20 Jahre Währungsunion - wie entwickelt sich Europa weiter?

Dr. Hans-Walter Peters, Präsident, Bundesverband deutscher Banken, und Sprecher der persönlich haftenden Gesellschafter, Joh. Berenberg, Gossler & Co. KG, Hamburg

Zum zehnjährigen Jubiläum der Europäischen Währungsunion war es aus Sicht des Autors einfacher, Optimismus für die Weiterentwicklung zu zeigen. Seine Liste der aktuellen Widrigkeiten ist jedenfalls groß, angefangen von allgemeinen Tendenzen zu Abschottung, Populismus und nationalen Alleingängen über den bevorstehenden Brexit, die Verletzung der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung in Teilen Ostmittel- und Südosteuropas und die ungelösten Migrationsfragen bis hin zur Konfrontation der italienischen Regierung mit der EU-Kommission in der Verschuldungsfrage. Zwar sieht er die Währungsunion durch diverse Maßnahmen und Instrumente inzwischen deutlich wetterfester als noch vor einigen Jahren, aber wirkliche Stabilisierung erhofft er sich durch eine Stärkung der Wachstumskräfte. Als neuen Wachstumskatalysator für die Gemeinschaft nennt er einen einheitlichen europäischen Finanzbinnenmarkt. (Red.)

Als die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion im Jahr 2009 ihren zehnjährigen Geburtstag feierte, blickte sie auf zehn - weitgehend - erfolgreiche Jahre zurück. Viele Mitgliedsstaaten verzeichneten ein ordentliches Wirtschaftswachstum und gute Arbeitsmarktdaten. Die Inflationsrate lag im Schnitt des gesamten Zeitraums in dem von der Europäischen Zentralbank angepeilten Zielkorridor. Mehr noch: Gerade der Ausbruch der Finanzmarktkrise ein Jahr zuvor wurde als Beleg für die Unverzichtbarkeit der gemeinsamen Währung gewertet, verhinderte doch ihre bloße Existenz, dass der signifikante Wirtschaftseinbruch mit Spekulationsattacken gegen die Währungen einzelner Mitgliedsländer einherging und die Wirtschaftskrise weiter verschärft hätte. Kurz gesagt: Der gemeinsame Währungsverbund hatte Strahlkraft nach außen, war stabil im Inneren und hatte dank seiner Erfolge viele Skeptiker verstummen lassen.

Existenzielle Zerreißprobe

Dachte man. Doch gut ein Jahr später setzte das ein, was als Griechenlandkrise begann, als europäische Staatsschuldenkrise bald noch weitere Länder erfassen sollte und die Währungsunion als Ganze schließlich vor eine existenzielle Zerreißprobe stellte. Gewaltige Mengen an Kapital, Ressourcen und politischer Gestaltungskraft mussten mobilisiert werden, um den Euro-Verbund überhaupt zusammenzuhalten. Aus der gemeinsamen Währung, deren historische Mission eigentlich darin bestehen sollte, die Gemeinschaft der europäischen Völker noch enger zusammenzuführen, schien mit einem Male ein Spaltpilz geworden zu sein, ein Zankapfel, der zu gegenseitigen Vorhaltungen, Verletzungen und dem Wiederaufleben nationaler Ressentiments geführt hat. Prognosen, dass es mit dem Euro bald ein Ende haben würde, hatten vor allem unter amerikanischen Ökonomen Hochkonjunktur. Und tatsächlich: Dass ein Mitglied aus dem Währungsverbund ausscheiden könnte und infolgedessen zumindest die Unumkehrbarkeit der Währungsunion infrage gestellt wäre, schien mehr als einmal ein plausibles Szenario zu sein.

Ist dieser Punkt heute überwunden? Was lehren die letzten neun Jahre für die Zukunft der Europäischen Währungsunion? Wie häufig in der Geschichte der europäischen Integration haben krisenhafte Zeiten auch diesmal viel schöpferische Energie freigesetzt. Was die Eurostaaten an Stabilisierungsmaßnahmen auf den Weg gebracht haben - anfangs unter großem Zeitdruck -, mag zunächst flickschusterhaft ausgesehen haben, hat dann aber Schritt für Schritt die Währungsunion nicht nur aus der akuten Gefahrenzone geführt, sondern sie auch sinnvoll weiterentwickelt: ESFM, ESM, Europäisches Semester, Fiskalpakt, die Bankenunion mit der gemeinsamen Beaufsichtigung von großen europäischen Finanzinstituten und dem Bankenabwicklungsmechanismus.

Zu guter Letzt ist die Europäische Zentralbank zu nennen, die mit höchst unorthodoxen Instrumenten ihre ganze finanzielle Schlagkraft zugunsten der Eurozone in die Waagschale geworfen hat. Freilich - dieser Zusatz sei erlaubt - hat sie damit an anderer Stelle Probleme hervorgerufen und wäre daher gut beraten, den Krisenmodus sehr viel schneller zu beenden, als sie bislang angekündigt hat.

Einheitliche Geldpolitik, souveräne Nationalstaaten

Die Währungsunion scheint inzwischen deutlich wetterfester zu sein als noch vor einigen Jahren. Die meisten Staaten, die zeitweilig ins Schlingern geraten waren und konditionierte finanzielle Hilfen in Anspruch genommen haben, sind wirtschaftlich wieder auf gutem Kurs. Und doch besteht allgemeiner Konsens darüber, dass die architektonische Umgestaltung der Währungsunion noch nicht abgeschlossen ist. Nur, was ist zu tun? Und was kann realistisch betrachtet überhaupt erreicht werden? Um diese Frage zu beantworten, sollte man sich noch einmal vor Augen führen, welchen Charakter die Wirtschafts- und Währungsunion eigentlich hat. Kurz und knapp gesagt ist sie eine Gemeinschaft mit einer einheitlichen Geldpolitik, aber finanzpolitisch weiterhin souveränen Nationalstaaten.

Ungeachtet aller Selbstbindungen und vertraglichen Verpflichtungen lag und liegt die finanzpolitische Souveränität bei den Regierungen und Parlamenten der einzelnen Eurostaaten. Sie entscheiden innerhalb der gemeinsam koordinierten Leitplanken völlig eigenständig über die Höhe der Steuern sowie über Art und Umfang der Staatsausgaben. Diese nationale Souveränität gilt nicht nur in der Haushaltspolitik, sondern auch auf vielen wirtschafts- und sozialpolitischen Feldern, die wiederum Rückwirkungen auf die Wirtschaftskraft und auf die Verschuldungsquoten des Landes haben. Anders ausgedrückt: Die Mitgliedsstaaten können nach wie vor autonom handeln; eine Fiskalunion gibt es so wenig wie eine politische Union. Ob die Eurostaaten ihre Souveränität in diesen Kernbereichen aufgeben wollen, ist zum heutigen Zeitpunkt unwahrscheinlich. Mit ökonomischen Asymmetrien, die bei einem so großen Wirtschaftsraum wie der Eurozone bis zu einem gewissen Grad ohnehin unvermeidlich wären, ist daher auch weiterhin zu rechnen. Damit bleibt die Europäische Währungsunion latent verwundbar, zumindest aber unvollkommen.

Nicht nur die einheitliche Geldpolitik der EZB wird durch die unsolide Finanzpolitik einzelner Staaten beziehungsweise durch gegenläufige wirtschaftliche Entwicklungen erschwert. Nach wie vor auch kann das fiskalpolitisch verantwortungslose Verhalten eines einzelnen Mitgliedslandes eine gewisse Sprengkraft für die ganze Eurozone entfalten. Mindestens steigen die Kapitalmarktzinsen auch in den übrigen Eurostaaten, wenn Kapitalanleger zu der Überzeugung gelangen, dass die Gemeinschaft in irgendeiner Form für die unsolide Finanzpolitik eines Landes einstehen muss und damit einer neuen Belastungsprobe entgegensieht.

Haftung und Verantwortung

Was folgt daraus? Mehr Gemeinsamkeit und Solidarität zwischen den Eurostaaten - gerade Letzteres wird von den südeuropäischen Ländern immer wieder eingefordert - wäre ohne Zweifel wünschenswert. Bei allen künftigen Reformschritten muss allerdings auf eines geachtet werden: Haftung und Verantwortung gehören in eine Hand. Die Missachtung dieses Prinzips ist der eigentliche Kern für viele akute Stabilitätsprobleme der Währungsunion. Konkret: Soll die Gemeinschaft für die Überschuldung eines Mitgliedslandes grundsätzlich in Haftung genommen werden und finanzielle Mittel bereitstellen, dann darf dies nur geschehen, wenn die Euroländer auch im entsprechenden Umfang bereit sind, finanzpolitische Souveränität gemeinsam wahrzunehmen.

Umgekehrt gilt, dass die Mitgliedsstaaten die Konsequenzen ihrer Politik nicht einfach auf die Gemeinschaftsebene abschieben dürfen, wenn sie allein diese Politik zu verantworten haben. Zudem müssen gemeinschaftliche Hilfen der anderen Länder in jedem Fall konditioniert erfolgen. Kurzum: Wer eine stärkere Risikoteilung fordert, muss eine entsprechende Aufsicht und Einflussnahme auf seine politischen Handlungen zulassen. Solange die Länder der Eurozone diesen nächsten großen Schritt aber nicht gehen wollen oder gehen können, wird sich an dem grundsätzlichen Spannungsverhältnis nichts ändern.

Und dennoch bedeutet dies nicht, dass weitere Reformen nur unzureichendes Stückwerk bleiben müssen. Selbst wenn der große Schritt Richtung Fiskalunion ausbleibt, kann das Regelwerk der Eurozone so weiterentwickelt werden, dass es den Zusammenhalt der Währungsunion stärkt. Schon die Reformmaßnahmen der letzten Jahre haben bewirkt, dass Krisen in einzelnen Euroländern inzwischen besser abgefedert werden können. Das hat die Währungsunion - trotz aller fortbestehenden Defizite - entscheidend stabilisiert. Wie kann und muss es nun weitergehen? Im Wesentlichen kommt es auf folgende Punkte an

Wachstumskräfte stärken!

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Eine Währungsunion ist dann stabil und von Vorteil für alle beteiligten Länder, wenn diese wirtschaftlich stark sind und folglich gar nicht erst der Versuchung erliegen, fehlende Wirtschaftskraft durch eine unverantwortliche Ausgabenpolitik wettzumachen. Die Mitgliedsstaaten selbst haben es zu einem großen Teil in eigener Hand, ihre Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig zu stärken: Sie müssen die Herausforderungen im Bereich der Bildung, der Innovation oder der Infrastruktur entschlossen angehen, sie müssen tragfähige Antworten auf den demografischen Wandel und dessen Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme finden. Und sie müssen sich um eine moderne und leistungsfähige Staatsverwaltung bemühen.

Doch die EU ist schon heute eine Solidargemeinschaft, deren gemeinschaftliches Ziel es ist, wirtschaftlich schwach entwickelte Regionen zu unterstützen und den Kontinent insgesamt auf ein ökonomisch stabiles Fundament zu stellen. Zu den bestehenden Instrumenten, Wachstumskräfte zu stärken, könnte mit Blick auf die Währungsunion künftig ein eigenes Eurozonen-Budget hinzukommen.

Wie sinnvoll der auf dem jüngsten Euro-Gipfel mit weiterem Ausarbeitungsbedarf versehene Vorschlag für ein Eurozonen-Budget im Einzelnen auch sein mag: Ein gemeinsamer europäischer Investitionshaushalt könnte künftig auch dafür eingesetzt werden, strukturelle Reformen in den Mitgliedsstaaten zu fördern. Je nachdem, wie er konzipiert ist, würde er damit einen wichtigen Beitrag dafür leisten, dass die Euroländer wirtschaftlich weiter zusammenwachsen und die Wirtschaftskraft des gesamten Währungsraums gestärkt wird. Ob das Eurozonen-Budget wirklich kommt, ist unklar: Die Tür aber ist offen, um überzeugende Lösungen zu finden, die von allen Eurostaaten gemeinsam getragen werden.

Solidarinstrumente ausbauen, Risiken abbauen!

Die jüngst auf dem Euro-Gipfel beschlossene Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der künftig eine stärkere Rolle beim Entwurf und der Überwachung von Kreditprogrammen spielen und hinsichtlich der "vorsorglichen Kreditlinie" für unverschuldet in Not geratene Euroländer transparenter werden soll, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Besonders wichtig ist, dass der ESM künftig die Schuldentragfähigkeit der Eurostaaten noch stärker in den Blick nimmt. Wenn diese Aufgabe vom ESM konsequent wahrgenommen und von den Eurostaaten die Autorität ernst genommen wird, dann würden Verantwortung und Haftung im ESM etwas enger zusammengeführt.

Auch die beschlossene Letztabsicherungsfunktion des ESM für den Bankenabwicklungsfonds SFR ist sinnvoll, denn sie kann die Glaubwürdigkeit des Bankenabwicklungsmechanismus stärken und dürfte dadurch für mehr Vertrauen und Klarheit sorgen. Zugleich ist auch sie ein Beitrag für ein solidarisches Handeln der Währungsgemeinschaft. Haftung und Verantwortung müssen aber auch in diesem Fall mitgedacht werden: Die einzelnen Länder stehen in der Verantwortung, den weiteren Abbau von Risiken in den Bankbilanzen voranzutreiben. Ehe dies nicht geschehen ist, kann es auch keinen Durchbruch bei der europäischen Einlagensicherung geben. Außerdem muss verlässlich ausgeschlossen sein, dass die gemeinsam festgelegten Bail-in-Kaskaden durch die Letztabsicherung verwässert werden.

Die Verschuldungsregeln, die sich die Währungsunion selbst gegeben hat, haben in der Vergangenheit nicht immer die Bindekraft gehabt, die sie eigentlich hätten haben sollen. Dabei lassen sie durchaus genügend Luft zum Atmen: Die im Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt verankerten fiskalpolitischen Vorgaben sind flexibel genug gestaltet, damit die Mitgliedsländer in Sondersituationen angemessen reagieren können. Diese Regeln - gemeinsam mit den im Fiskalpakt vereinbarten Ergänzungen - sind ein konstitutiver Bestandteil der Währungsunion und sichern letztlich ihren längerfristigen Bestand.

Offene und nonchalante Verstöße gegen die Grundlagen dieses Regelwerks können deswegen von der Kommission und den Mitgliedsländern nicht unerwidert bleiben; zögen sie keine Konsequenzen nach sich, wäre die Glaubwürdigkeit des Euros massiv beschädigt. Ihre gemeinsame Verantwortung, die öffentliche Verschuldung in der Eurozone zurückzuführen, muss von allen Ländern auch tatsächlich gelebt werden. Die nationalen Regierungen müssen daher ihren Bevölkerungen die elementare Bedeutung einer langfristig soliden Finanzpolitik vermitteln, statt mit einer "Wünsch-dir-was"-Politik Nebelkerzen zu werfen.

Finanzbinnenmarkt schaffen!

Auf dem Weg zu einer stabileren Währungszone und einem stärkeren Europa sind auch die europäischen Banken ein wichtiger Teil der Lösung. Sie können nationale Unterschiede in der Wirtschaftsentwicklung oder bei der Risikotragfähigkeit durch grenzüberschreitende Kapitalflüsse moderieren. Deswegen sind Fortschritte in Richtung eines echten Finanzbinnenmarktes nötig. Hierfür bedarf es in der EU klarer Regeln für grenzüberschreitend tätige Banken; Regeln, die in ganz Europa gelten und die nicht durch zusätzliche nationale Regeln überfrachtet werden. Ein einheitlicher europäischer Finanzbinnenmarkt könnte ein neuer Wachstumskatalysator für die Gemeinschaft sein.

Die Weiterentwicklung der Wirtschaftsund Währungsunion muss zu einem Zeitpunkt erfolgen, da die Europäische Union mit gravierenden internen und externen Herausforderungen konfrontiert wird. Die allgemeine Tendenz zu Abschottung, Populismus und nationalen Alleingängen hat sich auch in die Union hineingefressen: Das Vereinigte Königreich wird die EU in Kürze verlassen, in Teilen Ostmittel- und Südosteuropas werden die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung mit Füßen getreten, bei der Migrationsfrage geht noch immer ein Riss durch den Kontinent, die neue italienische Regierung hat in der Verschuldungsfrage die offene Konfrontation mit der Kommission und den Mitgliedsländern gesucht.

Die Prognose, dass die EU auch diese Krise nutzen wird, um gestärkt aus ihr hervorzugehen, wäre vor diesem Hintergrund durchaus mutig zu nennen. Gleichwohl muss der Blick nach vorn gerichtet werden. Mit der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion wird es zwar - so viel scheint klar - nur in kleinen Schritten vorangehen. Das mag all jene enttäuschen, die in der visionären Sorbonne-Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron eine konkrete Zukunftsperspektive für die Eurozone gesehen haben. Doch wenn es unübersehbare Differenzen zwischen Nord und Süd über die Frage gibt, wie viel Vergemeinschaftung in der Währungsunion erstrebenswert ist, dann ist ein ausgewogener Interessensausgleich notwendig und zugleich der einzig gangbare Weg in die Zukunft. Gerade auf Deutschland wird es dabei ankommen. Die privaten Banken plädieren - bei aller ordnungspolitischen Gesinnung - für ein mutiges proeuropäisches Bekenntnis unseres Landes. Ein freies, starkes und solidarisches Europa ist ein Geschenk für alle. In dieses Geschenk muss investiert werden - vielleicht mehr als je zuvor.

Dr. Hans-Walter Peters Präsident, Bundesverband Deutscher Banken e.V., Berlin, und Sprecher der persönlich haftenden Gesellschafter der Privatbank Berenberg, Hamburg
Hans-Walter Peters , Sprecher der persönlich haftenden Gesellschafter, Joh. Berenberg, Gossler & Co. KG, Hamburg, und von April 2016 bis April 2020 Präsident des Bundesverbandes deutscher Banken
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