EU und Währungsunion in der Dauerkrise

Dirk Meyer, Europäische Union und Währungsunion in der Dauerkrise: Analysen und Konzepte für einen Neuanfang, Springer Fachmedien, Wiesbaden 2020, 553 Seiten, 27,99 Euro. ISBN 978-3-658-27176-3

Dirk Meyer, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, ist einer der profiliertesten Kritiker der Europäischen Zentralbank (EZB) und einer ihrer intimsten Kenner. Er war 2016 maßgeblich an der Aufdeckung ihres geheimen ANFA-Abkommens (Agreement on Net Financial Assets) beteiligt, und er gehörte 2018 zu den vier Initiatoren des auch in der Corona-Krise aktuellen Manifests "Der Euro darf nicht in die Haftungsunion führen", das von 154 Wirtschaftsprofessoren unterzeichnet worden ist. Das vorliegende, im Springer-Verlag erschienene Buch umfasst 24 Aufsätze, die während der "Euro-Dauerkrise" seit 2010 entstanden sind - alle aktualisiert und aufeinander abgestimmt.

Kritik an nationaler Euro-Geldschöpfung

Wer sich über die ANFA-Transaktionen des Eurosystems informieren will, kommt an Kapitel 12 dieses Buches nicht vorbei. Zu dem Geheimprotokoll scheinen bis zu seiner Veröffentlichung am 5. Februar 2016 nur wenige hochrangige Amtsträger des Eurosystems Zugang gehabt zu haben. Meyer wandte sich im Januar 2016 an die Bundesbank, um gemäß dem Informationsfreiheitsgesetz Einblick in das Dokument zu erhalten. Die EZB kam dem Antrag mit Ablauf der gesetzlichen Antwortfrist nach. Das Abkommen enthält Regeln und Obergrenzen für Wertpapierbestände, die die nationalen Zentralbanken erwerben können. Sie können insoweit auf eigene Initiative und Rechnung zur Euro-Geldschöpfung beitragen. Die EZB kann nur im Nach hinein eingreifen. Ende 2014 betrug das ANFA-Volumen 535,5 Milliarden Euro. Die Zuteilung der ANFA-Obergrenze soll sich grundsätzlich an den Kapitalanteilen der Notenbanken orientieren. Es gibt jedoch zahlreiche Ausnahmen, die bereits zu Abweichungen von fast 700 Prozent des nationalen Kapitalschlüssels geführt haben. Nutzt eine Zentralbank ihre nationale Obergrenze nicht vollständig aus, so stehen die unausgenutzten ANFA-Beträge den anderen Notenbanken zur Verfügung.

Die umfänglichsten ANFA-Nettofinanzanlagen - vermutlich überwiegend Staatsanleihen - besaßen 2015 die Zentralbanken von Italien (135 Milliarden Euro), Frankreich (110 Milliarden Euro), Griechenland (85 Milliarden Euro) und Spanien (79 Milliarden Euro). Über die Hintergründe und die Art der Transaktionen besteht grundsätzlich Intransparenz. Gleichermaßen kritisiert Meyer die anderen Formen nationaler Euro-Geldschöpfung, insbesondere die Notfall-Liquiditätshilfe (Emergency Liquidity Assistance, kurz ELA). Am Beispiel ausgewählter Krisensituationen (Griechenland, Zypern, Irland) belegt Meyer, "dass der EZB-Rat seine Kontrollfunktion nicht wahrgenommen hat und teilweise wissentlich gegen den AEUV, die EZB-Satzung sowie interne, selbst gesetzte Vorgaben verstoßen hat".

Ein weiterer Schwerpunkt des Buches ist die Parallelwährungslösung für abwertungsbedürftige Krisenländer. Auch juristisch ambitioniert analysiert Meyer detailliert die Möglichkeiten und Schwierigkeiten dieses Auswegs. Der Euro würde gesetzliches Zahlungsmittel bleiben, aber die nach nationalem Recht abgeschlossenen Verträge würden auf die nationale Parallelwährung umgestellt und diese würde abgewertet, um der Wirtschaft ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederzugeben.

Fundgrube für Kritiker der Europäischen Zentralbank

Andere Kapitel sind den Problemen des italienischen Bankensystems, den Schuldenerleichterungen für Griechenland, und der Möglichkeit eines Ausscheidens aus der Währungsunion gewidmet. Den Bailout Griechenlands beziffert Meyer auf 321 Milliarden Euro - davon 58 Milliarden Euro zulasten Deutschlands.

Meyer wendet sich dezidiert gegen die monetäre Staatsfinanzierung, die die EZB unter Trichet, Draghi und jetzt Lagarde mit ihren enormen Käufen von Staatsanleihen betreibt und die er für rechtswidrig hält. Im gesamten Buch konstatiert er immer wieder Rechtsbrüche, denen er mit großer Präzision nachgeht.

Alles in allem ist dieses Buch eine Fundgrube für alle, die die Politisierung der EZB und den Zustand der Währungsunion kritisch sehen und auf Abhilfe sinnen.

Roland Vaubel, Professor em. für Volkswirtschaftslehre, Universität Mannheim

Roland Vaubel , Professor em. für Volkswirtschaftslehre, Universität Mannheim
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