Argumente für eine aktive Titelauswahl am Anleihemarkt

Lior Jassur, Foto: MFS Investment Management

Lockere Geld- und Fiskalpolitik begünstigen seit rund zehn Jahren die Kreditaufnahme und höhere Verschuldung von Unternehmen. Die weitere Lockerung und Zinssenkungen während der Covid-19-Pandemie befeuern diese Entwicklung. Die Autoren des vorliegenden Beitrags befassen sich mit den Risiken für Anleger, die diese Entwicklung birgt. Eine wichtige Rolle bei der Zusammensetzung eines Anleiheportfolios spiele dabei die Schuldtragfähigkeit eines Unternehmens. Angesichts möglicher bevorstehender Kreditausfälle und der Schaffung von "Zombie"-Unternehmen durch staatliche Finanzierung empfehlen die Autoren eine umsichtige und aktive Titelauswahl, anstatt Anleiheindizes nachzubilden, da Indizes zugunsten stärker verschuldeter Unternehmen verzerrt würden. Um das Risiko zu verringern und höhere Renditen zu erzielen, gelte es, Unternehmen zu unterscheiden, die auch in der Krise Profite erzielen können, und andere die sich nur über Wasser halten. (Red.)

Nach der weltweiten Finanzkrise von 2007/2008 und der darauffolgenden Staatsschuldenkrise der Eurozone waren die Zentralbanken beiderseits des Atlantiks bestrebt, Unternehmen die Kreditaufnahme zu erleichtern. Sie sollten angeregt werden zu investieren, rentabel zu bleiben und letztlich zu wachsen. Ziel war es, die Wirtschaftstätigkeit wieder zu beleben, die Arbeitslosigkeit zu verringern und so eine positive Spirale in Gang zu setzen, die zu einem Schuldenabbau durch Wachstum führen würde.

Machen wir nun einen Sprung ins Jahr 2020. Man setzte auf die gleiche Strategie, um auf den drastischen Konjunktureinbruch infolge der durch das Corona-Virus verursachten Krise zu reagieren. Diesmal wurden Volkswirtschaften auf der gesamten Welt mit wesentlich umfangreicheren geld- und fiskalpolitischen Anreizen unterstützt - und dies erfolgte auch schneller. Weitere geldpolitische Lockerungen und Zinssenkungen haben den Anstieg der Verschuldung noch befeuert.

Kreditvergabestandards nach globaler Finanzkrise gelockert

In den letzten Jahrzehnten ist nicht nur die Unternehmensverschuldung in den USA und in der Eurozone rasch angewachsen, sondern auch die Praktiken bei der Kreditvergabe sind lascher geworden. Aus Umfragen der US-Notenbank und der Europäischen Zentralbank geht hervor, dass die Kreditvergabestandards seit der weltweiten Finanzkrise und der Staatsschuldenkrise der Eurozone allgemein gelockert wurden. Inzwischen enthalten nicht nur die internen Richtlinien der Banken weniger Anforderungen, sondern aufgrund niedrigerer Zinsen und geringerer Margenaufschläge sind auch die Fremdkapitalkosten gesunken und die mit Krediten und Anleihen verbundenen vertraglichen Auflagen (Covenants) sind zunehmend weniger streng.

Es gibt zwar strukturelle Unterschiede zwischen den Anleihemärkten in der Eurozone und den USA, aus denen sich das größere Volumen des US-Anleihenmarktes im Vergleich zum Euromarkt erklärt, doch die von den Maßnahmen der Regierungen und der Zentralbanken zur Liquiditätsversorgung der Märkte ausgelösten Trends ähneln sich stark. Alle haben zu einem stetigen Anstieg der Fremdkapitalaufnahme aufseiten der Unternehmen geführt. So erhöhte sich der Gesamtbetrag der von Unternehmen außerhalb des Finanzsektors begebenen und ausstehenden Schuldtitel zwischen 2004 und Ende 2019 in der Eurozone um jährlich 5,1 Prozent und in den USA um jährlich 5,4 Prozent.

Expansive Geldpolitik durch Zentralbanken

Die Maßnahmen der Zentralbanken waren darauf ausgerichtet, durch eine Lockerung der Geldpolitik die Finanzierungstätigkeit wieder anzukurbeln. Sie beinhalteten deshalb nicht nur weniger strenge Bedingungen für die Kreditvergabe, sondern auch niedrigere Zinsen, um die Aufnahme von Fremdkapital attraktiver zu machen. In den Abbildungen 1 und 2 wird der gesamte von Unternehmen außerhalb des Finanzsektors mit Sitz in der Eurozone und in den USA aufgenommene Fremdkapitalbetrag gemeinsam mit der Rendite einer typischen fünfjährigen Staatsanleihe und der Verzinsung der Bloomberg Barclays Aggregate Corporate Indizes dargestellt.

Große US-Unternehmen reagierten auf die niedrigeren Fremdkapitalkosten mit einer starken Erhöhung der Fremdkapitalaufnahme, die von 10,1 Billionen US-Dollar (2007) auf 16,1 Billionen US-Dollar (Ende 2019) stieg.

Abbildung 1: Fremdkapitalaufnahme von US-Unternehmen, Renditen und Zinsen Quellen: BIZ, Bloomberg, Barclays. Jahresdaten vom 31. Dezember 2004 bis zum 31. Dezember 2019.

Unternehmen in der Eurozone hatten bereits vor der weltweiten Finanzkrise relativ viel Fremdkapital aufgenommen, doch das Volumen wuchs trotz eines stärkeren Rückgangs der Fremdkapitalkosten nicht so schnell an wie in den USA.

Abbildung 2: Fremdkapitalaufnahme von Unternehmen im Euroraum, Renditen und Zinsen Quelle: BIZ, Bloomberg, Barclays. Jahresdaten vom 31. Dezember 2004 bis zum 31. Dezember 2019.

Sollten Anleger über die hohe und weiter steigende Verschuldung besorgt sein? Da einerseits immer mehr Fremdkapital aufgenommen wird und andererseits die Fremdkapitalkosten sinken, wird viel über die Schuldentragfähigkeit diskutiert. Ein wichtiger Aspekt hierbei ist, ob Unternehmen, die Fremdkapital aufnehmen, über tragfähige Kapitalstrukturen verfügen. Die Stagnation des Wachstums während der Pandemie hat zu einigen der stärksten BIP-Rückgänge des vergangenen Jahrhunderts geführt, die sich zwangsläufig in deutlich niedrigeren Renditen und Gewinnen niederschlagen werden. Selbst bei niedrigen Zinsen könnte der Schuldendienst für viele Unternehmen ein Problem werden. Zur Komplexität dieser Diskussion trägt auch das verhältnismäßig langsame Wirtschaftswachstum in der Phase zwischen der weltweiten Finanzkrise und der Pandemie bei.

Die Tragfähigkeit der Schulden eines Unternehmens - und damit auch seiner gesamten Kapitalstruktur - ist davon abhängig, ob es seine Schulden bedienen kann, das heißt, ob es in der Lage ist, seine Zins- und Tilgungszahlungen vollständig und fristgerecht zu leisten. Das lässt sich durch die Erwirtschaftung von Cashflows in Kombination mit einer Refinanzierung erreichen. Je höher die Cashflows, desto tragfähiger ist die Schuldenstruktur. Aufgrund des starken Konjunktureinbruchs in diesem Jahr sehen sich viele Unternehmen mit einem wesentlich niedrigeren Aktivitätsniveau und niedrigeren Cashflows konfrontiert.

Die Fremdkapitalkosten sind zwar gering, doch viele Unternehmen waren bereits zu Beginn der aktuellen Krise hoch verschuldet. Wenn sie jetzt weitere Schulden aufnehmen, um diese Rezession zu überstehen, geraten sie dadurch in eine prekäre Lage. Vor diesem Hintergrund versuchen die Zentralbanken, die Zinsen niedrig zu halten und für reichlich Liquidität zur sorgen, und von staatlicher Seite werden sowohl direkt als auch indirekt zusätzliche Kreditfazilitäten für notleidende Unternehmen bereitgestellt.

Wichtig ist auch, wie das Kreditumfeld aussehen wird, wenn die akute Krisenphase hinter uns liegt. Im Nachgang der weltweiten Finanzkrise war zu beobachten, dass es die Unternehmen mit dem Schuldenabbau nicht allzu eilig hatten, nachdem der anfängliche Schock nachließ. Selbst bei äußerst niedrigen Fremdkapitalkosten stellt die Herausbildung einer Gruppe sehr hoch verschuldeter Unternehmen die Anleger am Anleihemarkt vor Herausforderungen, nicht zuletzt aufgrund der Folgen, die eine höhere Verschuldung auf die Zusammensetzung von Indizes hat.

Insolvenzen geben Aufschluss

Die Ausfallquoten sind ein wichtiger Indikator für Kapitalknappheit am Anleihenmarkt. In Abbildung 3 und 4 sind die von Moody's veröffentlichten historischen Ausfallquoten für High-Yield-Anleihen in den USA und Europa sowie prognostizierte Ausfallquoten für ein Basisszenario, ein pessimistisches und ein optimistisches Szenario zu sehen. Im Basisszenario für die USA wird erwartet, dass die Ausfallquoten unter denen während der weltweiten Finanzkrise bleiben, während im pessimistischen Szenario von höheren Ausfallquoten als damals ausgegangen wird.

Abbildung 3: Ausfallquoten US-amerikanischer High-Yield-Anleihen: Basisszenario, pessimistisches und optimistisches Szenario (in Prozent) Quelle: Moody's Investors Service, Monatlicher Bericht über die Ausfallquoten, Juni 2020.

In Europa beruht das Basisszenario auf der Annahme, dass die Ausfallquoten höher als gewöhnlich, aber nicht so hoch wie während der weltweiten Finanzkrise und während der Rezession von 2001 bis 2002 sein werden. Im pessimistischen Szenario hingegen übersteigen die Ausfallquoten das während dieser letzten beiden Krisen erreichte Niveau. Man muss kaum erwähnen, dass die durch das Corona-Virus verursachte Krise weiterhin für viel Unsicherheit sorgt, und zwar sowohl im Gesundheitswesen als auch im Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung. Das Basisszenario, das pessimistische und das optimistische Szenario, die in Abbildung 3 und 4 dargestellt werden, sind mit außergewöhnlich großer Unsicherheit behaftet, weil Regierungen und Zentralbanken nie zuvor erprobte Maßnahmen ergreifen, um den Fortbestand möglichst vieler Unternehmen zu sichern.

Abbildung 4: Ausfallquoten europäischer High-Yield-Anleihen: Basisszenario, pessimistisches und optimistisches Szenario (in Prozent) Quelle: Moody's Investors Service, Monatlicher Bericht über die Ausfallquoten, Juni 2020.

Die steigende Verschuldung hatte auch beträchtliche Auswirkungen auf die Zusammensetzung von Anleiheindizes, denn diese werden auf Grundlage der Marktkapitalisierung, einer für Aktienindizes entwickelten Methode, zusammengestellt. Mit anderen Worten: Für Anleiheindizes ist entscheidend, wie viele Schuldtitel ein Unternehmen oder ein Staat begibt und welches Volumen die Wertpapieremissionen haben. Anleger, die den Index nachbilden möchten, investieren am meisten in die Anleihen der Unternehmen und Staaten, die am stärksten von Fremdfinanzierung abhängig sind. Das bringt eindeutig Risiken mit sich, vor allem wenn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen schwierig sind. Die größten Kreditnehmer könnten ohne Weiteres zur Kategorie der Zombieunternehmen gehören, das heißt Unternehmen sein, die ohne staatliche Unterstützung nicht mehr existieren würden.

Deutlich erhöhtes Indexvolumen

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass sich mit dem Rückgang der Renditen die Zinssensitivität (Duration) von Anleiheindizes erhöht hat. Anleger gehen heute höhere Zinsrisiken als während der weltweiten Finanzkrise ein. Das wird in Abbildung 5 ersichtlich, in der die Entwicklung der Duration im Verhältnis zur Rendite für den Bloomberg Barclays US Aggregate Index und den Euro Aggregate Index dargestellt wird. In den USA ist die Rendite je Durationseinheit rückläufig, vor allem im Jahr 2020, da die Rendite gesunken und die Duration gestiegen ist. Anleger erhalten somit bei Investitionsformen, mit denen Anleiheindizes nachgebildet werden sollen, eine niedrigere Entschädigung je Einheit des Zinsrisikos. Bei den europäischen und globalen Indizes kam es zu einem ähnlichen Rückgang der Rendite je Durationseinheit.

Abbildung 5: Gesamtduration und -rendite in den USA und im Euroraum Quelle: Bloomberg. Monatsdaten vom 30. Juli 2010 bis zum 31. Juli 2020.

Die Zusammensetzung des Bloomberg Barclays US Investment Grade Index hat sich ebenfalls deutlich verändert; der Anteil von Anleihen mit dem Rating BBB (dem niedrigsten Investment-Grade-Rating) ist von rund 30 Prozent im Dezember 2000 auf 37 Prozent im Dezember 2010 und bis Ende 2019 auf rund 50 Prozent angewachsen. Ende Juli 2020 lag er nach wie vor bei rund 50 Prozent. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich das Volumen des Index selbst während dieser Zeit um fast 370 Prozent erhöht hat, nämlich von 1,2 Billionen US-Dollar auf 5,8 Billionen US-Dollar. Gleichzeitig stieg der Anteil von Wertpapieren mit dem Rating AAA an diesem Index um 185 Prozent, der Anteil von Wertpapieren mit dem Rating AA um 88 Prozent, der Anteil von Wertpapieren mit dem Rating A um 303 Prozent und der Anteil ausstehender Wertpapiere mit dem Rating BBB um 653 Prozent.

Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Duration einer Benchmark sich aus den Vorlieben der Emittenten im Hinblick auf die Laufzeitstruktur der Emission ergibt und nicht zwangsläufig der Duration entspricht, die ein bestimmter Anleger gerne in seinem Portfolio hätte. Die optimale Portfolio-Duration für einen Anleger sollte sich aus dem jeweiligen Anlagehorizont und dem Risikoprofil der Person beziehungsweise des Unternehmens und nicht einfach aus den Eigenschaften des Index ergeben. Anders ausgedrückt: Die Duration lässt sich als Exposition gegenüber dem Zinsfaktor betrachten. In diesem Zusammenhang ist die Wahl einer geeigneten Duration für das Anleihenportfolio im Grunde eine Vermögensallokationsentscheidung, die Anleger unter Berücksichtigung ihrer speziellen Umstände treffen sollten.*

Für Anleger, die die Indizes nachbilden möchten, besteht vor allem im aktuellen, schwierigen Konjunkturumfeld eine erhöhte Gefahr, immer mehr minderwertige "Zombie"-Unternehmen, das heißt Unternehmen, die ohne staatliche Unterstützung nicht mehr existieren würden, im Portfolio zu haben.

Risikoreduktion und höheres Alpha

Mit dem unvermeidlichen Anstieg der Zahlungsausfälle während der Rezession werden von nicht nachhaltigen Unternehmen begebene Schuldtitel zwangsweise mit hohen Abschlägen verkauft und bescheren Anlegern Verluste. Bei Marktverwerfungen und schwachem Wachstum ist es besonders wichtig, an den Anleihemärkten zwischen den Gewinnern, das heißt Unternehmen, die sich nicht nur über Wasser halten, sondern erfolgreich sind, und den Verlierern zu unterscheiden.

Die Methode, die bei der Zusammenstellung von Anleiheindizes verwendet wird, sorgt für eine automatische Verzerrung zugunsten der am stärksten verschuldeten Unternehmen, die bei einem Konjunktureinbruch mit höherer Wahrscheinlichkeit nicht tragbare Schuldenlasten anhäufen werden. Passive Portfolios sind auch Veränderungen bei der Indexzusammensetzung ausgesetzt, unter anderem dem Anstieg der Duration und einer niedrigeren Rendite je Durationseinheit.

Mithilfe einer umsichtigen Wertpapierauswahl und anderen Formen des aktiven Managements lassen sich Emittenten und Anleihen einbeziehen, die die Portfoliokonstruktions- und Risikomanagementkriterien erfüllen und die Möglichkeit bieten, das Risiko zu verringern sowie ein höheres Alpha zu erzielen. Dieser Anlageansatz ist angesichts des asymmetrischen Charakters von Anleiherenditen immer zu bevorzugen. Besonders wichtig ist dies in einer Zeit großer Verwerfungen und Unsicherheit.

Fußnote

* Siegel, Laurence B., Benchmarks and Investment Management. Charlottesville, VA, the Research Foundation of the Association of Investment Management and Research, 2003, 89-103.

Lior Jassur Director Fixed Income Research Europa, MFS Investment Management, London
Lars Detlefs CEFA, Geschäftsführer Deutschland, MFS Investment Management, Frankfurt am Main
 
Lior Jassur , Director Fixed Income Research Europa , MFS Investment Management, London
Lars Detlefs , Senior Managing Director, Head of Institutional Sales – EMEA , MFS Investment Management, Frankfurt am Main

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