Der Brexit und die Folgen für Frankfurt

Hubertus Väth Foto: Frankfurt Main Finance

Der konkrete Vollzug des Brexits und die Konsequenzen für Großbritannien und den Rest der Welt sind immer noch nicht klar. Obwohl mittlerweile die große Euphorie vorbei ist und man nicht mehr von Zahlen wie dem Umzug von 20 000 Beschäftigten an den Main redet, wird der Austritt der Briten aus der EU den Finanzplatz Frankfurt trotzdem stärken. Der Autor sieht die Situation als Chance für Frankfurt zur Selbstbesinnung auf Stärken wie die gute Infrastruktur und neben der EZB auch die Beheimatung wichtiger europäischer Aufsichtsbehörden wie die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) und der Europäische Ausschuss für Systemrisiken (ESRB). Zudem thematisiert er die guten Voraussetzungen für den Standort Frankfurt im Ringen um den Zuschlag bei der notwendigen Verlagerung des Euro-Clearings in die EU. (Red.)

Frankfurt am Main hat als Handels- und Finanzplatz eine lange, mitunter wechselvolle Geschichte. Der Dax, der die dreißig größten und umsatzstärksten deutschen Aktiengesellschaften repräsentiert, schreibt darin ein wichtiges Kapitel in der jüngeren Zeit. Mit dem Brexit, so viel ist heute schon klar, kommt ein weiteres bedeutendes Kapitel hinzu. Das bevorstehende Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) und die damit einhergehende veränderte Rolle Londons als bislang führender Finanzplatz in der EU, werfen viele Fragen zur künftigen Finanzarchitektur Europas auf.

Brexit als Selbstbesinnung

Für die Stadt Frankfurt bietet der Brexit vor allem Anlass zur Selbstbesinnung darauf, welches Potenzial sie als Finanzstandort zukünftig ausschöpfen kann. Über den Standort Frankfurt mit Sitz der Deutschen Börse ist die deutsche Wirtschaft mit den internationalen Finanzmärkten eng verwoben. Hier am Finanzplatz manifestiert sich die Verbindung zwischen Industrie, Handel und Finanzbranche, ablesbar am Dax und den Zinsen als Barometer für das Vertrauen der Akteure in zukünftiges Wachstum oder auch politische Weichenstellung. In einer enger zusammenrückenden EU ist jetzt mehr Verantwortung gefragt, um die sich bietenden Chancen dieser tief greifenden Veränderung zu nutzen.

Vor fast genau zwei Jahren, am Morgen nach dem Brexit-Referendum in Großbritannien, war in der EU nichts mehr wie zuvor. Erst nach und nach wird klar, was alles von der Entscheidung am 23. Juni betroffen ist. Ein Erkenntnisprozess, der bis heute anhält.

Historische Chance für Frankfurt

Über viele Jahre hatte London die Position als führender Finanzstandort in Europa und weltweit auf- und ausgebaut und dabei schrittweise von anderen Finanzplätzen auf dem europäischen Kontinent Funktionen und Personal abgezogen. Das sogenannte Passporting bot international agierenden Banken die Möglichkeit, mit einer Zulassung in Großbritannien von der Themse aus Geschäfte in der gesamten EU zu machen. Die führende Rolle Londons als Finanzplatz von weltweitem Gewicht steht durch den Brexit zwar nicht fundamental auf dem Spiel, dennoch wird der Standort spürbar geschwächt werden.

Das Passporting gilt nicht mehr, wenn Großbritannien den Brexit vollzogen hat. Etwa drei Dutzend internationale Banken haben bereits reagiert, allen voran die großen amerikanischen Investmentbanken, aber auch ihre Pendants aus Japan, der EU und anderen Ländern. Sie verlagern Geschäft und zunehmend auch Arbeitsplätze von Großbritannien in andere Finanzzentren der EU, ganz überwiegend nach Frankfurt. Bislang haben bereits mehr als 20 Institute für die Rhein-Main-Region optiert, weitere werden folgen.

Das hat gute Gründe: Der Finanzplatz am Main und die Region Rhein-Main punkten bei den Standortentscheidungen vor allem mit rationalen Argumenten: einem AAA-Rating des Landes, einer guten Vernetzung unter den in Frankfurt ansässigen knapp 250 Finanzinstituten und den mehr als 150 ausländischen Banken und Repräsentanzen, zahlreiche Forschungseinrichtungen im Wirtschaftsund Finanzbereich, mit im internationalen Vergleich günstigen Mieten für Büro- und privaten Wohnraum, mit sehr guter Verkehrsinfrastruktur, vielen, an etlichen Universitäten und Fachhochschulen der näheren Umgebung ausgebildeten Nachwuchskräften, mit Zugriff auf einen Talentpool von rund 75 000 qualifizierten und spezialisierten Fachkräften im Finanzsektor und nicht zuletzt mit hoher Lebensqualität.

Monolith London als Auslaufmodell?

Die Verlagerung von Geschäft an den Main, die Aufwertung Frankfurts als Europazentrale vieler Banken ist zwar ein wichtiger Aspekt des Brexits, aber es gibt noch mehr strukturell bedeutsame Folgen. Im Grunde ist die um London zentrierte monolithische Finanzarchitektur der EU ein Auslaufmodell mit festgesetztem Verfallsdatum am 31. Dezember 2020 - Nachfolge ungeklärt. Damit sind zunächst folgende Fragen verbunden: Wer kann, wer muss welche Funktionen übernehmen, um für ausreichende und günstige Finanzierung von Handel und Industrie in der EU zu sorgen? Wie sichern wir die Stabilität des Finanzsystems? Wie verteilen wir die Verantwortung?

Der Finanzplatz Frankfurt steht nun spürbar und viel bewusster in Konkurrenz mit anderen Finanzplätzen in Kontinentaleuropa, mit Paris, Amsterdam, Dublin, Warschau, Mailand, Madrid. Rund 850 Interviews mit Medien aus fast 100 Ländern, die allein die Finanzplatzinitiative Frankfurt Main Finance seit dem Referendum zum Thema Brexit gegeben hat, sprechen eine deutliche Sprache. Man schaut auf diese Stadt.

Besonders hervorzuheben ist dabei das kritische Element des Euro-Clearings, die technische Abwicklung der auf Euro lautenden außerbörslichen Zinsderivate, von denen im vergangenen Jahr in London, Paris und Frankfurt Geschäfte im Gegenwert von umgerechnet gut 750 Billionen Euro verrechnet wurden. Ausgerechnet Großbritannien vereint über 90 Prozent des gesamten Volumens im Euro-Clearing auf seine in London ansässige zentrale Gegenpartei.

Clearing als wichtige Säule

Nach einem "hard Brexit" - also einem Austritt ohne Verhandlungsergebnis - wäre Großbritannien aber als Standort regulatorisch ein "Drittland" zur EU und dem Eurosystem. Zukünftig könnte also ein für die Liquidität des Finanzmarktes im Eurosystem zentraler Bestandteil der direkten Aufsicht durch die EZB entzogen sein. Dies bedeutet, dass Risiko und Haftung unter verschiedene Zuständigkeiten fallen. Im Krisenfall hieße dies, dass deutsche beziehungsweise EU27-Steuergelder in massivem Umfang zur Rettung in London eingesetzt werden müssten - ohne die Konditionen bestimmen zu können. Aus Sicht privater Investoren entstünde damit ein erheblicher Unsicherheitsfaktor für ihre langfristig angelegten Vermögen.

Die hinter dem Euro-Clearing stehenden Kontrakte werden zum großen Teil von Asset Managern, oft Pensionsfonds, abgeschlossen, um das investierte Vermögen privater Anleger gegen Zinsänderungsrisiken zu sichern. Gerade wegen der Auswirkungen der Finanzkrise auf private Vermögen wurde eine Pflicht zur Abwicklung dieser außerbörslichen Derivategeschäfte über zentrale Clearing-Parteien eingeführt. Sie dient der Sicherung von akkuratem Risikomanagement und unterstützt die Vermeidung von Dominoeffekten für das Finanzsystem, falls in den international verflochtenen Transaktionen ein Beteiligter in eine Schieflage gerät.

Verlagerung der Abwicklung nach Europa

Mithin sind Clearing-Häuser zu einer absolut zentralen Säule des modernen Finanzsystems geworden. Die EZB als Hüterin des Eurosystems wäre bei einem Ausfall-Event in der Pflicht, entsprechende Liquidität zur Stabilisierung bereitzustellen und zentrale Clearing-Parteien zu beaufsichtigen. Dieser Mechanismus greift so nicht bei einem Ausfall eines EU-basierten Clearing-Mitglieds in einer Clearing-Stelle in Großbritannien, also außerhalb des Eurosystems.

Um diese regulatorisch offene Flanke zu schließen und sicherzustellen, dass EU-Regulierungsbehörden auch nach dem Brexit Zugriff auf die für die Stabilität so kritische Abwicklung der außerbörslichen Euro-Derivategeschäfte haben, sind sich die EU-Institutionen einig, dass unter bestimmten Voraussetzungen eine Zwangsverlagerung des Clearings in die EU angeordnet werden muss. Für eine verbindliche Regelung müssen sich nun die EU-Institutionen innerhalb des sogenannten "Trilogue"-Prozesses auf die Änderung einigen. Nach dem Brexit müsste jeder Verbleib des Geschäftes in London auf regulatorischer Äquivalenz und Kooperation fußen.

Die Geschwindigkeit, mit der sich Informationen an den Finanzmärkten zu Ereignissen wandeln, deckt jedoch den zentralen Schwachpunkt dieser Lösung auf: Kritische Situationen an den Finanzmärkten werden zunehmend durch die programmierten Entscheidungen von Handelsalgorithmen geprägt, deren Umsetzung an den Börsen in Sekundenbruchteilen erfolgt. Kapitalmarktakteure würden in einer destabilisierten Lage nicht auf das Ergebnis eines Auskunftsersuchens der EZB bei der Bank of England warten wollen. Das wirft die Frage auf, ob eine kooperative Aufsicht von Behörden verschiedener Rechtsräume im Fall des Euro-Clearings ausreichend sein kann.

Die Verlagerung des Euro-Clearings an einen kontinentaleuropäischen Finanzplatz unter der Aufsicht der EZB brächte dagegen eine unmittelbare Handlungsfähigkeit der Aufseher, die im Ernstfall europäische Investoren und private Altersvorsorgevermögen besser schützen könnte. Kritiker dieser Lösung stellen häufig die mit der Verlagerung verbundenen Mehrkosten in den Vordergrund. Dabei wird oft mit horrenden Beträgen gearbeitet, die sich nicht nachvollziehen lassen. Rein theoretisch ist die monopolartige Struktur, wie sie heute in London existiert, potenziell effizient. Wir wissen aber auch, dass Monopole weniger innovativ sind und den Effizienzvorteil in der Regel eher vereinnahmen als an die Kunden weiterzugeben.

Aufsicht: günstige Ausgangslage für Frankfurt

Die in London gerne aufgemachte Kostenrechnung ist also überzogen, statisch und trägt der Zielsetzung des Clearing-Erfordernisses infolge der Finanzkrise 2008, Finanzmarktstabilität zu gewährleisten, unzureichend Rechnung. Gegen eine solche Kostenbetrachtung haben sich sowohl der Bundesfinanzminister, Vertreter der Bundesbank als auch der EZB deutlich ausgesprochen. Man kann die Sicherheit des Eurosystems schlecht gegen wenige Basispunkte bei der Geschäftsabwicklung aufrechnen. Bedenkt man, dass ein erneuter Krisenfall an den Finanzmärkten die Glaubwürdigkeit der europäischen Institutionen erschüttern könnte, sollte das Ziel der Finanzmarktstabilität nicht hinter der legitimen Gewinnorientierung einzelner Clearing-Mitglieder zurückstehen. Außerdem ist anzuführen, dass die Eurex Clearing in Frankfurt die gleiche Brief-Geld spanne verzeichnet, wie das London Clearing House. Dies heißt aus Endnutzerperspektive, dass die Kosten de facto identisch sind und die von London getriebene Kostendiskussion hinfällig ist.

Für den Fall der Verlagerung des Euro-Clearings in die EU wäre der Finanzplatz Frankfurt eine echte Alternative zu London, nicht zuletzt wegen der Banklizenz der Eurex als zentraler Clearing-Partei, die so über eine direkte Anbindung an die EZB als den Lender of Last Resort verfügt. Sollte durch den Ausfall eines Clearing-Teilnehmers innerhalb der zentralen Gegenpartei eine Schieflage entstehen, wäre die unmittelbare und unverzügliche Stabilisierung des Eurosystems sichergestellt. Auch die räumliche Nähe zur EZB hätte in der realen Krisenbewältigung sicherlich Vorteile.

Aus Sicht institutioneller Asset Manager böten sich aus der Abwicklung außerbörslicher Zinsderivate über die Eurex Clearing sogar substanzielle Kostenvorteile zugunsten der Vermögen privater Anleger. Das Liquiditätsmanagement über ein Zentralbankkonto verschafft dem Clearing über die Eurex-Plattform einen Risikovorteil zugunsten der Anleger. Und sowohl das Pooling als auch die Verrechnung der hinterlegten Sicherheiten für börsliche und außerbörsliche Geschäfte bringen Anlegern niedrigere Finanzierungskosten.

Strukturelle Vorteile

Der Finanzplatz Frankfurt ähnelt in seinem allgemeinen Aufbau ohnehin schon stark der Infrastruktur Londons. Die großen internationalen Finanzhäuser haben hier ihre zweitwichtigste Präsenz unter den europäischen Metropolen angesiedelt. Zudem sind neben der EZB und der Bundesbank, der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung und der BaFin auch wichtige europäische Aufsichtsbehörden wie die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung (EIOPA) und der Europäische Ausschuss für Systemrisiken (ESRB) am Standort vertreten.

Kurze Wege bestimmen in Frankfurt die physische und digitale Kommunikation. Davon profitiert sogar die moderne optische Technologie für die Datenübertragung. Mit dem weltweit führenden Internetknotenpunkt verfügt Frankfurt längst über die Sicherheit, Verfügbarkeit und das Tempo im Datenverkehr zur Abwicklung zeitkritischer Börsentransaktionen.

Zeit für Verantwortung

Zukunftsfähigkeit beruht allerdings auf mehr als auf der Schaffung einer hervorragenden Infrastruktur. Nach dem Brexit braucht der Finanzplatz Frankfurt eine selbst bewusste Vision oder ein hochgestecktes Ziel mit dem festen Willen, international eine wichtigere Rolle einzunehmen. Dafür spricht vor allem: Frankfurt repräsentiert die stärkste Volkswirtschaft der Eurozone an den internationalen Kapitalmärkten; diese spielen eine beherrschende Rolle in unserem modernen Wirtschaftssystem und stellen ein kritisches Element im Kontext wesentlicher gesellschaftlicher Herausforderungen dar. Auch, wenn noch viel zu tun bleibt, Frankfurt am Main wächst Stück für Stück an seinen neuen Herausforderungen. Es hat nicht nur dem Dax zu einer Erfolgsgeschichte verholfen, sondern sich einen bedeutenden Platz im internationalen Wirtschafts- und Finanzgefüge erobert. Jetzt ist es an der Zeit für den nächsten Schritt, sich mehr zuzutrauen. Frankfurt kann mehr. Die Rhein-Main-Region kann mehr. Der Brexit hat eine Krise ausgelöst, Frankfurt sollte nicht nur dazu beisteuern sie zu lösen - sondern diese Krise aktiv zur eigenen Ausgestaltung nutzen.

Hubertus Väth Geschäftsführer, Frankfurt Main Finance, Frankfurt am Main
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