Active Stewardship im deutschen Kapitalmarkt

Christoph Berger, Foto: Allianz Global Investors

Nicht zuletzt wegen des unvermeidlichen zusätzlichen Verwaltungsaufwands wird die bis Juni 2019 geforderte Umsetzung der neuen EU-Aktionärsrechterichtlinie (Shareholder Rights Directive II, SRD II) in deutsches Recht mancherorts nicht unbedingt freudig erwartet. Die Richtlinie läutet aus Sicht des Autors aber eine Zeitenwende ein. Denn er sieht das Verhältnis zwischen Emittenten und Aktionären neu ausgerichtet und Letztere stärker in die Verantwortung genommen. Vor dem Hintergrund wachsender Ansprüche an verantwortungsbewusste Kapitalanlagen und steigender Nachfrage nach ESG-Anlagen hält er es für geboten, den Standort und die Rollen der wesentlichen Akteure im deutschen Kapitalmarkt neu zu bestimmen. (Red.)

Seit nunmehr drei Jahrzehnten erfinden internationale Beobachter immer wieder neue Beschreibungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland: von der Wiedervereinigung und der Transformation der Planwirtschaft über den "kranken Mann Europas" zum Globalisierungsgewinner, wirtschaftlichen Powerhouse und Stabilitätsanker in der EU.

Viele Entwicklungslinien der deutschen Volkwirtschaft und Unternehmenslandschaft lassen sich mit langfristigen strukturellen Faktoren und Trends erklären und fortschreiben. In den letzten Jahren treten drei neue, große Herausforderungen hervor: die Digitalisierung, starke Veränderungen in traditionellen Wertschöpfungsketten sowie die Notwendigkeit, ressourcenschonend zu wirtschaften.

Ansprüche der Aktionäre an verantwortungsbewusstes Investieren

Schnell wird deutlich, dass sich die Vorstände deutscher Aktiengesellschaften bereits in ihrem Kerngeschäft einer Herkulesaufgabe gegenübersehen. Neben der Transformation des eigenen Geschäftsmodells und der Abwehr branchenfremder Disruptoren müssen die Unternehmenslenker darüber hinaus mit wachsenden regulatorischen Anforderungen und gestiegenen Ansprüchen von zunehmend fordernd auftretenden Aktionären Schritt halten. Im Gegensatz zur lauten Empörung über Dieselgate, Gehaltsexzesse oder Datenpannen kommen die auf gute Corporate Governance oder mehr Transparenz abzielenden Reformen eher leise daher.

Vor nunmehr dreizehn Jahren haben die Vereinten Nationen mit den Principles for Responsible Investing (PRI) die Verantwortung der Kapitalgeber in den Mittelpunkt gestellt. Sie haben Kapitalsammelstellen und ihren Asset Managern sechs Leitlinien an die Hand gegeben. Inzwischen haben rund 2 000 Investoren die PRI unterzeichnet und berücksichtigen ESG-Faktoren (Environment, Social, Governance) in ihrer Kapitalanlage, Tendenz weiterhin steigend. Die Umsetzung der Corporate-Social-Responsibility-EU-Richtlinie in deutsches Recht im März 2017 war ein wichtiger Meilenstein, um Investoren durch neue Anforderungen an die Berichterstattung nichtfinanzieller Informationen mehr Transparenz zu verschaffen. In dem Aktionsplan der EU-Kommission für ein nachhaltiges Finanzwesen sind zehn Maßnahmen vorgesehen, um die Finanzstabilität durch eine stärkere Berücksichtigung von ESG-Faktoren zu stärken und den Beitrag des Finanzsektors für ein nachhaltiges Wachstum (inklusive Klimaschutz zu verbessern).

Transparenz als wichtiges Element

Das beinhaltet auch eine Klärung der treuhänderischen Pflichten von Asset Managern. Was aber ein nachhaltiges und ressourcenschonendes Wirtschaften genau bedeutet, ist eine komplexe, manchmal auch kontroverse Frage. Eine Expertenkommission erarbeitet ein entsprechendes Klassifikationssystem (Taxonomy) in Hinblick auf den Klimaschutz. Bei den Unternehmen wird mehr Transparenz in der Berichterstattung eingefordert und auf die Methodik der Task Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD) Bezug genommen.

Transparenz ist ein wichtiges Element, allerdings zeigt sich auch, dass Daten in unterschiedlicher Weise von verschiedenen Datenanbietern und Ratingagenturen aggregiert werden. Investoren sind daher gut beraten, mithilfe von eigenen Analysen die Daten über nichtfinanzielle Faktoren zu interpretieren, zu hinterfragen und im Einzelfall deren Bedeutung für die eigenen Investmentannahmen zu beurteilen. Als sehr zielführend hat sich dabei erwiesen, dass diese ESG-Risiken ganzheitlich betrachtet werden. Investmentexperten aus dem ESG-Research, Fundamentalanalysten und Portfoliomanager tragen ihre jeweils eigenen Anschauungen in einem gemeinschaftlichen Prozess zur Verbesserung der Informations- und damit der Entscheidungsgrundlage zusammen.

Bei Allianz Global Investors folgt dieser Integrierte ESG-Ansatz strikten Regeln und wird in der globalen Research- und Kollaborationsplattform dokumentiert, sodass Informationen auch dort zum Einsatz kommen, wo sie benötigt werden. Diese Art von globaler Zusammenarbeit beziehungsweise "Crowdsourcing" trägt entscheidend zur Wertschöpfung für Anleger bei. Denn inzwischen ist sich die Forschung weitgehend einig, dass sich die gezielte Berücksichtigung von ESG-Faktoren auch finanziell auszahlt. So trägt die Vermeidung von ESG-"Tail Risks" zu einer besseren Wertentwicklung und geringerer Volatilität eines Investmentportfolios bei. Umgekehrt gilt es, auch vom Markt beziehungsweise Ratinganbietern unerkannte Potenziale zu nutzen, nämlich dann, wenn ESG-Risiken wegen formaler Lücken in der Berichterstattung zu schlechten Ratings führen, die Unternehmen in der Praxis aber das ESG-Risiko gut managen.

Als aktiver Investmentmanager gibt es auf verschiedenen Ebenen einen ständigen Dialog mit den Unternehmen, in die investiert wird: mit Investor Relations, CFO, CEO und zu Governance-Themen auch mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden. Um den Dingen auf den Grund zu gehen und eine realistische Risikoeinschätzung vornehmen zu können, wird kritisch nachgefragt, wenn materielle ESG-Risiken entdeckt werden. Dieses Engagement hilft umgekehrt auch den Unternehmen, sich besser in der Vielzahl der Anforderungen zu orientieren, zu priorisieren, ihre ESG-Risiken zu verringern und damit langfristig ihre Wertschöpfung zu erhöhen.

Active Stewardship - neue Aktionärskultur

Dieser kritische Dialog im Rahmen des Engagements und eine Positionierung als langfristig orientierter Investor sind durchaus kompatibel und können - richtig verstanden - der Schlüssel zu einer besseren Wertschöpfung sein. Dabei tritt der Aktionär in der Tradition des britischen Selbstverständnisses als "active steward" auf. Diese neue Aktionärskultur ist zwar meist langfristig orientiert und konstruktiv, aber im Vergleich zur traditionellen Diskretion am deutschen Kapitalmarkt (Stichwort "Deutschland AG"), in der der Leitgedanke der treuhänderischen Verantwortung eher im Sinne des (End-)Anlegers interpretiert wird, stärker auf Transparenz und Konsequenz bedacht.

Mit dem UK Stewardship Code im Jahr 2010 wurde diese angelsächsische Auslegung der Eigentümervertretung auch kodifiziert und fand zunehmend internationale Verbreitung. So dürften vielen DAX-Vorständen und Aufsichtsräten noch die schwachen Abstimmungsergebnisse auf den Hauptversammlungen 2016 und 2017 lebhaft in Erinnerung sein. Nach jahrzehntelangen Zustimmungsquoten jenseits der 90 Prozent, können Ergebnisse mit weniger als drei Viertel Zustimmung aber nicht als Ausdruck grundsätzlichen Misstrauens, sondern vielmehr als deutlichere Artikulation der Aktionärsinteressen gelesen werden.

Intransparente Vergütungsstrukturen für Vorstände, Blankogenehmigungen von Kapitalerhöhungen und Zweifel an der Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern sind die häufigsten Kritikpunkte der Aktionäre. Die gute Nachricht ist, dass sich einige Unternehmen der Kritik stellen und die Ursachen verstehen. Sie beweisen - infolge eines intensiven Dialogs mit ihren Shareholdern - Willen zur Veränderung. So hat beispielsweise SAP auf das Abstimmungsergebnis bei der Hauptversammlung 2017 reagiert und sich sehr bemüht, die Skepsis der Anteilseigner zu verstehen, um dann zielorientiert die Anreizstruktur und die Transparenz des Vergütungssystems zu verändern.

Auch ein Blick in das Abstimmungsverhalten von Allianz Global Investors in Deutschland - welches über die Webseite abrufbar ist - über den Zwölf-Monatszeitraum von Oktober 2017 bis September 2018 zeigt, dass die höchste Ablehnungsquote (von insgesamt 50 Prozent) bei Tagesordnungspunkten zur Vorstandsvergütung zu finden ist. Fast gleichauf liegt die Ablehnungsquote bei Tagesordnungspunkten, die sich mit der Kapitalstruktur, insbesondere der Emission von neuen Aktien oder Wandelanleihen befassen. Die zahlenmäßig meisten Ablehnungen gab es bei Zweifeln im Hinblick auf die Unabhängigkeit von Mitgliedern des Aufsichtsrates, insbesondere bei Mitgliedern des Prüfungsausschusses werden hohe Anforderungen gestellt.

"Say on pay"

Die Umsetzung der EU-Aktionärsrechterichtlinie wird viele Themen, die von vielen Aktionären bereits in der Praxis eingefordert und gelebt werden, in deutsches Recht überführen. Mit dem sogenannten "Say on pay" müssen sich Unternehmen nun darauf einstellen, dass ein Bereich, der insbesondere in der öffentliche Breitenwahrnehmung als äußerst sensibel gilt und auch von Aktionären kritisch beäugt wird, nun als fester Tagesordnungspunkt auf Hauptversammlungen verankert wird: die Zustimmung zur Vorstandsvergütung. Wird diese nicht erteilt, muss das Unternehmen bis zur nächsten Hauptversammlung nachbessern. Entscheidend ist dabei nicht in erster Linie die absolute Höhe der Vorstandsvergütung, sondern vielmehr die erkennbare Verknüpfung von Strategie und Werttreibern für das Unternehmen mit dem Anreizsystem der Vorstandsvergütung.

Vor diesem Hintergrund haben Corporate-Governance-Experten, namhafte Aufsichtsratsvorsitzende börsennotierter Unternehmen in Deutschland sowie Vertreter von institutionellen Investoren (auch von Allianz Global Investors) und Wissenschaftler zusammen Best-Practice-Leitlinien für eine einfache und an einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung ausgerichteten Vorstandsvergütung erarbeitet. Die Leitlinien treffen Aussagen zur Gestaltung des Vergütungssystems und zur Darstellung im Vergütungsbericht sowie zum Dialog mit Investoren.

Hans-Christoph Hirt von Hermes EOS, einer der beiden Initiatoren und Koordinatoren der Initiative sagt dazu: "Die Leitlinien tragen insbesondere dazu bei, Vergütungssysteme zu vereinfachen, den Zusammenhang von Unternehmensperformance und Vergütung klarer zu berücksichtigen und so für die unterschiedlichen Marktakteure und die Öffentlichkeit nachvollziehbarer zu machen. Darüber hinaus helfen sie Unternehmen, sich auf die steigenden Erwartungen institutioneller Investoren, auch aus dem Ausland, vorzubereiten. Die Leitlinien werden Unternehmen und Investoren unterstützen, einen konstruktiven Dialog zur Vergütung zu führen. Gleichzeitig nehmen sie auch Investoren in die Pflicht, ihre Erwartungen und Anforderungen an Vorstandsvergütungssysteme transparenter und verständlicher zu machen".

Laufendes Konsultationsverfahren

Gleichzeitig verfolgt die Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex mit der anstehenden Reform das Ziel, den Kodex wieder relevanter für institutionelle Investoren zu machen und damit die Akzeptanz bei Emittenten und Investoren zu erhöhen. Das ist angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Richtlinien verschiedener Investoren und Stimmrechtsberater ein herausforderndes Unterfangen. Gleichzeitig kann es unterschiedlichen Interessen von Emittenten, Investoren und anderen Stakeholdern geben. Bis zum 31. Januar 2019 läuft das Konsultationsverfahren und es ist damit zu rechnen, dass viele Empfehlungen und Anregungen aus dem derzeitigen Entwurf von institutionellen Anlegern oder Interessenverbänden kommentiert werden.

Deutliche Fortschritte gibt es beim dem Entwurf des Kodex zu dem Themenblock "Unabhängigkeit von Aufsichtsräten". Insbesondere sollen die Vertreter der Anteilseigner zukünftig für drei Jahre gewählt werden. Die Empfehlungen zum Vergütungssystem sind im derzeitigen Entwurf sehr konkret. Einige Elemente in der Ausgestaltung werden teilweise kontrovers diskutiert. Man darf gespannt sein, wie die Stellungnahmen dazu ausfallen und inwieweit sich die entscheidenden Vorschläge aus den Leitlinien für die nachhaltige Vorstandsvergütung wie zum Beispiel das Eigeninvestment, die Transparenzanforderungen und die Ausgestaltung langfristiger Vergütungselemente im Deutschen Corporate Governance Kodex wiederfinden werden.

Schlüsselposition Aufsichtsrat

Während im Angelsächsischen sogenannte "one tier boards", also Unternehmensleitung und -kontrolle in einem Gremium üblich sind und dem Chairman neben dem CEO eine herausragende Position zukommt, verwundert es schon fast, wie wenig (mediale) Aufmerksamkeit dem Aufsichtsrat und dem Aufsichtsratsvorsitz deutscher Unternehmen zuteil wird. Häufig werden Aufsichtsratsmandate noch als Nebentätigkeit ausgeübt oder adeln eine langjährige Vorstandskarriere nach Eintritt in den Ruhestand. Die Frage ist, ob es angesichts der oben beschriebenen Herausforderungen an der Zeit wäre, die Professionalisierung der Aufsichtsratstätigkeit dahingehend voranzutreiben, dass die Ressourcenausstattung mit der immer stärker nach außen gerichtete Rolle einhergeht und dass die Tätigkeit des Aufsichtsrats im Sinne eines "Stewards an Bord" als eigenständiges Karriereziel an Bedeutung gewinnt.

Wie die hohe Ablehnungsquote auf Hauptversammlungen zeigt, ist es anscheinend nicht einfach, geeignete Kandidaten für das Kontrollgremium zu finden. Die Liste der Anforderungen ist lang: Branchenerfahrung, Vorstandserfahrung, Wirtschaftsprüfungserfahrung, Kenntnis des Wettbewerbsumfelds, exzellente Kommunikationsfähigkeiten, international, unabhängig, positiv zur Diversität des Gremiums beitragend, kurzum: die eierlegende Wollmilchsau.

Die gute Nachricht: nicht jeder muss alle Attribute aufweisen, vielmehr muss das Kompetenzgefüge und die Unabhängigkeit im Gremium insgesamt stimmig sein. Die weniger gute: der Aktienstandort Deutschland wird angesichts der wachsenden Herausforderungen noch einiges unternehmen müssen, um dem Ethos des Active Stewards auf Aufsichtsratsebene flächendeckend gerecht zu werden.

Christoph Berger Leiter Aktien Deutschland, CFA, Allianz Global Investors, Frankfurt am Main
LinkedIn
Noch keine Bewertungen vorhanden


X