Neue Vorgaben zum Risikotragfähigkeitskonzept

Risikotragfähigkeitsrechnung, Kapitalplanung und Stresstests

Michael Somma Quelle: BFach

Der interne Prozess zur Sicherstellung der Risikotragfähigkeit ist wesentliches Element der Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk). Zur aufsichtlichen Beurteilung interner Risikotragfähigkeitskonzepte hat die BaFin 2011 einen Leitfaden veröffentlicht. Aufgrund europäischer Entwicklungen hat sie im Herbst 2017 einen Entwurf für eine Neufassung ihres Leitfadens vorgestellt, im Rahmen des MaRisk-Fachgremiums mit Verbänden, Kreditinstituten und Wirtschaftsprüfern diskutiert und am 24. Mai 2018 final veröffentlicht. (Red.)

Obwohl in den vergangenen Jahren zahlreiche neue bankaufsichtliche Anforderungen, wie zuletzt die Finalisierung von Basel III1 , auf den Weg gebracht worden sind, haben die Bankenaufseher an dem zugrunde liegenden Drei-Säulen-Modell festgehalten. Das bereits mit Basel II eingeführte Modell beruht auf quantitativen Eigenmittelanforderungen (Säule I), qualitativen Risikomanagementvorgaben (Säule II) und Offenlegungsvorschriften (Säule III). Die qualitativen Vorgaben der Säule II hat der Gesetzgeber in Deutschland im Wesentlichen mit § 25a Absatz 1 Kreditwesengesetz (KWG) umgesetzt. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) konkretisiert diese gesetzlichen Vorgaben mit den Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk).2

Bisherige Ansätze zur Risikotragfähigkeit

Ein wesentliches Element der Säule II und damit der MaRisk ist der interne Prozess zur Sicherstellung der Risikotragfähigkeit ("Internal Capital Adequacy Assessment Process", ICAAP).3 Der ICAAP knüpft hierzulande grundsätzlich an die Methoden und Verfahren nach Wahl der Institute an. Die deutsche Aufsicht begrenzt die Methodenfreiheit lediglich dort, wo aus ihrer Sicht die internen Verfahren die Risikotragfähigkeit nicht hinreichend sicherstellen. Um ihre Maßstäbe zur Beurteilung von Risikotragfähigkeitskonzepten transparent zu machen, hat die BaFin im Jahr 2011 einen Leitfaden zur aufsichtlichen Beurteilung bankinterner Risikotragfähigkeitskonzepte veröffentlicht.4

In Deutschland haben sich bislang vor allem zwei Ansätze für die Risikotragfähigkeitsrechnung durchgesetzt. Der Fortführungsansatz (Going-Concern-Ansatz) und der Liquidationsansatz (Gone-Concern-Ansatz). Ersterer stellt auf eine GuV-orientierte beziehungsweise bilanz orientierte Ableitung des Risikodeckungspotenzials ab. Der Going-Concern-Ansatz unterstellt denk logisch eine Fortführung des Instituts unter Einhaltung der Mindesteigenmittelanforderungen der Säule I. Die für Säule I vorzuhaltenden Eigenmittel stehen im Fortführungsansatz also nicht als Risikodeckungspotenzial zur Verfügung.

Beim Liquidationsansatz (Gone-Concern-Ansatz) erfolgt die Ableitung des Risikodeckungspotenzials barwertig beziehungsweise wertorientiert. Denklogisch geht der Gone-Concern-Ansatz von einer fiktiven Liquidation des Instituts aus. Die Eigenmittel können daher im Liquidationsansatz in voller Höhe als Risikodeckungspotenzial angesetzt werden.

Aktueller Handlungsbedarf

Nach Einführung des einheitlichen europäischen Aufsichtsmechanismus ("Single Supervisory Mechanism", SSM) im Jahr 2014 hat die Europäische Zentralbank (EZB) eigene Beurteilungsmaßstäbe für den ICAAP erarbeitet und ihre Erwartungen an die Risikotragfähigkeitskonzepte bedeutender Institute ("Sig nificant Institutions", SI 5 ) bereits veröffentlicht. Darüber hinaus entwickelt die EZB derzeit entsprechende Erwartungen an Risikotragfähigkeitskonzepte bei weniger bedeutenden Instituten ("Less Significant Institutions", LSI 6 ).

Die Europäische Bankenaufsicht (EBA) hat außerdem mit den Leitlinien zum aufsichtlichen Überprüfungs- und Bewertungsprozess ("Supervisory Review and Evaluation Process", SREP) eine signifikante Änderung in der deutschen Aufsichtspraxis herbeigeführt: Seit 2016 ist die BaFin gehalten, im Rahmen des SREP für jedes Institut einen individuellen Kapitalzuschlag festzusetzen. Da der SREP-Kapitalzuschlag eine Säule-I-Anforderung darstellt, reduziert dieser zusätzlich das Risikodeckungspotenzial im besonders bei kleineren Instituten weit verbreiteten Going-Concern-Ansatz.

Neuausrichtung der Risikotragfähigkeit

Die BaFin hat die Entwicklungen auf europäischer Ebene zum Anlass genommen, ihre Beurteilungskriterien zum ICAAP an die Vorgaben des SSM anzupassen. Vor diesem Hintergrund hat die deutsche Aufsicht im Herbst 2017 den Entwurf für eine Neufassung ihres Leitfadens zur aufsichtlichen Beurteilung bankinterner Risikotragfähigkeitskonzepte vorgelegt, diesen im Rahmen des MaRisk-Fachgremiums mit Verbänden, Kreditinstituten und Wirtschaftsprüfern diskutiert und am 24. Mai 2018 in finaler Fassung veröffentlicht.

Da beim ICAAP Gebrauch und Abgrenzung der Begrifflichkeiten auf nationaler und internationaler Ebene nicht immer eindeutig waren, stellt der neue Leitfaden die Terminologie eingangs explizit klar (siehe Abbildung):

- Der Begriff ICAAP ist inhaltsgleich mit dem internen Prozess zur Sicherstellung der Risikotragfähigkeit.

- Der interne Prozess zur Sicherstellung der Risikotragfähigkeit umfasst ein Risikotragfähigkeitskonzept, welches sich aus drei Komponenten zusammensetzt:

- eine Risikotragfähigkeitsrechnung,

- eine Kapitalplanung sowie

- ergänzende Stresstests.

Das Risikotragfähigkeitskonzept ist prozessual mit der Festlegung der Strategien sowie der Risikosteuerungs- und -controllingprozesse zu verknüpfen.

Ökonomische Perspektive

Die Risikotragfähigkeitsrechnung ist die ökonomische Perspektive des bankinternen Risikotragfähigkeitskonzepts. Ausgangspunkt sind die internen Methoden des Instituts, wobei der Leitfaden drei Umsetzungsmöglichkeiten anführt:

- eine barwertige Rechnung,

- eine barwertnahe Rechnung oder

- eine "Säule I+" Rechnung.

Letztere soll ausschließlich sehr kleinen und wenig komplexen Instituten zur Verfügung stehen, so dass für die überwiegende Mehrheit der LSI-Banken eine barwertnahe Risikotragfähigkeitsrechnung infrage kommt. Das Risikodeckungspotenzial ist unabhängig von Bilanzierungskonventionen abzuleiten. Die Aufsicht erwartet dabei insbesondere eine Berücksichtigung stiller Lasten und Reserven. In der ökonomischen Perspektive können Institute ihr Risikodeckungspotenzial in voller Höhe ansetzen.

Die Risikoquantifizierung ist über einen einheitlichen Risikobetrachtungshorizont vorzunehmen, welcher grundsätzlich rollierend sein und ein Jahr betragen soll. Risiken sind dabei konservativ zu bewerten, wobei die Aufsicht in etwa ein Konfidenzniveau von 99,9 Prozent erwartet. Bei der Risikoquantifizierung sind grundsätzlich erwartete und unerwartete Verluste zu berücksichtigen.

Normative Perspektive

Die Kapitalplanung ist die normative Perspektive des bankinternen Risikotragfähigkeitskonzepts. Ausgangspunkt sind die regulatorischen und aufsichtlichen Kennzahlen samt deren Berechnungslogik. Die Risikomessung erfolgt grundsätzlich auf Basis der Methoden der CRR ("Capital Requirements Regulation") und wird gegebenenfalls dort durch interne Verfahren ergänzt, wo aufsichtliche Methoden fehlen.

Als Risikodeckungspotenzial sind die regulatorischen Eigenmittel sowie aufsichtsseitig anerkannte Kapitalbestandteile7 ansetzbar. Darüber hinaus dürfen Planergebnisse späterer Perioden unter Berücksichtigung des Vorsichtsprinzips angerechnet werden. Die Kapitalplanung erstreckt sich über einen Zeitraum von mindestens drei Jahren und soll mindestens jährlich fortgeschrieben werden. Dabei sind ein Planszenario und ein adverses Szenario zu betrachten. Im Planszenario müssen alle regulatorischen Anforderungen eingehalten werden. 8

Im adversen Szenario sollen die Eigenmittelzielkennziffer und gegebenenfalls die Kapitalpufferanforderung unterschritten werden dürfen. In diesem Fall erwartet die Aufsicht jedoch Handlungsoptionen zur Wiedereinhaltung aller regulatorischen Anforderungen. Institute dürfen hierbei auf die Handlungsoptionen ihres Sanierungsplans zurückgreifen. Darüber hinaus dürfen sich Institute dafür entscheiden, das MaRisk-Szenario eines schweren konjunkturellen Abschwungs auch als adverses Szenario im Rahmen der Kapitalplanung zu verwenden.9

Die Aufsicht stellt letztlich klar, dass die im Leitfaden beschriebene normative Kapitalplanung alle in den MaRisk niedergelegten Anforderungen an die Kapitalplanung erfüllt. Mit anderen Worten: Die normative Kapitalplanung entspricht der MaRisk-Kapitalplanung.

Stresstests und Steuerung

Stresstests ergänzen die ökonomische und die normative Perspektive im neuen Risikotragfähigkeitskonzept. Dabei entsprechen die Stresstests im Großen und Ganzen dem nach MaRisk durchzuführenden Stresstestprogramm. Dementsprechend kurz gehalten sind die Ausführungen dazu im Leitfaden.

Ebenfalls knapp gehalten sind die Ausführungen zur Steuerung. Die Einbindung der Risikosteuerungs- und -controllingprozesse in die Gesamtbanksteuerung ist ohnehin eine Anforderung der MaRisk. Die Aufsicht erwartet jedoch eine nachvollziehbare Dokumentation, wie normative und ökonomische Perspektive in der Steuerung berücksichtigt werden.

Option für Going-Concern-Ansatz

Die Aufsicht räumt den Instituten bis auf Weiteres die Möglichkeit ein, ihren bisherigen Going-Concern-Ansatz fortzuführen. Die Grundsätze des bisherigen Risikotragfähigkeitsleitfadens zu Going-Concern-Ansätzen werden Anhang zum neuen Leitfaden und gelten fort. Die Kapitel des neuen Leitfadens zu normativer und ökonomischer Perspektive, Stresstests und Steuerung finden in diesem Fall zwar keine Anwendung. Doch was auf den ersten Blick wie eine große Erleichterung anmutet, relativiert sich auf den zweiten Blick.

Denn unterm Strich dürfen Institute die Risikotragfähigkeitsrechnung wahlweise auch weiterhin mit ihrem bisherigen Going-Concern-Ansatz durchführen. Kapitalplanung, Stresstests und Steuerung bleiben in jedem Fall Anforderungen der MaRisk und sind von allen Instituten zu implementieren. Der Preis für die Weiternutzung des Going-Concern-Ansatzes ist der zwingende Abzug aller für Säule I vorzuhaltenden Eigen mittel vom Risikodeckungspotenzial - einschließlich des SREP-Kapitalzuschlags. Vor diesem Hintergrund sollte jede Bank für sich abschätzen, ob eine Umstellung auf die bar wertnahe Risikotragfähigkeitsrechnung auch trotz des höheren Konfidenzniveaus nicht doch lohnenswert sein kann.

Geltungsbereich

Während sich bei den MaRisk nach wie vor die Frage stellt, ob diese nur für LSIs einschlägig sind oder auch für SIs Geltung entfalten, stellt die BaFin im Risikotragfähigkeitsleitfaden ausdrücklich klar, dass dieser nur auf LSIs Anwendung findet. Dazu zählen neben LSIs auch Kreditinstitute mit begrenzter Bankerlaubnis nach dem KWG (Nicht-CRR-Kreditinstitute) sowie Finanzdienstleistungsinstitute wie Leasing- und Factoring-Institute.

Die BaFin stellt in diesem Zusammenhang ausdrücklich klar, dass der Risikotragfähigkeitsleitfaden in erster Linie auf Kreditinstitute zugeschnitten ist. Auf Finanzdienstleistungsinstitute findet er daher nur insoweit Anwendung, wie dies angemessen und sinnvoll ist. Die Aufsicht benennt die normative Perspektive als ein Element, das Finanzdienstleistungsinstitute nicht umzusetzen brauchen. Da die normative Perspektive an die Methoden der Säule I anknüpft und die Säule I ausschließlich von Kreditinstituten eingehalten werden muss, ist die normative Perspektive konsequenterweise auch nur von Kreditinstituten anzuwenden. Folgerichtig hebt die BaFin an dieser Stelle nochmals den Proportionalitätsgrundsatz hervor, welcher grundsätzlich bei allen Anforderungen der Säule II einschließlich des Themas Risikotragfähigkeit zugrunde zu legen ist.

Konvergenz zu europäischen Vorgaben

Der neue Risikotragfähigkeitsleitfaden ist in vielerlei Hinsicht begrüßenswert. Zum einen stellt er eine Konvergenz zu den europäischen Vorgaben her. Zum anderen stellt er klar, dass auch hierzulande Risikotragfähigkeitsrechnung, Kapitalplanung und Stresstests immer schon zum ICAAP gehört haben, was im SSM nicht immer erkannt worden ist.

Auch wenn der neue Leitfaden keine explizite Übergangsfrist nennt, so ist die bis auf Weiteres eingeräumte Weiternutzungsmöglichkeit des Going-Concern-Ansatzes eine implizite Umstellungsfrist. Es ist davon auszugehen, dass diese Option innerhalb des SSM nur einige Jahre aufrecht erhalten werden kann. Das neue Risikotragfähigkeitskonzept hat auch in anderer Hinsicht seinen Charme: In den vergangenen Jahren haben sich zahlreiche Banken im Rahmen von MaRisk- Sonderprüfungen mit der Forderung konfrontiert gesehen, neben dem steuerungsrelevanten Going-Concern- Ansatz noch einen Gone-Concern-Ansatz zu betrachten, oder umgekehrt. Der neue Leitfaden kennt jedoch nur noch eine Art der Risikotragfähigkeitsrechnung, sodass die Diskussion über Doppelrechnungen künftig der Vergangenheit angehören dürfte.

1) Vgl. "Basel III: international regulatory framework for banks", unter: www.bis.org.

2) Vgl. BaFin-Rundschreiben 09/2017 (BA) - "Mindestanforderungen an das Risikomanagement - MaRisk" vom 27. Oktober 2017, abrufbar unter: www.bafin.de

3) § 25a Abs. 1 Satz 3 KWG und AT 4.1 MaRisk.

4) www.bafin.de.

5) SIs werden von der EZB direkt beaufsichtigt.

6) LSIs werden in Deutschland von der BaFin direkt beaufsichtigt, während die EZB eine indirekte Überwachung ausübt, um europaweit vergleichbare Aufsichtsstandards herzustellen.

7) Z. B. § 340f HGB-Reserven.

8) Dazu gehören Eigenmittelanforderung laut CRR, kombinierte Kapitalpufferanforderung, SREP-Kapitalzuschlag sowie Eigenmittelzielkennziffer laut SREP-Bescheid.

9) Vgl. AT 4.3.3 Tz. 3 MaRisk.

DER AUTOR: Michael Somma, Berlin,leitet das Referat für Betriebswirtschaft beim Bankenfachverband e.V. Seit 2006 ist er Mitglied im Fachgremium MaRisk und begleitet in dieser Funktion die Weiterentwicklungen der MaRisk und die Neuausrichtung des Risikotragfähigkeitsleitfadens.E-Mail: michael.somma[at]bfach[dot]de
Michael Somma , Referat für Betriebswirtschaft beim Bankenfachverband e.V

Weitere Artikelbilder

Noch keine Bewertungen vorhanden


X