Auswirkungen des Zinsumfeldes auf den Wohlstand der Deutschen

Hans Joachim Reinke, Vorsitzender des Vorstands, Union Asset Management Holding AG, Frankfurt am Main - In einem Niedrigzinsumfeld, das nicht nur die Zeit seit der jüngsten Finanzkrise prägt, sondern der Tendenz nach schon seit dreißig Jahren existiert, hält der Autor das Sparen nach altem Muster für überholt. Anhand einer neueren Untersuchung zum volkswirtschaftlichen Sparvermögen der privaten Haushalte aus den verschiedenen Segmenten der breiten Mittelschicht verdeutlicht er die Bedrohung des lieb gewonnenen Wohlstands durch ein anhaltend niedriges Zinsumfeld und plädiert für eine Evolution des Sparens unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen. Bei aller Einsicht vieler Anleger in die Notwendigkeit einer Ausweitung der privaten Altersvorsorge sieht er auch den Staat in der Pflicht, ähnlich wie in den angelsächsischen Ländern einen Anreiz zur langfristigen Vermögensbildung zu schaffen. Den Finanzdienstleistern misst er eine wichtige Aufklärungs- und Beratungsfunktion bei, um auch sicherheitsorientierten Anlegern Brücken in den Kapitalmarkt zu bauen. (Red.)

Seit über 30 Jahren befinden sich die langfristigen Zinsen in einem stetigen Sinkflug. Die Gründe hierfür sind vielfältiger Natur und werden teilweise kontrovers diskutiert. Einige machen die demografische Entwicklung in den Industrienationen und den technologischen Fortschritt hauptsächlich dafür verantwortlich. Andere sehen in der wachsenden Verschuldung der westlichen Wohlfahrtsstaaten seit den siebziger Jahren und der seit 2008 ausgebrochenen Finanzkrise den Hauptgrund dafür, dass die Zentralbanken dazu übergegangen sind, die Leitzinsen auf bislang unbekannte historische Tiefstände zu drücken.

Sparen, aber wenig Vermögensbildung

Fakt ist jedoch auch, dass der Weg in das heutige Niedrigzinsumfeld für Anleger, die in Staatsanleihen der Industrieländer investierten, sehr ertragreich war. Denn die sinkenden Zinsen wurden durch die laufenden Kupons und die steigenden Anleihekurse überkompensiert. Diese Entwicklung ist nunmehr zum Erliegen gekommen, jedoch merken die deutschen Sparer erst allmählich, was das für sie bedeutet.

Wenn man sich das Geldvermögen der deutschen Haushalte anschaut, so fallen einem gleich mehrere Dinge ins Auge. Von den 5,2 Billionen Euro sind 81 Prozent zinslastig angelegt in Form von Bargeld, Termineinlagen, festverzinslichen Wertpapieren oder kapitalbildenden Versicherungen. Die Deutschen sparen im internationalen Vergleich mit durchschnittlich 9 Prozent ihres Nettoeinkommens immer noch relativ viel, auch wenn ihre Sparquote in den letzten Jahren leicht gesunken ist. Während Deutschland 2012 im Euroraum beim BIP je Einwohner auf dem sechsten Platz lag, hatte es zugleich beim Median-Haushaltsvermögen nur Rang 16 inne und rangierte damit hinter Ländern wie Griechenland, Portugal und sogar der Slowakei.

Dieser Befund lässt nur einen Schluss zu: Die Deutschen sparen, bilden aber kein Vermögen mehr! So betrug der Vermögenszuwachs privater Haushalte im Jahr 2013 real nur noch 0,2 Prozent. Der Nominalzins bei 10-jährigen Bundesanleihen beträgt 1,3 Prozent. Dies belegt eindrucksvoll, dass die alten Muster in der Geldanlage nicht mehr greifen. Noch in den neunziger Jahren lag diese nominale Verzinsung von Bundesanleihen bei durchschnittlich 6,6 Prozent. So konnten Sparer mit Rentenanlagen in zwölf Jahren ihr Erspartes verdoppeln, heute brauchen sie dafür 72 Jahre. Die Zeit hat keiner!

Die Analyse der deutschen Mittelschicht

Kann man jedoch überhaupt noch von dem "deutschen Sparer" sprechen? Galt früher noch generell durch alle Schichten hindurch das Sparen als Tugend, gemäß dem Motto "spare in der Zeit, dann hast Du in der Not", so sieht die Gesellschaft heute bunter aus und damit auch ihre Sparziele. Es existieren verschiedene Lebensmodelle nebeneinander. Da das volkswirtschaftliche Sparvermögen der privaten Haushalte hauptsächlich von der breiten Mittelschicht gebildet wird, hat sich das Handelsblatt Research Institute 2014 im Auftrag von Union Investment mit den verschiedenen Milieus der Mittelschicht, ihren heterogenen Zielen und Verhaltensweisen auseinandergesetzt. Grundlage der Untersuchung waren die Daten des Sozio-Ökonomischen Panels (SOEP), einer jährlich durchgeführten Wiederholungsbefragung von Privathaushalten und die in der Marktforschung etablierten "Sinus-Milieus" des Heidelberger-Sinus-Instituts. Während sich Erstere gut zur Analyse der Verschiebung der Einkommensverhältnisse eignen, lassen die Sinus-Milieus Schlüsse auf die Wertvorstellungen, die unterschiedliche Risikobereitschaft und die materiellen Bedürfnisse der Mittelschicht zu.

Der erste Befund ist, dass sich die deutsche Gesellschaft grobschnittartig in drei Schichten einteilen lässt, die über die Zeit in ihrer Größenrelation zueinander relativ unverändert geblieben sind: Während jeweils 20 Prozent zur Ober- beziehungsweise Unterschicht gezählt werden können, bildet die Mittelschicht mit 60 Prozent den größten Anteil an der Gesamtbevölkerung in Deutschland. Zur Mittelschicht werden nach gängiger Konvention alle privaten Haushalte in Deutschland gezählt, die ein äquivalenzgewichtetes Nettoeinkommen zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren Einkommens (Medianeinkommen) vorweisen können. Allen Unkenrufen einer schrumpfenden Mittelschicht zum Trotz ist sie damit heutzutage noch genauso groß wie in den achtziger Jahren.

Ein weiteres gewichtiges Ergebnis ist, dass die Lebensstile und somit das jeweilige Milieu einen größeren Einfluss auf das Sparverhalten hat, als beispielsweise der Bildungsstand oder das Einkommen. Welche Milieus bilden nun die Mittelschicht? Insgesamt können fünf Sinus-Milieus der Mittelschicht zugeordnet werden: Dies sind die Traditionelle Mitte, die Bürgerliche Mitte, die Sozialökologische Mitte, die Adaptivpragmatische Mitte und die Hedonistische Mitte.

Fünf Milieus

Die Traditionelle Mitte stellt mit 10,8 Millionen Bürgern (15,3 Prozent der Gesamtbevölkerung) derzeit noch das größte und mit einem Durchschnittsalter von 68 Jahren älteste Milieu dar. Es speist sich aus dem Kleinbürgertum und der Arbeiterschaft und besitzt mit durchschnittlich 1 893 Euro das niedrigste Haushaltsnettoeinkommen der Mittelschicht. Die Sicherheit und Ordnung liebende Kriegs- und Nachkriegsgeneration ist tief in Traditionen verwurzelt. Für ihre Mitglieder gilt, dass sie wirtschaftlich versorgt sind. Daher weicht das Sparverhalten deutlich von dem anderer Milieus ab.

Altersvorsorge steht bei der Traditionellen Mitte nicht mehr im Fokus, denn drei Viertel fühlen sich ausreichend abgesichert. Mehr als ein Drittel wohnt im Eigenheim. Bevorzugt werden sichere und liquide Geldanlagen. Dabei steht klar das Ziel im Vordergrund, Erreichtes zu bewahren - gerade auch für potenzielle Erben. Weitere Sparanlagen als die vorhandenen sind nicht geplant. Dementsprechend gering ist das Interesse an Geldanlageinformationen.

Der Bürgerlichen Mitte lassen sich 9,9 Millionen Bürger (14,0 Prozent) zurechnen. Ihre Mitglieder sind im Schnitt 51 Jahre alt und beziehen ein durchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen von 2 499 Euro. Das Zentrum der deutschen Mittelschicht strebt sichere und harmonische Verhältnisse an. Angehörige dieses Milieus haben sich vielfach bereits sozial und beruflich etabliert. Überdurchschnittlich häufig verfügen sie daher auch über eine eigene Wohnimmobilie. Sie sparen am regelmäßigsten und am intensivsten. Es sind so gut wie alle Sparformen verbreitet, dabei dominieren jedoch sichere und liquiditätsorientierte Anlageformen.

Im bürgerlichen Milieu leben überdurchschnittlich viele Fondssparer. Sie hat eine ausgeprägte Affinität zu Immobilien, die sich auch in den Depots widerspiegelt. Die Bürgerliche Mitte hat ein ausgesprochen hohes Sicherheitsbedürfnis - dies zeigt sich sowohl bei den Anlagepräferenzen als auch bei der finanziellen Absicherung von Vermögenswerten sowie der eigenen Erwerbs- und Leistungsfähigkeit. Die komfortable Ausstattung der Haushalte mit Konten und anderen Geldanlagen hat allerdings zur Folge, dass der aktuelle Bedarf als weitgehend gesättigt angesehen werden kann.

Sozialökologische Mitte: das kleinste Lager

Die Sozialökologische Mitte stellt mit 5,0 Millionen Bürgern (7,2%) das kleinste Lager der Mittelschicht dar. Ihre Mitglieder sind im Schnitt 50 Jahre alt und erzielen ein durchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen von 2 591 Euro. In keinem anderen Milieu ist die Wertorientierung so stabil ausgeprägt wie im Sozialökologischen. Hier sind besonders viele Akademiker und Beamte vertreten, die im nächsten Jahrzehnt aus dem Erwerbsleben ausscheiden werden. Viele besitzen Immobilien und haben breit vorgesorgt. Häufig werden weitere Geldanlagen nicht geplant. Größeres Geldvermögen hat in diesem Milieu eine vergleichsweise untergeordnete Bedeutung. Es besteht eine Präferenz für nachhaltige Anlagen. Auffällig ist der relativ hohe Anteil an Fondsbesitz in diesem Milieu.

Das Adaptivpragmatische Milieu bildet mit 6,3 Millionen Menschen (8,9 Prozent) die leistungsbereite moderne Mitte der Gesellschaft. Ihre Mitglieder sind im Schnitt 38 Jahre alt und verfügen mit einem durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen von 2 638 Euro über das höchste Einkommen der Mittelschicht. Ihre Mitglieder sind anspruchsvoll, zielorientiert und wollen die Kapitalanlagen optimiert wissen. Dieses Milieu verfügt über ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl, gepaart mit großer Anstrengungsbereitschaft. Man schafft es, traditionelle Werte und gesellschaftliche Modernisierung miteinander zu kombinieren. Dabei befinden sich viele in einer beruflichen oder familiären Aufbauphase. Vorsorgesparen ist nicht sonderlich stark ausgeprägt.

Hedonisten

Ihr gegenüber steht die spaßorientierte untere Mitte der Hedonisten mit 10,6 Millionen Menschen (15,1 Prozent). Sie ist durchschnittlich genauso alt wie die Adaptivpragmatische Mitte und bezieht ein durchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen von 2 411 Euro. Wohlstandssicherung steht in diesem Milieu noch nicht auf der Agenda. Hier geht es weniger um Besitz, und das hat zwangsläufig Auswirkungen auf das Sparverhalten. Denn das Leben im Hier und Jetzt lässt nur wenig Raum für die langfristige Vermögensplanung. Daher ist das Anlageverhalten unregelmäßig und wenig zielorientiert.

Eine Ausnahme bildet das Bildungssparen, zu dem Hedonisten am ehesten bereit sind. Die Haushalte agieren in der Geldvermögensbildung zwar eher ziellos, sind aber dennoch anspruchsvoll. Der vergleichsweise späte Eintritt in das Erwerbsleben erfordert ein Sparen in renditestarken Anlagen, um ein nennenswertes Geldvermögen zu bilden. Dem kommt eine risikofreudigere Anlageeinstellung entgegen. Bekannt ist zudem ein hohes Interesse an Börsendaten. Starre Angebote werden nicht angenommen. Es bedarf größerer Flexibilität.

Versucht man, die Bedeutung der einzelnen Milieus in Zukunft fortzuschreiben, so ist schon aus rein demografischen Gründen nachvollziehbar, dass bis 2025 die Bedeutung der Traditionellen und Bürgerlichen Mitte abnehmen wird. Die Sozialökologische Mitte wird stabil bleiben und die beiden jungen Milieus, die Adaptivpragmatische und die Hedonistische Mitte an Bedeutung gewinnen. Beide entwickeln sich zu Trendsettern mit Vorbildcharakter für heranwachsende Generationen. Hier wird das Sparverhalten der Zukunft geprägt. Die beiden Milieus werden aller Voraussicht nach ihre Einstellungen in Finanzfragen auch mit zunehmenden Alter behalten und ihre Nachkommen beeinflussen. Denn aus anderen Studien ist bekannt, dass 70 Prozent der Finanzentscheidungen mit Familienmitgliedern und Freunden diskutiert werden.

Evolution des Sparens notwendig

Zurück zum Ausgangspunkt der Überlegungen: Das Niedrigzinsumfeld bedroht zunehmend den Wohlstand insbesondere der Mittelschicht. Denn das Anlageverhalten von gestern, dass auf einem funktionierenden Zinseszinseffekt beruhte, führt heute zu einer dramatischen Fehlallokation und beschert morgen vielen Deutschen eine Wohlstandslücke. Leider ist diese Einsicht bei den meisten Menschen noch nicht angekommen. Nach Ergebnissen des Anlegerbarometers, in dem Union Investment seit 2001 quartalsweise 500 Finanzentscheider deutscher Privathaushalte befragt, hat die überwiegende Mehrheit das Problem noch gar nicht realisiert; nur knapp ein Drittel wollen sich deshalb mit ihren Finanzanlagen neu auseinandersetzen. Dies ist ein alarmierender Befund. Denn das Niedrigzinsumfeld wird noch eine Weile erhalten bleiben. Mit nennenswerten Zinssteigerungen seitens der EZB ist in diesem Jahrzehnt nicht mehr zu rechnen.

Darüber hinaus gibt es noch andere bedeutende Entwicklungen, die Einfluss auf die Vermögenssituation der Deutschen haben werden. Denn aufgrund der demografischen Entwicklung wird der Staat sukzessive Leistungen in wichtigen Lebensbereichen auf eine Grundversorgung reduzieren müssen oder die Beiträge werden steigen. Stichworte sind hier Bildung, Gesundheit, Pflege und Vorsorge fürs Alter.

Um diesen Herausforderungen erfolgreich begegnen zu können, ist eine Evolution des Sparens notwendig. Hier sind nicht nur der einzelne Anleger und vor allem die Finanzdienstleistungsindustrie gefragt. Denn der Bürger benötigt bei der Sicherung seines Wohlstands auch die Unterstützung der Politik. Es hat sich gemeinhin im Denken der Politik eine absurde Idee breitgemacht, man müsse zwischen Altersvorsorge und Vermögensaufbau unterscheiden. Da klingen ideologische Vorbehalte durch nach dem Motto "Altersvorsorge ist für alle, Vermögensaufbau können sich nur Reiche leisten". Nichts könnte falscher sein, als dieser Gedanke. Beide Begriffe sind praktisch synonym, denn ohne Vermögen auch keine Vorsorge im Alter. Zwar hat die Politik mit der Riester-Rente einen Schritt in die richtige Richtung getan. Dies reicht jedoch noch nicht aus. Deutschland braucht einen breiten Anreiz zur langfristigen Vermögensbildung.

Schlüsselrolle für die Beratung

Anstatt beispielsweise die Bildung von Eigenkapital in Form der Aktie durch Maßnahmen wie der Abgeltungssteuer oder der immer noch nicht zu Grabe getragenen Finanztransaktionssteuer zu diskriminieren, wären Instrumente wie die 401k-Pläne in den USA oder die ISA-Season in Großbritannien Vorbilder, wie man den Sparer zusätzlich ermutigen könnte, Kapital in chancenreicheren Anlageformen zu bilden. Damit diesem ein auskömmlicher Lebensstandard auch im Alter gewährleistet sein wird.

Für die Union Investment als Vermögensverwalter liegt der Schlüssel für einen erfolgreichen Wandel der Sparkultur darin, die Bedürfnisse mit den passenden Anlagen zusammenzubringen. Dabei kommt der Beratung eine Schlüsselrolle zu. Ziel muss sein, dass Anleger sich zuerst über ihre Ziele klar werden und gemeinsam mit dem Berater die passende Lösung finden. Warum mit dem Berater? Die Praxis zeigt, dass Anlageentscheidungen ein schwieriges und kompliziertes Thema sind, bei dem sich viele Menschen der Unterstützung eines Experten bedienen. Wie die Studie zeigt, schätzt gerade die jüngere Mittelschicht den Wert von Beratung. Aber es gilt, auch sicherheitsorientierten Anlegern Brücken in den Kapitalmarkt zu bauen, damit sie den erforderlichen Mehrertrag erzielen und ihre Anlageziele erreichen. Durch die Kombination von Ertrag und Absicherung lassen sich Vorbehalte abbauen und so die Möglichkeit eröffnen, eine Rendite oberhalb der Inflationsrate zu erzielen. Nur so wird sich auch zukünftig der Wohlstand der Bürger sichern lassen.

Hans Joachim Reinke , Vorsitzender des Vorstands , Union Investment, Frankfurt am Main
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