Leitartikel

Zahlen sind Schall und Rauch

Die Bilanzsaison für das Geschäftsjahr 2012 ist nahezu beendet, die meisten Institute haben ihr Zahlenwerk mehr oder weniger öffentlich präsentiert, und auch die beiden Verbünde haben bereits ausführlich über die Geschäftsentwicklung ihrer Primärinstitute berichtet. Angesichts der erneut sehr zeitnahen Erstellung der Jahresabschlüsse mussten allerdings auch in diesem Jahr bei einer Bank die vorläufigen, nicht testierten Zahlen nach ihrer Vorstellung angepasst werden. Das Wertaufhellungsprinzip traf dieses Mal die Deutsche Bank, die Mitte März ihre Ende Januar präsentierten Zahlen aufgrund neuer Entwicklungen bezüglich bestimmter Rechtsstreitigkeiten korrigieren musste. Höhere Rückstellungen reduzierten das zuvor bekannt gegebene vorläufige Ergebnis nach Steuern um 0,4 Milliarden Euro auf 0,3 Milliarden Euro. Die DZ Bank hingegen konnte sich freuen: Hatte das genossenschaftliche Zentralinstitut im kürzlich veröffentlichten Geschäftsbericht noch die vollständige Rückzahlung einer im März 2013 fälligen Unternehmensanleihe über 240 Millionen Euro explizit als unsicher dargestellt und deshalb das Wertpapier per Jahresultimo nur mit 60 Millionen Euro bewertet, ist das Geld des vermutlich griechischen Schuldners nun vollständig zurückgeflossen.

Auch in der aktuellen Bilanzsaison kam es vereinzelt wieder vor, dass die wichtigsten Eckdaten bereits vorab bekanntgegeben wurden und somit die eigentliche Bilanzpressekonferenz zum Schaulaufen der Vorstandsmitglieder degradiert wurde. Per Ad-hoc-Mitteilung ließ etwa die Commerzbank bereits am 4. Februar erste Ergebniszahlen verlauten, sodass die Ergebnispräsentation elf Tage später zwar sehr entspannt verlief, allerdings eher den Charme einer langweiligen Folienschlacht erhielt. Ein positiver Nebeneffekt dieser Vorgehensweise für die Bank war sicherlich, dass sich die eventuell angesichts der Zahlen größte Aufregung bis zum 15. Februar gelegt hatte und der Vorstand in ruhigerem Fahrwasser die ihm wichtigen Zahlen präsentieren konnte. Vielleicht verzichtet manch eine Bank gerade aus diesem Grund inzwischen sogar ganz auf eine Bilanzpressekonferenz und macht ihre Zahlen lediglich per Pressemitteilung publik, wie beispielsweise erstmalig geschehen bei der Postbank.

Noch vor gut zehn Jahren wäre so etwas undenkbar gewesen. Bis Ende des letzten Jahrhunderts wurden die Bilanzpressekonferenzen von den größeren deutschen Kreditinstituten geradezu noch zelebriert: Ohne dass vorab Eckdaten bekannt waren, stellte der Gesamtvorstand das Zahlenwerk vor, diskutierte, ja stritt zuweilen mit den anwesenden Journalisten über die entsprechenden Implikationen und die sich daraus ergebenden strategischen Entscheidungen. Ein Grund für diesen skizzierten Paradigmenwechsel ist sicherlich die stark gestiegene Komplexität einer Bankbilanz, insbesondere wenn sie nach International Financial Reporting Standards (IFRS) erstellt wird. Hatten die prinzipienorientierte Kodifizierung durch das HGB sowie die jahrzehntelange höchstrichterliche Rechtsprechung für Kreditinstitute sowohl Rechtssicherheit als auch Rechtsklarheit geschaffen, sind die IFRS eher sachverhaltsorientiert, um möglichst viele und alle erdenklichen Einzelfälle zu erfassen. Dieser Unterschied spiegelt sich alleine schon in Umfang und Fülle der Vorschriften wider.

Da rüber hinaus veröffentlichen nationale und inter nationale Standardsetter Auslegungen zu Rechnungslegungsstandards, falls die Vorschrift unterschiedlich oder falsch interpretiert werden kann respektive neue Sachverhalte in den bisherigen Standards nicht ausreichend gewürdigt wurden. Bereits 2003 warnte deshalb der frühere LRP-Chef und Wirtschaftsprüfer Klaus Adam: "Die Rechnungslegung gerät somit in Gefahr, zu einem Suchen nach der jeweils passenden Regel zu degenerieren."

Aufgrund dieser Komplexität und der nach wie vor vorhandenen Auslegungsmöglichkeiten sind die einstmals hehren Ansprüche an die internationalen Rechnungslegungsstandards längst perdu. Transparenz und Vergleichbarkeit waren die beiden zentralen Vorteile, die man sich Mitte der Neunziger des vergangenen Jahrhunderts von den internationalen Rechnungslegungsvorschriften erhoffte. Wie eine Monstranz trugen die IAS-Verfechter - allen voran Jürgen Krumnow als Vorstand der Deutschen Bank mit Verantwortung für das Ressort Rechnungswesen - diese beiden Schlagworte vor sich her (siehe Kreditwesen 4/1998), und für die damaligen Rahmenbedingungen und Strukturen der entsprechenden Kreditinstitute mag dieser Anspruch durchaus gerechtfertigt gewesen sein. Davon ist allerdings heute in der Praxis nicht mehr viel zu erkennen.

Die mangelnde Vergleichbarkeit beginnt bereits bei der Gliederung von Bilanz sowie Gewinn- und Verlustrechnung. Die Folge: Während man in der Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen noch Ende der neunziger Jahre einen tabellarischen Vergleich der Konzernabschlüsse aller deutschen Großbanken inklusive Veränderungen gegenüber dem Vorjahr finden konnte, wich dieser Vergleich mit der sukzessiven Umstellung der Institute auf die damaligen IAS-Vorschriften immer mehr Einzelanalysen der jeweiligen Häuser. Zugegebenermaßen entfernten sich zu dieser Zeit die geschäftspolitischen Ausrichtungen der Großbanken immer mehr voneinander, sodass ein reiner Zahlenvergleich auch deshalb guten Gewissens nicht mehr möglich war. Aufgrund der vielfältigen Entwicklungen - Portfoliobereinigungen, Restrukturierungsprogramme, Auslagerungen in Abwicklungsbanken, Berücksichtigungen von Sonderentwicklungen, Beachtung südeuropäischer Staatsanleiheportfolios - ist inzwischen aber noch nicht einmal ein intertemporaler Vergleich eines einzigen Instituts ohne größere Klimmzüge mehr möglich, ins besondere wenn sich die Maßnahmen zeitlich überlagern. Die sukzessive Ablösung des ausgedienten IAS 39 "Financial Instruments: Recognition and Measurement" durch den IFRS 9 "Financial Instruments" brachte und bringt in diesem Zusammenhang ebenfalls tief greifende Veränderungen mit sich. Und erst jüngst stellte die EU-Bankenaufsicht EBA fest, dass bei den 20 größten Banken in Europa gut vergleichbare Risiken in den Bilanzen teilweise komplett unterschiedlich bewertet werden.

Bei den nach wie vor nach HGB bilanzierenden Primärinstituten aus dem Genossenschaftsund dem Sparkassenverbund stellt ein umfangreicher Vergleich der Bilanz- und GuV-Daten weiterhin kein Problem dar, und zwar sowohl der Vergleich der Institute untereinander als auch eine intertemporale Gegenüberstellung der Zahlen.

Doch nicht nur auf nationaler Ebene ist eine Vergleichbarkeit inzwischen in weite Ferne gerückt. Auch die seit langer Zeit angestrebte Konvergenz zwischen den beiden Bilanzierungsstandards IFRS und US-GAAP ist vorerst nicht in Sicht, obwohl die beiden Standardsetter IASB und FASB bereits vor über zehn Jahren die Assimilation ihrer Rechnungslegungsstandards vereinbart hatten. Erst Anfang dieses Jahres jedoch hatte der globale Finanzstabilitätsrat in einem Bericht an die G20 eindringlich eine Angleichung der Standards hinsichtlich der Bildung von Risikovorsorge gefordert. In dieser Angelegenheit weichen die Auffassungen dies- und jenseits des Atlantiks jedoch deutlich voneinander ab: Während die FASB-Pläne vorsehen, dass Banken bereits bei Kreditvergabe die während der Laufzeit erforderlich werdende Risikovorsorge in vollem Umfang abschätzen, sollen nach den Vorstellungen des IASB die Institute ihre Risikovorsorge nur auf rollierender Einjahressicht beziffern und verbuchen. Angesichts dieser Abwendung des IASB vom FASB erscheint eine Konvergenz der beiden internationalen Rechnungslegungsstandards in unerreichbare Ferne gerückt.

Insgesamt ist es für den Bilanzleser in den vergangenen Jahren sehr viel schwieriger geworden, die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage eines Kreditinstituts verlässlich zu analysieren und im Vergleich zu anderen Kreditinstituten zu beurteilen. Allen voran die Aufsichtsbehörden sind jedoch daran interessiert, eine verlässliche Analyse und Vergleichbarkeit der Banken sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene zu gewähr leisten. Die EBA denkt deshalb bereits über aufsichtliche Lösungen nach, und auch der Baseler Ausschuss wird sich dieses Themas zukünftig sicher verstärkt annehmen. Für viele andere Adressaten allerdings nimmt die Bedeutung von Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung angesichts der geringen Halbwertszeit von Informationen in den letzten Jahren deutlich ab. Dieser Trend wird sich zukünftig noch sicherlich verstärken: In den USA etwa erlaubt die Börsenaufsicht SEC seit Kurzem, dass Unternehmen ihre kursrelevanten Informationen auch via Twitter oder Facebook veröffentlichen dürfen. Zahlen werden somit immer mehr zu Schall und Rauch - oder eben Tweets.

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