BANKING

Systemwandel der Banken

Technik überholt festgefahrene Strukturen

Martin Stolberg, Foto: Sopra Steria SE

Die Banken befinden sich mitten in einem grundlegenden Transformationsprozess. Die Digitalisierung und die Anforderungen des 21. Jahrhunderts machen auch vor ihnen keinen Halt. Das klassische Bild von schicken Gebäuden, bewährten Strukturen und makellos gestylten Angestellten ist nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen liegen flexible Arbeitsbedingungen und moderne Lösungen im Trend. Der Autor skizziert verschiedene Zukunftsszenarien und zeigt auf, wie sich der Systemwandel vollziehen kann. (Red.)

Die Banken in Deutschland wollen relevant bleiben - nicht nur für das System, sondern auch für Kunden. Dieses Ziel erfordert radikale Veränderungen. Das traditionelle Bild der Finanzzentren mit Glasfassaden, Menschen in Anzügen und klassisch formatierten Finanzprodukten hat ausgedient. Ein Systemwandel deutet sich an.

Zukunftsszenarien

Die Bank der Zukunft ist entweder Betreiber oder Zulieferer digitaler Plattformen, die Kunden branchenübergreifend bedienen. Orte für Finanzdienstleistungen sind vorrangig das Internet oder der Point of Sale. Für ihre Aufgaben benötigen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jeweils zu einem Drittel branchen- und zielgruppenübergreifende Expertise, Plattformdenken und einen ausgeprägten Sinn für die Lebens- und Geschäftssituation ihrer Kunden.

Niemand weiß derzeit, ob und wann das skizzierte Szenario in dieser Radikalität Realität werden wird. Es kann auch anders kommen. Möglich ist beispielsweise das Szenario "Survival of the Fittest": Hier schrumpft die Zahl der Institute auf ein gesundes Maß, die Produkte und die Abläufe werden - wie es so schön heißt - optimiert und die Technik erneuert. Vor dem Fall Neckermann dachte man im katalogbasierten Versandhandel ähnlich. Bis es anders kam.

Mit ansteigender Wahrscheinlichkeit wird es zu einem massiven Systemwandel kommen. Darauf deuten unter anderem die jüngsten Kooperationen von Banken und Sparkassen mit großen Technologiefirmen aus den USA hin. Die Institute orientieren sich bei der Digitalisierung um: von der schrittweisen Verbesserung bestehender Abläufe und Produkte hin zur Neuausrichtung ihres Geschäftsmodells.

Wie schnell dieser Wandel vollzogen sein wird, hängt von den internen Gravitationskräften in den Banken und vom Druck von außen ab. Das bislang vorherrschende Transformationsparadigma "Bank der zwei Geschwindigkeiten" ist in Bankerkreisen zumindest nicht mehr unantastbar. Zu unterschiedlich scheinen die Modelle einer stabilen sowie das einer innovativen Bank zu sein, als dass sie sich in ein und derselben Organisation parallel steuern lassen. Das Kundenerlebnisorientierte Frontend macht üblicherweise mit hoher Umdrehungszahl Innovationen für Kunden, Vertriebspartner und Bankberater erlebbar. Im Gegenzug erlauben sich die Banken im Backend, funktionierende, sichere und auditierte Prozesse nicht ohne Not in Frage zu stellen.

Kannibalismus im Bankensektor

Die Alternative, die mittlerweile in der Branche zumindest gedacht wird, ist radikaler, aber eben auch konsequenter: Banken gründen eine eigene zweite Bank und fordern sich selbst heraus. Bank eins fährt weiterhin die Strategie der operativen Effizienz, der stabilen Erträge und des Vermeidens von Fehlern. Sie spart Kosten, verbessert und digitalisiert bewährte Prozesse und nimmt kosmetische und mitarbeiterverträgliche Veränderungen bei der IT und der Organisation vor.

Bank zwei gründet sich neu auf der grünen Wiese und hat alle Freiheiten einer Neobank ohne technischen und organisatorischen Ballast. Fehler machen ist erlaubt, wenn nicht sogar erwünscht, um schnell zu lernen. Die Maßstäbe, die bei Bank eins herrschen (beispielsweise kurzfristige Gewinne vorweisen und Kosten minimieren), spielen bei Bank zwei eine geringere Rolle. Wichtig ist Kundenwachstum. Und das erzielen herausfordernde Banken durch konsequente Kundenzentrierung, den Blick über die Finanzprodukte hinaus und digitale Exzellenz. Statt ständig darauf zu schauen, einen Tick besser zu sein als die Wettbewerber, sucht sich Bank zwei die passenden Partner, um tolle Leistungen für Kunden zu entwickeln. Partner können Fintechs, Bigtechs, Wettbewerber von Bank eins oder komplett branchenferne Unternehmen sein, beispielsweise Automobilhersteller oder Onlinehändler.

Der Vorteil des radikalen Wegs: Beide Organisationen bremsen sich nicht gegenseitig aus. Jede kann ihre Stärken voll ausspielen. Die Angreiferbank kann sich auf den Aufbau einer digitalen Plattform fokussieren oder sich mit exzellenten digitalen Zulieferprodukten bei bestehenden Plattformen unentbehrlich machen. Bank eins überfordert ihr eingespieltes Personal nicht mit komplett neuen Denk- und Arbeitsweisen. Somit wird auch kein unnötiger Sand ins Geschäftsgetriebe gebracht. Und: Es gibt keine Reibungsverluste bei der Integration.

Ein Hauch von Systemwandel

In der Bankenlandschaft gibt es verhaltene Entwicklungen in Richtung Systemwandel - wenn auch weniger radikal als skizziert. Volks- und Raiffeisenbanken (VR-Banken) arbeiten beispielsweise an einer leicht abgewandelten Variante: Ihr IT-Dienstleister übernimmt die Rolle eines Digitalisierungspartners, der den angeschlossenen Instituten die Positionierung als Plattformbank ebnet. Ziel der Genossenschaftsbanken ist, regionale digitale Ökosysteme zu entwickeln. Dort sollen Kunden beispielsweise passend zu einer Baufinanzierung gleich die notwendigen Handwerkerleistungen erhalten. Die Handwerker sind im Ideal fall Firmenkunden einer VR-Bank. Die Bank bringt so Angebot und Nachfrage zusammen. Sie fährt also eine ähnliche Marktplatzstrategie wie namhafte große Online-Versandhändler, nur regional.

Andere Banken reformieren ihr Geschäft dagegen lieber durch strategische Partnerschaften. Die ING wollte keine Bank zwei gründen, sondern kaufte stattdessen die Kreditplattform Lendico. Durch diese gekaufte Plattformexpertise konnte das Institut zuletzt Amazon als Partner gewinnen. Der Plattformprimus bietet seinen angeschlossenen Händlern in Deutschland ING-Finanzierungen an. In den USA macht das Goldman Sachs. Sowohl ING als auch Goldman positionieren sich hier als Zulieferer, die mit exzellenten Produkten an lukrative Ökosysteme andocken.

Die Sparkassen-Finanzgruppe bietet ihren Mitgliedern durch Beteiligung an der Plattform Finmas und deren digitalen Finanzmarktplätzen effizientere Vertriebsprozesse und den Zugang zu neuem Geschäft. Eigene Plattformambitionen verfolgt der Sparkassensektor zudem mit dem Identitätsdienst Yes. Dieser Online-Generalschlüssel öffnet Kunden die Tür zum Online-Banking, künftig aber auch zu weiteren Internetdienstleistungen. Zum Beispiel für den Online-Behördengang: Die E-Government-Plattform Cit Intelliform unterstützt Yes. Sparkassenkunden können sich somit bei Ämtern im Internet ausweisen. Das Modell ist durchaus dazu geeignet, dass Sparkassen sich hier ihr eigenes Ökosystem aufbauen. Voraussetzung ist, dass die Institute weitere Mehrwerte in Form zusätzlicher Partner und extra Leistungen für Kunden schaffen.

Radikaler Umbau erforderlich

Damit ein umfassender Systemwandel hin zu einer Plattformbank gelingt, müssen Banken und Sparkassen einige Hebel in Bewegung setzen. Geschäftsmodell und Mindset müssen erweitert werden - weg vom in sich geschlossenen Finanzkosmos hin zum Ökosystem mit den Kunden in der Mitte. Schließlich handelt es sich bei den Finanzdienstleistern um zweckorientierte Institutionen und nicht um produktgetriebene Banken (Dr. Peter Bosek, Köpfe der digitalen Finanzwelt, 2020).

Das erfordert ein Umdenken in den Köpfen und Veränderungen bei den Profilen der Bankangestellten sowie ihrer Partner. Entscheider und Beschäftigte müssen sich einen Blick über den Tellerrand aneignen und digitale Kompetenz aufbauen. Eine Bankberaterin der Zukunft, die mittelständische Industrieunternehmer im Portfolio hat, muss mit Kunden auf Augenhöhe über die Automatisierung von Finanzströmen in smarten Internetder-Dinge-Fabriken sprechen können. Im Idealfall gibt ihr die Bank für Firmenkunden passende Leistungsmodule an die Hand, um sowohl Forderungen wie auch Verbindlichkeiten an deren Kunden tatsächlich sofort begleichen zu können. Im Hintergrund optimiert die Bank das Liquiditätsmanagement ihrer Kunden. Die Technologie hilft bei der Vertrauensbildung, indem sie Transparenz über die potenziellen Partner schafft. Das Finanzinstitut der Zukunft entwickelt digitale Leistungen mit dem Top-Fintech auf diesem Gebiet, mit einem großen Technologieunternehmen oder im Rahmen eines Konsortiums, an dem potenziell auch Wettbewerber beteiligt sind. Entscheidend ist das Ergebnis für den Kunden.

Mögliche Plattformabzweigungen

In den Chefetagen der Banken geht es nun darum, die richtige Strategie für die Zukunft des eigenen Instituts zu finden. Dabei läuft das Spektrum an Möglichkeiten auf drei grobe Richtungen hinaus:

- Große Banken haben am ehesten das Potenzial, sich zeitgleich zum bisherigen Geschäft eine neue Parallelbank heranzuziehen, die Teile des klassischen Geschäfts kannibalisiert. Unklar ist, ob bei den Instituten in Deutschland Zeit und Kapital reichen, um am Ziel anzukommen.

- Für mittelgroße Banken und Sparkassen liegt der Fokus wahrscheinlich auf einem im Kern gesunden Geschäft, das sukzessive digitalisiert und modernisiert wird. Diesen Weg in die profitable Nische müssen allerdings Eigentümer und Mitarbeiter mittragen.

- Für kleinere Häuser wie Privatbanken ist das naheliegende Szenario die Teilung der Kosten mit Partnern: gemeinsam genutzte Verkaufsstellen, gemeinsame IT, gemeinsames Personal. Die Differenzierung erreichen sie durch individuelle Kundenbeziehungen sowie durch die Persönlichkeit ihrer Beraterinnen und Berater.

Der gemeinsame Nenner für einen radikalen Umbau in alle drei Richtungen ist die Nutzung technologischer Entwicklungen für strategische Ziele: Produktion und Verfügbarkeit von Daten, vernetzte Dinge und Endgeräte sowie Quantensprünge in der Rechenleistung sind Domänen einer Bank der Zukunft.

Dieser Umbruch wird sich optisch und arbeitsorganisatorisch niederschlagen. Es wird noch weniger Filialen und gläserne Bankentürme geben. Dafür aber mehr digitale Nähe, Remote-Arbeit sowie direkte menschliche Kontakte an flexiblen Orten außerhalb der klassischen Beratungszentren. In der Lockdown-Phase der Coronakrise reduzierte sich die genutzte Bürofläche von Banken um rund 30 Prozent. Neue Modelle funktionieren also. Die Erfahrungen werden in künftige Geschäfts- und Arbeitskonzepte einfließen.

In den heutigen Kerndienstleistungen wie Kontomanagement oder Kreditsachbearbeitung werden weniger Menschen arbeiten. Dafür ist das Automatisierungspotenzial zu groß. Allerdings: So gravierend dieser Rückgang ausfallen wird, so aussichtsreich ist der zusätzliche Bedarf auf den Gebieten Kundenerlebnis, Sicherheitsarchitekturen, Regulatorik und Datenanalysen. In Summe geht es künftig für Banken um die Steuerung von Kundeninteraktionen und Risiken in Echtzeit, vollständig faktenbasierte Entscheidungen durch Künstliche Intelligenz, dezentrale Informations- und Transaktionsmöglichkeiten über Cloud Computing und Distributed-Ledger-Technologie.

Unsichtbarer Nutzen

Exakt an dieser Stelle müssen Banken entscheiden, wie radikal sie Veränderung denken. Viele derzeitige Umbaumaßnahmen könnten konsequenter ausfallen: Sobald sich aktuelle Veränderungen ergeben, stoppen viele Institute ihre langfristigen Transformationsprojekte und verfallen in Aktionismus. Diesem Impuls sollten Entscheider häufiger widerstehen. Das Zeitalter der digitalen Ökosysteme hat bereits begonnen. Die Eintrittskarten für die besten Plätze in der Plattformökonomie sind aber nicht gratis. Wenn Banken es allerdings schaffen, sich aus ihrer aktuellen Komplexität zu befreien und sich freizuschwimmen, sind sie in der Zukunft vielleicht ein Stück weit unsichtbarer im Stadtbild, dafür aber umso nützlicher und relevanter.

MARTIN STOLBERG ist Bankingdirektor bei Sopra Steria SE, München. Er fokussiert sich auf das digitale Enabling von Finanzdienstleistern.
Martin Stolberg , Bankingdirektor bei Sopra Steria SE, München
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