Leitartikel

Ein Jahr nach Lehman

"Das Risiko, mit einer Prognose falsch zu liegen ist ähnlich hoch wie die Unfallgefährdung eines Autofahrers, der mit blinder Frontscheibe nach den Anweisungen eines Beifahrers fährt, der aus dem Rückfenster schaut". So zitiert der frühere Marburger Bankenprofessor Erich Priewasser einen der Vorzeigedenker der Marketingwissenschaft, Philip Kotler, gleich im Vorwort seines Buches "Die Priewasser-Prognose - Bankstrategien und Bankmanagement 2009". Das hat ihn aber keineswegs davon abgehalten, im Jahre 1993 sehr weit, nämlich ganze 16 Jahre, in die Zukunft zu blicken. Dass wir uns nun, im Herbst dieses Jahres mit der Bewältigung einer der schlimmsten Finanz- und auch Bankenkrisen aller Zeiten herumzuschlagen haben, hat Priewasser natürlich nicht vorhersehen können. Und doch finden sich einige nützliche Gedanken in den Einschätzungen der damals befragten Bankenexperten.

Der Zinsüberschuss beispielsweise werde aufgrund der Umschichtung niedrig verzinster Sichteinlagen in höher rentierliche Anlageformen genauso zu leiden haben wie unter einem anhaltenden Preiswettbewerb, heißt es in der Prie-wasser-Prognose. Die Folge sei ein Absinken der Zinsspanne unter linearer Fortschreibung bei den Kreditbanken von 2,2 Prozent im Jahre 1993 auf 1,7 Prozent 2009. Für die Sparkassen ging die Studie im gleichen Zeitraum von einem Rückgang von 2,7 auf 2,4 Prozent, für die Kreditgenossenschaften von 3,0 auf 2,8 Prozent aus. Tatsächlich liegen die Zinsspannen heute bereits nur noch in Ausnahmen deutlich über der Zwei-Prozent-Marke, Tendenz weiter abnehmend. Der Provisionsüberschuss wurde von Priewasser als "zukünftiges Hoffnungsfeld" bezeichnet, nicht zuletzt aufgrund der anzunehmenden steigenden Nachfrage nach Allfinanzprodukten für die private Altersvorsorge. Allerdings mahnte er schon damals die Gefahren rückläufiger Einnahmen aus dem Zahlungsverkehr, der tragenden Säule der Provisionseinnahmen, an. Diese durchaus bekannte Tatsache hat die Institute jedoch keineswegs davon abgehalten, sich mit Rabattaktionen bis hin zu kostenlosen Konten gegenseitig die Margen zu verderben. Allerdings liegt das Verhältnis von Zins- zu Provisionsüberschuss aktuell bei den Sparkassen mit 70 zu 30 Prozent und bei den Genossenschaftsbanken mit 70,5 zu 29,5 Prozent über den in der Studie prognostizierten Werten.

Führungskräfte, so die Studie damals, müssten sich daran gewöhnen, dass die Anforderungen an sie künftig immer nur zunehmen würden, vor allem hinsichtlich der Vielseitigkeit. Von daher sei mehr Selbstkontrolle als Fremdkontrolle anzustreben und eine permanente Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Führungskräften unerlässlich. Hätte man mal auf die Ergebnisse gehört. Dabei ist auch das alles nicht neu: "Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairness, Ritterlichkeit, Maßhalten, Gemeinsinn, Achtung vor der Menschenwürde des anderen, feste sittliche Normen - das alles sind Dinge, die die Menschen bereits mitbringen müssen, wenn sie auf den Markt gehen und sich im Wettbewerb miteinander messen." Diese (zu) hohen Anforderungen an die Moral hat Wilhelm Röpke einst formuliert. Was ist davon heute, im Jahre 2009, noch übrig? Nicht viel offensichtlich, wenn man sich die Gesetzes- und Normenflut anschaut, mit der die Politik versucht, vermeintliche Missstände innerhalb der Kreditwirtschaft - nicht allein der deutschen, aber eben auch der deutschen, die sich nur all zu gerne an amerikanischen Vorbildern orientiert hat - zu bekämpfen.

Da ist zum Einen die anhaltende Diskussion um Managervergütung. Dass Gehälter der Verantwortlichen in "Staatsbanken" gedeckelt werden - es wird die Probleme nicht lösen, aber es wird als allgemeine Geste für die Öffentlichkeit hingenommen. Wenn aber dann zum wiederholten Male Ausnahmen von der Regel bekannt werden, die von politisch Verantwortlichen zugelassen und sogar verteidigt werden, dann kommen Zweifel auf. Warum muss für einen Manager, der einer Reduzierung seiner Bezüge auf das vorgeschriebene Niveau öffentlichkeitswirksam zustimmt, nochmals ein "Überzeugungsgeld" in gleicher Höhe gezahlt werden - vom Staat? Warum bekommt ein Manager für eine Restrukturierung und Neuausrichtung, deren erfolgreiches Ende keineswegs absehbar ist, eine Prämie in Millionenhöhe? Warum wird einem an einer unlösbaren Aufgabe gescheiterten Vorstandsvorsitzenden, der nach nur wenigen Monaten aufgibt und das Unternehmen in die Insolvenz übergibt, der restliche Vertrag millionenschwer ausgezahlt? Warum muss in einem Bundesland die Vorstandsvergütung der ansässigen Landesbank nochmals durch den Landtag, um die gerade gekürzten Bezüge schnellstens wieder zu erhöhen, damit der neue Chef auch wirklich kommt? Weil man für diese Jobs die vermeintlich besten Leute haben will! Und diese kennen ihren Wert, der nicht von Politikern, sondern vom Markt bestimmt wird.

Da ist darüber hinaus das Anziehen der Regulierungsschraube als Antwort auf die Turbulenzen zu beobachten. "Hätte es Basel II schon gegeben, dann wäre das alles nicht passiert", heißt es. Wäre es doch! Vielleicht nicht in dieser Härte und dieser Größenordnung, doch auch die beste Regel ist nicht dagegen gefeit, übertreten oder umgangen zu werden. Der nach Eigennutz und Selbstbereicherung strebende Mensch wird sich seine Möglichkeiten stets suchen. Und gerade im ungeregelten Geschäft lassen sich doch die besten Margen erzielen. Das wissen auch die Aufseher. Man darf nie vergessen, dass die Kreditwirtschaft bereits eine der am stärksten regulierten Branchen ist - und trotzdem sind all die Unglücke der vergangenen Jahre eingetreten. Nein, es braucht kein Mehr an Regeln, aber es braucht für die zuständigen Aufseher ein Mehr an Eingriffsmöglichkeiten, an Mitarbeitern und an Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Das allerdings gestaltet sich schwierig, wenn vor allem die angelsächsischen Kollegen mehr den Wettbewerbsvorteil der einheimischen Häuser denn die Gefahren für das gesamte System im Blick haben.

Auch die Diskussion um neue Eigenkapitalregeln wird keine nachhaltige Veränderung oder gar Verbesserung mit sich bringen. Klar ist: Eine Sparkasse mit reinem Kundengeschäft sollte anders beurteilt werden, als eine am weltweiten Kapitalmarkt aktive Großbank. Bleibt die Höhe der Eigenkapitalunterlegung. Was wäre eigentlich, wenn alle Ausleihungen zu 20, 30 oder gar 50 Prozent abgesichert werden müssten? Natürlich, dann wären einerseits zwar die instituts- und systemgefährdenden Folgen eines Ausfalls deutlich reduziert. Doch es würde damit auch kaum Geschäft mehr gemacht werden, da die Banken all das schöne Geld zur Vorsorge brauchen und nicht mehr für neues Kundengeschäft nutzen könnten. Das will auch keiner. Also wird über eine Verdoppelung der Ratio von vier auf acht Prozent diskutiert. Das mag der statistischen Ausfallwahrscheinlichkeit von rund zehn Prozent zwar nahe kommen, doch gilt das alles nur für "normale" Großwetterlagen. Wenn wie beobachtet ganze Märkte zusammenbrechen, hilft keine Absicherung. Wer hier Veränderungen anstrebt, müsste zunächst dafür sorgen, dass alle Geschäfte über die Bilanz abgewickelt werden und so jederzeit größtmögliche Transparenz über die jeweiligen Risikopositionen herrscht. Aber wer kennt heute schon die spannenden Konstruktionen der kommenden Jahre?

Bleibt das Thema Beratung: Banken und Sparkassen stehen ob ihrer nur allzu umsatz- und absatzorientierten Kundenbetreuung heftig in der Kritik. Verbraucherschützer gehen auf die Barrikaden, der Gesetzgeber reagiert: Seitenlange Beratungsprotokolle sind künftig auszufüllen. Verluste verhindert das genauso wenig, wie das auch stets zu beobachtende große Renditestreben seitens der Anleger. Immerhin kann die Bank nun nachweisen, dass sie es dem Kunden wohl doch gesagt hat, und dieser es offensichtlich im Zorn seiner Kinder nur vergessen hat. Und dann ist da noch der Kunde, der Ende 2007 auf Anraten seines Kundenbetreuers einen niedrigen sechsstelligen Betrag in einen Geldmarktfonds investiert hat. Anfangs war der Postverkehr rege und die Ausschüttungen sprudelten nur so - 100 Euro hier, 200 Euro da. Zu Beginn dieses Jahres wurde es immer ruhiger, bis schließlich gar keine Post mehr von der Bank kam. Als der Kunde sich dann im Spätsommer 2009 endlich mal wieder in der Filiale einfand und nach der Entwicklung fragte, hieß es: "Na, da gibt es wohl nichts auszuschütten! " Ob das hieße, dass da so viel Geld völlig unrentabel für ihn herumliege, fragte der Kunde? Ja, räumte der Berater zähneknirschend ein. Und ob man als guter und langjähriger Kunde denn da nicht mal eine Anruf hätte erwarten dürfen, ja müssen? Auch das, wurde zugegeben. Dieses Beispiel mag natürlich eine Ausnahme sein, doch es nährt die Zweifel, dass die Institute wirklich etwas gelernt haben und den Kunden wieder ernster nehmen.

In besonderem Maße unter Beobachtung stehen auch die Ratingagenturen. Ihnen wirft man vor, mit zu optimistischen Annahmen, undurchsichtigen Bewertungssystemen und mangelndem Wissen, Investoren fehlgeleitet zu haben. All das ist richtig. Die Macht der Ratingagenturen, die seit über hundert Jahren ihrer Aufgabe nachkommen und schon mehr als diese Krise mitgemacht haben, ist zu groß und gehört dringend beschränkt. Dabei spielt natürlich eine Rolle, dass dem externen Rating per Gesetz eine Alleinstellung garantiert wurde, indem es als alleiniges Gütesiegel bankaufsichtsrechtlich ausreicht. Doch keiner hat Investoren gezwungen, allein auf die Bonitätsnoten der Bewerter zu vertrauen. Aber genau das hat man getan. Selbst Emittenten fanden die Agenturen zunächst praktisch, hat die globale Ratingflut doch neue Märkte eröffnet. Hätte ein japanischer Anleger einen deutschen Pfandbrief einer schwedischen Bankentochter in der Bundesrepublik gekauft, ohne Rating? Wohl kaum. Mit einem "AA" hat er es aber getan. Nun sollen die Rater genauer auf die Finger gesehen bekommen - wie schön. Das wird aber nicht verhindern, dass auch künftig mit möglichst homogenen Bewertungsstandards doch sehr heterogene Gruppen eingestuft werden müssen. Das externe Rating sollte daher nur als nützliche Hilfe gesehen werden, stets unterstützt und ergänzt von eigenen Beurteilungen - und bitte von Menschen, nicht von Systemen. Risiko ist nicht (vollständig) rechenbar!

Kann all das Diskutierte dazu beitragen, künftige Übertreibungen oder gar weitere Krisen zu verhindern? Nein, wohl nicht! Haben Banken aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt? Nein, auch das nicht! Das zeigen allein schon die Halbjahresergebnisse der großen Banken dieser Welt. Hier wird am Kapitalmarkt vor allem im Anleihegeschäft schon wieder munter das große Rad gedreht. So schnelllebig ist das Bankerleben. Von nachhaltigen Veränderungen an Geschäftsmodellen ist nichts zu sehen oder spüren. Die Deutsche Bank beispielsweise erzielte per Ende Juni - wie gewohnt möchte man fast sagen - rund zwei Drittel ihrer Erträge "am Markt" in der Abteilung Corporate and Investment Bank.

Wir müssen mit den Banken leben wie sie sind, bessere bekommen wir nicht. Warum auch. Von den Übertreibungen abgesehen funktioniert das Geschäftsmodell schließlich.

Wer das System ändern will, muss die Menschen ändern. Und das geht nur über direkte Verantwortung und direkte Haftung - gleich ob im Kredit- oder Kapitalmarkt geschäft. Doch selbst dann würde sich heute wohl kaum jemand finden, der sich eine "Bankenprognose 2025" zutrauen würde. Schade eigentlich. P. O.

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