeitsgarantie neuen Nachdruck verliehen, damit der Handel nicht auf Umsatzeinbußen sitzen bleibt, wenn per Karte wieder einmal gar nichts geht. Schließlich war ein Viertel der mittelständischen Handelsunternehmen eigenen Angaben zufolge von den Problemen im Januar 2010 stark betroffen - weil sie, anders als die großen, die TA 7.0-Umstellung bereits zu fast zwei Dritteln abgeschlossen hatten. Das Bestreben, ELV als zuverlässige und kostengünstige Alternative auch im Sepa-Umfeld weiter fortzuführen, hat damit neuen Auftrieb erhalten. Mittlerweile hat das "ELV-Forum" erste Spezifikationen für eine entsprechende Weiterentwicklung veröffentlicht.

Das in den letzten Jahren so erfolgreiche electronic-cash-Verfahren scheint also in einer Krise zu stecken. Unerwartete Schützenhilfe kommt jetzt von den Verbraucherschützern, die damit begonnen haben, die vom Kunden zu unterschreibenden Einwilligungserklärungen im elektronischen Lastschriftverfahren kritisch unter die Lupe zu nehmen. Das Ziel, ELV abschaffen zu wollen, wird damit nicht verfolgt. Dennoch hat die Klage des Verbraucherzentrale Bundesverband e. V. gegen die zur Rewe-Group gehörende Lebensmittelkette Famila Nordost unerwartete Wirkung gezeigt. Trotz der Versicherungen, die Erklärungen seien datenschutzrechtlich geprüft, will die Rewe-Group, um weitere Auseinandersetzungen zu vermeiden, künftig in allen rund 6 500 deutschen Märkten ihrer Vertriebsschienen Rewe, Penny, Toom, Toom Baumarkt und Promarkt bei Debitkartenzahlungen ausschließlich das PIN-gestützte Girocard-Verfahren einsetzen.

Unterstützung für die Zahlung per PIN gibt es auch vom Bundeskriminalamt. Doch dessen Forderung, angesichts der Zunahme des Skimmings den Magnetstreifen lieber heute als morgen von der Karte zu nehmen, ist auch aus Sicht der Kreditwirtschaft derzeit noch mit Vorsicht zu genießen. Zwar wäre neben einem guten Teil des Frauds auch die leidige ELV-Thematik damit vom Tisch. Doch müssten all diejenigen Kunden, die ihre Karte auch im außereuropäischen Ausland einsetzen wollen, dann mit zusätzlichen Karten ausgestattet werden. Vor allem aber stünden Magnetstreifen und ELV dann in Notfällen nicht mehr als "Fallback-System" zur Verfügung. Und darauf wird es nach den diesjährigen Erfahrungen wohl niemand ankommen lassen wollen. Bevor hier tabula rasa gemacht wird, müssten also Lösungen gefunden werden, um bei ähnlichen Vorkommnissen schnell auf ein funktionierendes Parallelsystem "umschalten" zu können, wie es Nicolas Adolph für den Verband der Netzbetreiber in der Ausgabe 2/2010 gefordert hat. Bis auf weiteres wird sich das Girocard-Verfahren also weiterhin mit ELV auseinandersetzen und messen müssen. Ohne Nachbesserungen im Sinne des Handels wird das wohl nicht abgehen. Natürlich könnte die Kreditwirtschaft das "wilde" Verfahren auch aushebeln, indem sie schlicht die dafür notwendigen Informationen, Bankleitzahl und Kontonummer, von der Karte nimmt. Dann aber könnte der zu erwartende Aufschrei des Handels den Handlungsdruck auf das Bundeskartellamt erhöhen.

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