BANKING

Bonität im Grenzbereich: Geschäft ermöglichen, Risiko minimieren

Trennscharfe Analysen dank künstlicher Intelligenz

Melanie Zeigner, Foto: Dennis Möbus Fotografie

Gewerbliche Kunden mit guter Bonität haben keinerlei Probleme, Geschäftspartnerschaften einzugehen. Juristische Personen mit schlechter Bonität haben dagegen keine Chance. Aber was ist mit dem breiten Mittelfeld, das zwar keine Traumzahlen vorweisen kann, aber bei Weitem nicht zahlungsunfähig ist? Dank moderner Technik ist es leichter geworden, das Ausfallrisiko dieser Unternehmen individuell zu beurteilen. Die Autoren stellen ein auf künstlicher Intelligenz basierendes Verfahren vor, um risikoarme Antragssteller herauszufiltern. (Red.)

Das Neukundengeschäft im Business-to-Business-(B2B)-Umfeld scheint auf den ersten Blick recht einfach zu sein: Auf der einen Seite stehen Kunden mit guter Bonität. Das Risiko, dass sie Forderungen nicht begleichen, ist äußerst gering. Deshalb sind sie für viele Unternehmen gerngesehene Geschäftspartner. Auf der anderen Seite befinden sich Unter nehmen mit mangelhafter oder ungenügender Bonität. Sie haben angemahnte Forderungen, Zahlungsausfälle oder mussten bereits einen Insolvenzantrag stellen. Das Risiko eines Forderungsausfalls ist entsprechend hoch. Viele Firmen lehnen diese Klientel als Geschäftspartner daher grundsätzlich ab.

Es gibt jedoch nicht nur schwarz und weiß, sondern auch den Graubereich dazwischen: Unternehmen, deren Bonität keine weichen oder gar harten Risikomerkmale aufweist, die aber auch nicht über eine Top-Bonität mit einer Ausfallwahrscheinlichkeit im Promillebereich verfügen. Diese sorgen dafür, dass es eben nicht so einfach ist und stellen Firmen oft vor die schwierige Entscheidung, wo genau sie ihre Toleranzgrenze setzen sollten: Möchte man ein Unternehmen als Kunden gewinnen und das damit verbundene Umsatzpotenzial heben? Oder soll man es besser ablehnen, um das Ausfallrisiko im Kundenstamm zu minimieren? Viele Unternehmen entscheiden sich im Zweifel eher dafür, auf mögliche Neukunden aus dem Graubereich zu verzichten.

Corona macht risikoavers

Unter Pandemiebedingungen geschieht dies derzeit sogar noch häufiger als zuvor: Gerade in wirtschaftlich unsicheren Situationen sind viele Unternehmen nicht dazu bereit, Risiken einzugehen. Natürlich ist es möglich, jeden Einzelfall manuell zu prüfen und individuell zu bewerten. Das verursacht aber immensen Aufwand und hohe Kosten. Automatisierte Prozesse hingegen erfordern eine klar definierte Risikostrategie. Deshalb fällt im Zweifel die Entscheidung oft gegen die Geschäftsbeziehung zum Neukunden aus.

Eine solche grundsätzliche Ablehnung ist jedoch nicht notwendig. Denn dank moderner Lösungen aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) ist es inzwischen durchaus möglich, Geschäftspartner mit nominell schwacher Bonität genauer zu bewerten. Dadurch lässt sich zumindest ein Teil von ihnen als potenzielle Neukunden identifizieren. Ein Beispiel für solch eine Lösung ist der Entscheidungsoptimierer (Decision Optimizer). Die Schufa Holding AG hat ihn auf Basis eines speziellen Verfahrens der KI entwickelt. Ziel ist es, risikoarme Antragssteller aus der Gruppe mit schwächerer Bonität herauszufiltern und in diesem Graubereich doch noch Geschäft zu ermöglichen.

Von der Ablehnung zum potenziellen Neukunden

Der Decision Optimizer wurde zunächst für das Geschäft mit Privatkunden entwickelt. Das dort angewandte Verfahren kann aber prinzipiell auch auf das Firmenkundengeschäft übertragen werden, um mögliche Neukunden zu identifizieren. Darin schlummert ein beachtliches Potenzial. Datentests - unter anderem mit Unternehmen aus der Leasing-Branche - kamen zu ähnlichen Ergebnissen: Rund 15 Prozent der Betriebe, die nach erster Prüfung eine eher schlechte Bonität aufwiesen und daher wahrscheinlich abgelehnt worden wären, entpuppten sich nach Anwendung des Decision Optimizers als potenziell attraktive Neukunden.

Für Unternehmen ergeben sich daraus gleich mehrere Vorteile: Zum einen bietet ihnen der Decision Optimizer die Möglichkeit, ihr maximales Umsatzpotenzial besser auszunutzen. Sie können ihre Annahmequote im Neukundengeschäft steigern, ohne dass sich dabei das Ausfallrisiko nennenswert erhöht. Außerdem können Firmen mit einer eher konservativen Annahmestrategie aufwendige manuelle Prüfungen im Neukundengeschäft automatisieren.

Schufa-Bonitätsindex

Doch wie genau funktioniert der Decision Optimizer? Um das zu verstehen, lohnt zunächst ein Blick auf das Modellierungsverfahren, mit dem die Schufa die Bonität von Unternehmen ermittelt und darstellt, den sogenannten Bonitätsindex. Dieser errechnet sich auf Grundlage einer Vielzahl unterschiedlicher Kriterien. Dazu zählen Daten aus der Unternehmensdatenbank und dem umfassenden Personendatenbestand der Schufa. Hierbei ist unter anderem die Nutzung von Bonitätsinformationen zur ersten Führungsebene des Unternehmens ein wesentlicher Vorteil. Diese ermöglichen eine genauere Beurteilung der Bonität, vor allem bei inhabergeführten Betrieben. Weitere Informationen stammen zum Beispiel aus öffentlichen Registern wie etwa dem Handelsregister oder Schuldnerverzeichnissen.

Auf Grundlage der verschiedenen Informationen errechnet die Schufa zunächst einzelne Segmentmodelle, unter anderem für die Stammdaten, die Bilanzinformationen oder die Zahlungserfahrungen der Unternehmen. Für jedes einzelne Segment wird dann die Wahrscheinlichkeit ermittelt, dass das entsprechende Unternehmen in Zahlungsschwierigkeiten gerät. Dafür wird das mathematische Verfahren der schrittweisen logistischen Regression genutzt. Die einzelnen Ergebnisse werden in einem Baukastenprinzip zum finalen Bonitätsindex verknüpft (siehe Abbildung 1). Wie genau die einzelnen Segmentscores miteinander verknüpft werden, hängt unter anderem davon ab, welche Daten verfügbar sind, welche Rechtsform eine Firma hat und wie groß diese ist.

Abbildung 1: Modulare Struktur des Schufa Bonitätsindex Quelle: Schufa Holding AG

Besonders trennscharf

Der Bonitätsindex prognostiziert, wie wahrscheinlich es ist, dass es in dem Unternehmen in den kommenden zwölf Monaten zu Zahlungsausfällen kommt - etwa aufgrund einer Insolvenz oder signifikanter Zahlungsstörungen. Die Trennschärfe, also die Fähigkeit, zwischen guten und schlechten Schuldnern zu unterscheiden, ist bei dem Bonitätsindex der Schufa sehr hoch. Sie lag im Jahr 2020, gemessen am Gini-Index, bei rund 69 Prozent für registergeführte Unternehmen und bei rund 60 Prozent für nicht-registergeführte Firmen.

Die Skala des Bonitätsindex reicht von 100 bis 600. Dabei gilt: Je höher der Wert, desto höher das Risiko, dass das Unternehmen seinen Forderungen nicht nachkommt. Bei einer ausgezeichneten Bonität zwischen 100 und 150 liegt die Ausfallwahrscheinlichkeit im Schnitt bei gerade einmal einem Promille (Abbildung 2). Mit ansteigendem Indexwert erhöht sich auch die Ausfallwahrscheinlichkeit. Betriebe mit einer mangelhaften (ab 500) beziehungsweise ungenügenden (600) Bonität weisen entweder weiche oder sogar harte Negativmerkmale auf, zum Beispiel Kreditausfälle oder Insolvenzinformationen. Aufgrund dieser Tatsachen kommen sie für die meisten Unternehmen grundsätzlich nicht als Geschäftspartner infrage.

Abbildung 2: Bonitätsindex - Ausfallwahrscheinlichkeiten Quelle: Schufa Holding AG

Neukundenpotenzial

Zurück zum Decision Optimizer: Dessen Grundidee besteht darin, die Unternehmen zu identifizieren, die noch Neukundenpotenzial besitzen, obwohl sie auf Basis des originären Bonitätsindex eine erhöhte Ausfallwahrscheinlichkeit aufweisen. Für einen Prototypen im B2B-Kontext hat die Schufa den Positivbereich des Bonitätsindex in drei Zonen eingeteilt. Einen "grünen Bereich" von 100 bis 300, einen "gelben Bereich" von 301 bis 350 sowie einen "roten Bereich" von 351 bis 499. Dabei fallen in den grünen Bereich die Unternehmen, die normalerweise ohne weitere Prüfung angenommen werden würden. Der gelbe Bereich umfasst die Grenzfälle, bei denen man sich nicht sicher ist, ob eine Geschäftsbeziehung eingegangen werden sollte. Rot kategorisiert die Unternehmen, die aufgrund ihrer eher schlechten Bonität nicht als Geschäftspartner infrage kommen. Die Toleranzgrenze für den Grenzbereich bei 300 wurde für den Prototypen aufgrund von Erfahrungswerten festgelegt, kann aber auch anders gewählt werden (siehe Abbildung 3).

Der Decision Optimizer dient also als eine Art Lupe, um potenzielle Geschäftspartner im gelben Bereich genauer zu betrachten und die bonitätsstärksten unter ihnen zu identifizieren. Dafür kommt ein Algorithmus aus dem Feld des maschinellen Lernens, ein sogenanntes Gradient-Boosting-Verfahren, zum Einsatz.

Abbildung 3: Prototyp Decision Optimizer Quelle: Schufa Holding AG

Gradient Boosting für erhöhte Trennschärfe

Die Idee hinter diesem Boosting-Verfahren - auf Deutsch "Verstärken" - besteht darin, mehrere einfache Modelle Schritt für Schritt zu einem trennscharfen finalen Modell zu kombinieren, mit dem sich sehr genaue Aussagen treffen lassen. Bei den einfachen Modellen handelt es sich um binäre Entscheidungsbäume. Diese haben den Vorteil, dass sie auch komplexe beziehungsweise nicht-lineare Zusammenhänge abbilden können. Jeder Entscheidungsbaum ist so einfach gehalten, dass er für sich betrachtet nur eine geringe Trennschärfe aufweist. Hierdurch ist es dem Algorithmus möglich, sich in jeder Iteration zu verbessern, indem er den Fällen mehr Beachtung schenkt, für die die Prognose des vorherigen Durchlaufs besonders stark vom eingetroffenen Ergebnis abgewichen ist.

Der hier verwendete extreme Gradient-Boosting-Algorithmus ist eine besonders effiziente Version des Gradient Boosting, der sich aufgrund seiner hohen Prognosegüte im datenwissenschaftlichen Umfeld hoher Beliebtheit erfreut. Für den Decision Optimizer bedeutet dies, dass durch das Gradient-Boosting-Verfahren - mit seiner hohen Trennschärfe und seiner Fähigkeit zur Erkennung nicht-linearer Muster - Kunden im Grenzbereich feiner unterteilt werden können, als dies einem linearen Verfahren möglich ist. Dadurch können potenzielle Neukunden zuverlässiger identifiziert werden.

Exkurs zur künstlichen Intelligenz

Künstliche Intelligenz kann eingesetzt werden, um große Datenmengen in Echtzeit zu analysieren - ein großer Vorteil in einer digitalisierten Welt. Die Erklärbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Verfahren spielen dabei eine zentrale Rolle. Beim Einsatz von KI setzt die Schufa auf das Prinzip "Mensch und Maschine": Moderne Verfahren des maschinellen Lernens werden immer in Kombination mit menschlichem Expertenwissen angewandt. Entscheidungen, die von der Maschine als unsicher bewertet werden, überprüfen Expertinnen und Experten nochmals und korrigieren diese gegebenenfalls. Dies ermöglicht es, die Verfahren kontinuierlich zu optimieren.

Das selbstständige Lernen des Systems beschränkt sich auf die menschlich überwachte Trainingsphase des Algorithmus. Durch regelmäßiges Trainieren der Systeme sowie ein kontinuierliches Monitoring durch Expertinnen und Experten wird sichergestellt, dass mit dem Einsatz von KI präzise Ergebnisse erzielt werden. Gleichzeitig wird so ausgeschlossen, dass es zu einem Kontrollverlust kommt.

Großes Potenzial

Anhand des Prototyps hat die Schufa mit dem Decision Optimizer bereits erfolgreich mehrere Datentests durchgeführt, unter anderem auch im Leasing-Umfeld. Die Stichproben umfassten dabei Unternehmensdatensätze, welche zuvor bereits mit dem Bonitätsindex bewertet wurden. Für die Datentests wurden diejenigen Unternehmen mit einem Bonitätsindex über 300, also oberhalb der möglichen Toleranzgrenze, vom Decision Optimizer nochmals genauer unter die Lupe genommen.

Das Ergebnis zeigt: Im Schnitt wanderten 15 Prozent der betrachteten Unternehmen über der Toleranzgrenze in den Annahmebereich und wurden vom Modell somit nun als kredit- und geschäftswürdig identifiziert.

Die Vorhersagen des Decision Optimizers erwiesen sich dabei auch im Nachhinein als äußerst zuverlässig. Während die Gesamtausfallrate der betrachteten Unternehmen etwa bei zehn Prozent lag, wiesen die vom Decision Optimizer identifizierten Kunden im Schnitt nur sehr wenige Ausfälle auf. Die Ausfallrate lag für diese Untergruppe mit circa ein bis zwei Prozent in einem sehr niedrigen einstelligen Bereich und damit auf dem Niveau des grünen Annahmebereichs. Diese Differenz unterstreicht das Potenzial des Decision Optimizers auf sehr eindrucksvolle Weise.

Besser als der Bonitätsindex?

Man mag sich jetzt vielleicht die Frage stellen: Wenn der Decision Optimizer so gute Ergebnisse liefert - wofür braucht man dann noch den Bonitätsindex? Die Antwort: Der Decision Optimizer steht nicht in Konkurrenz zum klassischen Bonitätsindex. Vielmehr baut er auf dessen Ergebnisse auf und ergänzt sie um eine zusätzliche Perspektive. Der Bonitätsindex erreicht bereits eine hohe Differenzierung und stellt eine zwingende Voraussetzung dar, um den Decision Optimizer überhaupt anwenden zu können. Dabei dient der Decision Optimizer als Lupe, die einen besonders gründlichen Blick auf Neukunden im Grenzbereich erlaubt und die zeigt, welche Kunden aus dieser Zone doch noch über die Toleranzgrenze in den "grünen Bereich" wandern könnten.

Der Decision Optimizer ist als zusätzliches Element innerhalb der Schufa-Wirtschaftsauskünfte komfortabel ohne separate Anbindungsprogrammierungen beziehbar. Auf diese Weise können eine Vielzahl weiterer individueller Komponenten wie zum Beispiel individualisierte Scores, andere Klasseneinteilungen sowie die Ausgabe weiterer Texte oder zusätzlicher Indizes bezogen werden. So wird Unternehmen die Möglichkeit eröffnet, ihre Bonitätsbewertung weiter zu individualisieren und den Bedürfnissen der eigenen Branche und den Besonderheiten des Kundenstamms anzupassen. Dank höherer Trennschärfe werden also noch mehr Geschäftsabschlüsse ermöglicht, sowohl von Unternehmen als auch von Kunden.

Melanie Zeigner , Senior Account Managerin Leasing, Schufa Holding AG
Gideon May , Senior Analyst Consultant Intelligent Solutions, Schufa Holding AG

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