Bürger als Akteure einer modernen Daseinsvorsorge

Dr. Roman Glaser, Foto: BWGV

Kinderbetreuung, Bildungseinrichtungen, Pflege älterer und hilfsbedürftiger Menschen, attraktive Nahversorgung, Gasthäuser, Breitbandausbau, nachhaltige Energieversorgung, kulturelle Angebote, guter öffentlicher Personennahverkehr, Hausärztemangel und Schaffung bezahlbaren Wohnraums. All diese genannten Aspekte werden hierzulande seit vielen Jahren und mit unterschiedlicher Intensität als Probleme einer mangelhaften Infrastruktur diskutiert. Aus dem demokratischen Prinzip einer Genossenschaft und über die Rechts- und Unternehmensform der eingetragenen Genossenschaft sieht der Autor in allen Teilen des Landes Initiativen aus der Bevölkerung heraus, die Chance, aus dem klassischen Fürsorgeverhältnis auszubrechen und ihre Lebenssituation aktiv mitzugestalten. (Red.)

Demografische sowie erwerbsstrukturelle Veränderungen stellen Kommunen vermehrt vor die große Herausforderung, Aufgaben der Daseinsvorsorge neu zu organisieren. Neben den sinkenden fiskalischen Handlungsspielräumen und der sich verändernden Angebots- und Nachfragestruktur sind es auch starke Veränderungen hinsichtlich der Ansprüche an die Gestaltung der persönlichen Lebensumstände sowie der gestiegene Wunsch nach Mitbestimmung, Information und Partizipation innerhalb der Bevölkerung, die neue Wege bei der Daseinsvorsorge erforderlich machen.

Verantwortung für die soziale Infrastruktur

Als vor einigen Jahren in der baden-württembergischen Stadt Pfullendorf überlegt wurde, ein neues Pflegeheim sowie seniorengerechte Wohnungen zu bauen, entschieden sich die Verantwortlichen, einen bis dahin komplett neuen Weg zu gehen. Das Pflegeheim sollte nicht von einem Träger oder einem klassischen Finanzinvestor errichtet, sondern durch das Gemeinwesen getragen werden. Aus diesem Grund wurde die von Bürgerinnen und Bürgern getragene Genossenschaft "WoGa Pfullendorf - Wohnen und Gesundheit im Alter" gegründet, die das Wohnzentrum "Grüne Burg" baute und dann an einen Betriebsträger vermietete. Die Bürgerinnen und Bürger haben somit unmittelbar Verantwortung für die soziale Infrastruktur im Alter in ihrer Stadt übernommen. Und gleichzeitig stellen sie sicher, dass dieses wichtige Angebot für ältere Menschen in Pfullendorf aktuell und zukünftig nicht rein aus Renditegesichtspunkten bewertet wird, sondern stets vorgegebene konzeptionelle Ziele im Vordergrund stehen. Da das übergeordnete Ziel ist, das selbstbestimmte Wohnen im Alter zu stärken, ist der Betriebsträger verpflichtet, Serviceleistungen für die Bewohner mit anzubieten. Dies ist klare Vorgabe der Genossenschaft, die darüber hinaus auf die Qualität des Wohnangebots und der Pflege achtet und darüber entscheidet, wie die erzielten Renditen eingesetzt werden, etwa für den Ausbau sozialer Angebote für die Bewohner.

Die WoGa Pfullendorf ist die erste Genossenschaft für stationäre Pflege in Baden-Württemberg und die zweite Einrichtung dieser Art bundesweit. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, wie aus der Mitte der Bürgerschaft über die Rechts- und Unternehmensform der eingetragenen Genossenschaft (eG) Impulse gegeben und Projekte verwirklicht werden können. Gerade in dem erweiterten Kreis zeitgemäßer Daseinsvorsorge, zu dem zweifelsohne auch Pflegeangebote gehören, sind Genossenschaften geradezu prädestiniert, um Angebote in Städten und Kommunen aufrechtzuerhalten, die zu einem "guten Leben" gehören.

Sicherstellung eines lebenswerten Umfelds

Bei einer modernen Daseinsvorsorge geht es nicht mehr allein um die Erfüllung gesetzlicher Pflichten, sondern es geht ebenso um die Sicherstellung eines lebenswerten Umfelds. Eine Schlüsselfunktion nimmt hierbei eine wohnortnahe und familienfreundliche Infrastruktur ein: Im Fokus stehen Aspekte wie Kinderbetreuung, Bildungseinrichtungen, Pflege älterer und hilfsbedürftiger Menschen, attraktive Nahversorgung, Gasthäuser, Breitband, nachhaltige Energieversorgung, kulturelle Angebote und ein guter öffentlicher Personennahverkehr.

In all diesen wichtigen Handlungsfeldern zeigen sich Genossenschaften ungemein praktikabel und stark - was sich nicht zuletzt in den genossenschaftlichen Neugründungen der vergangenen zehn Jahren gerade auch unter dem Dach des Baden-Würtembergischen Genossenschaftsverbands (BWGV) ausdrückt. Energiegenossenschaften, Nahwärmeanlagen, Dorfläden, Pflegeeinrichtungen, Ärztegenossenschaften, Wohngemeinschaften und Quartiersentwicklungen, Kindertagesstätten und Schulen oder Schwimmbäder - Genossenschaften bieten die Lösung für aktuelle und zukünftige Herausforderungen. Und wenn Finanzierungen dafür notwendig sind, liegt die Einbeziehung der regionalen Volksbank oder Raiffeisenbank zur Sicherstellung einer nachhaltigen und transparenten Finanzierung vor Ort auf der Hand.

Doch worin liegen die großen Vorzüge der Rechts- und Unternehmensform eG?

1. Bürger werden von reinen Konsumenten zu Akteuren, die nach den Prinzipien der Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung handeln. Dies kommt dem Bedürfnis der Menschen nach Mitbestimmung und demokratischen Entscheidungsprozessen entgegen und sorgt in Konsequenz dessen für eine große Akzeptanz des gemeinsamen unternehmerischen Zwecks.

2. Die eG ist die ideale Unternehmensform, um bürgerschaftliches Engagement in einen professionellen Rahmen zu setzen und dafür zu sorgen, dass im Sinne nachhaltigen Wirtschaftens Gewinnstreben und soziale Verantwortung im Gleichgewicht sind. Denn eines ist ganz wichtig in Bezug auf Bürger-Genossenschaften: Sie sind Wirtschaftsunternehmen, die ein leistungsfähiges Management und ein solides Geschäftsmodell benötigen. Sie sind keine ideellen Vereine.

Vorzüge der Rechts- und Unternehmensform eG

3. Genossenschaften eignen sich ideal, um in Kooperation mit Bürgern, Kommunen und weiteren Unternehmen ihre Ziele zu erreichen. Darüber hinaus schaffen Genossenschaften Vernetzungen, die es ermöglichen, nicht nur Bürger und Verwaltung sondern auch Wirtschaft und Wissenschaft zusammenzubringen. Genossenschaften sind gewissermaßen Pioniere der Kooperation und des Netzwerk-Gedankens.

Wie Daseinsvorsorge und eine hohe Lebensqualität vor allem im ländlichen Raum durch Bürgergenossenschaften gesichert werden können, untersucht das vom BWGV begleitete und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Forschungsprojekt Kommunale Daseinsvorsorge (KoDa) eG. In vier Pilotkommunen (Oberreichenbach, Offenburg und Schutterwald in Baden-Württemberg sowie Posterstein in Thüringen) werden von der KoDa eG Bürgergenossenschaften für soziale, kulturelle und wirtschaftliche Dienstleistungen der Daseinsvorsorge in Kommunen sowie Infrastrukturprojekte gegründet. Dabei wird erprobt und über eine wissenschaftliche Begleitung erforscht, wie genossenschaftliche Modelle die moderne Daseinsvorsorge tragen können.

Die Ziele der Genossenschaften in den Pilotkommunen sind vielfältig: Sie reichen von der Versorgung mit Lebensmitteln und Gütern des täglichen Lebens mithilfe von Dorfläden über Nachbarschaftshilfe und Integrationsmaßnahmen für Zuwanderer bis hin zur Sicherstellung von Pflegeangeboten mit einer ambulant betreuten Wohngruppe sowie den Ausbau von Tourismus als wirtschaftlichen Ankerpunkt.

Problem Hausärztemangel

Das Problem des Hausärztemangels geht eine aktuelle, unter anderem vom Gemeindetag Baden-Württemberg, dem Hausärzteverband Baden-Württemberg und dem BWGV betriebene Untersuchung an. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob genossenschaftliche Hausarztmodelle eine Lösung für den drohenden Ärztemangel im ländlichen Raum sein können.

Ganz konkret sieht das Modell vor, dass Medizinische Versorgungszentren (MVZ) in der Rechtsform der eG gegründet werden, die Anstellungsverhältnisse für Ärztinnen und Ärzte in Voll- und Teilzeit schaffen. Auf diese Weise müssen Ärzte nicht das wirtschaftliche Risiko einer eigenen Praxis eingehen und können darüber hinaus auf Hilfe bei administrativen Tätigkeiten bauen. Außerdem können Kooperationen mit anderen Ärzten innerhalb eines MVZs für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sorgen, da der Druck, permanent eine Versorgung aufrechtzuerhalten, geteilt werden kann.

Seit September 2018 wurde in 21 Städten und Gemeinden geprüft, ob solch ein genossenschaftliches MVZ umsetzbar ist. Das Ergebnis: In zehn Städten und Gemeinden wird ein genossenschaftliches MVZ als gute Option eingestuft.

Doch nicht nur bei der Sicherstellung kommunaler Daseinsvorsorge in ländlichen Gebieten können Genossenschaften eine wichtige Rolle spielen. Auch im urbanen Umfeld bieten (Bürger-) Genossenschaften entscheidende Vorteile in der modernen Daseinsvorsorge - etwa im Bereich der Quartiersentwicklung, in der neben dem reinen Wohnraum von Beginn an auch Fragen etwa der wohn ortnahen Versorgung, der Pflege und Kinderbetreuung, der technischen Ausstattung (Stichwort Smart City) oder des generationenübergreifenden Zusammenlebens und der Integration berücksichtigt werden.

Schaffen von bezahlbarem Wohnraum

Unter dem Motto "Wohnen Plus" wird strukturiert das Schaffen von bezahlbarem Wohnraum mit dem Angebot unterschiedlichster Dienstleistungen verbunden. Dabei gibt es mehrere Ausgestaltungsmöglichkeiten:

1. Die Nutzung eines Hauses oder mehrerer Häuser in genossenschaftlicher Hand.

2. Die Gründung einer Dachgenossenschaft zum Management eines Quartiers oder einzelner Häuser, sodass begleitende Dienstleistungen angeboten aber auch Synergieeffekte etwa bei der Bewältigung bürokratischer Anforderungen genutzt werden können.

3. Eine ganzheitliche genossenschaftliche Entwicklung eines Stadtteils oder eines Quartiers, das bereits in der Planung beispielsweise nachhaltige genossenschaftlich ausgestaltete Energieversorgungskonzepte über eingetragene Genossenschaften berücksichtigt. Im Mittelpunkt steht stets ein stabiler wirtschaftlicher Pfeiler für das ge samte Quartier, um den langfristigen Fortbestand zu sichern.

Ein aktuelles Beispiel für eine Quartiersentwicklung und einer genossenschaftlichen Nutzung eines Hauses unter dem Motto "Wohnen Plus" ist die Lichtenstern Wohnkonzepte am Neckarbogen eG in Heilbronn. In unmittelbarer Nachbarschaft zur aktuellen Bundesgartenschau und inmitten eines neuen Stadtviertels mit rund 3 500 Wohnungen hat die Genossenschaft das "Haus am Floßhafen" gebaut, das ein durchdachtes Wohn-, Betreuungs- und Dienstleistungskonzept für Menschen mit Behinderung und pflegebedürftigen Menschen bietet. Neben Wohnungen für mehr als 20 Menschen mit Behinderung gehört eine Tagesbetreuung mit 15 Plätzen sowie ein Café und ein Waschsalon zum Konzept, in denen die Menschen mit Handicap auch arbeiten können.

Aus dem demokratischen Prinzip einer Genossenschaft "ein Mitglied, eine Stimme" ergibt sich für die Bewohner außerdem die Chance, aus dem klassischen Fürsorgeverhältnis auszubrechen und ihre Lebenssituation aktiv mitzugestalten. Für viele Genossenschaftsmitglieder ist es das erste Mal, dass sie tatsächlich mitgestalten können. Dies gilt nicht nur für die Mitglieder der Lichtenstern Wohnkonzepte eG, sondern generell für zahlreiche Bürgerinnen und Bürger, die Teilhaber eines genossenschaftlichen Unternehmens sind, das in der modernen Daseinsvorsorge tätig ist.

Dr. Roman Glaser, Präsident, Vorsitzender des Vorstands, Baden-Württembergischer Genossenschaftsverband e. V., Stuttgart
Dr. Roman Glaser , Präsident, Vorsitzender des Vorstands, Baden-Württembergischer Genossenschaftsverband e. V., Stuttgart
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