C(S, X) = S·N(d1) - X·e-rT ·N(d2): Ist eine Formel schuld an der Finanzkrise?

Dr. Volker Bieta, Unternehmensberater, Berlin, und Lehrbeauftragter für Finanzmathematik und Spieltheorie, Technische Universität Dresden - 40 Jahre nach der Publikation der Black/ Scholes-Formel stößt die Finanztheorie an Grenzen. Stochastische Finanzmodelle gelten wegen der Zurückweisung durch empirische Daten als (Mit-)Auslöser und Beschleuniger von Krisen. Aus Sicht des Autors besteht die Gefahr, dass die Finanztheorie unter dem Rubrum "rigorous mathematical" zum mathematischen Glasperlenspiel wird. Seine grundsätzliche Frage: Wollen (können!) Finanz-Ökonomen Kritik, die fundamental ist, nicht verstehen? Er weist darauf hin, dass es hoch riskant sein kann, die universelle Gültigkeit einer Formel zu postulieren, das heißt sie auch dort anzuwenden, wo sie nicht mehr gelten kann oder schon längst außer Kraft gesetzt ist. In diesem Sinne plädiert er für eine Ergänzung durch die Spieltheorie. (Red.)

Russells Truthahn-Metapher erklärt, warum das Leben mit Illusionen nicht sorglos ist. Beim Truthahn festigt das tägliche Füttern ein Weltbild, das (zumindest in Nordamerika!) Weihnachten plötzlich revidiert werden muss. Am Finanzmarkt steht die Truthahn-Illusion für den Irrtum, dass viele Bestätigungen einer Annahme deren Wahrscheinlichkeit steigert und aus einer endlichen Menge von Beobachtungen auf das Allgemeingültige des scheinbar erkennbaren Sachverhaltes geschlossen werden kann.

Markt- oder Theorieversagen?

Die Härte dieser Realität zeigte der LTCM-Crash im Jahr 1998. Was war geschehen? Damals ließ sich ein Portfolio so steuern, dass es nur an Kurssteigerungen teilnahm. Als durch die russische Krise die Kurse unerwartet stärker als berechnet schwankten, verstärkten Investoren, die aufgrund der Basel-Regularien ihre Risiken synchron mit ähnlichen Modellen berechneten, durch hektische Reaktionen den Down-Effekt um ein Vielfaches. Das statistisch Unwahrscheinliche war nicht mehr unmöglich. Es kam zum Crash, als Fonds als Konsequenz der Strategie massiv Papiere verkaufen mussten.

Versagte 1998 der Markt oder die Theorie? Sicher ist, dass beim ersten spektakulären Versagen der quantitativen Methoden nicht objektive Wahrscheinlichkeiten (exogene Störungen), sondern kollektive Systemrisiken (endogene Störungen) das Extremereignis schufen, das nach der Normalverteilung sehr unwahrscheinlich ist. Dass Finanzkrisen keine Naturkatastrophen sind, sondern zu 100 Prozent von Menschen verursacht werden, und Verhaltensrisiken keine Anomalien einer Theorie sind, die nur kurzfristig aus den Fugen geraten ist, zeigte zehn Jahre später in desaströser Form dann die Subprimekrise. Wieder führte individuell rationales Verhalten zu kollektiv unerwünschten Ergebnissen. Beste Strategien waren plötzlich nachrangig, da das Verhalten (Herding) der Marktteilnehmer erneut die Hypothesen verschob, die den Berechnungen zugrunde lagen.

Was war geschehen? Als die Profite aus der Verpackung und Weiterreichung von Krediten schlechter Bonität im Sog der US-Immobilienblase einbrachen und Rückkoppelungsschleifen die Abwärtsentwicklung im Finanzsystem verstärkten, sorgte ein tiefes Misstrauen im Interbankenmarkt dafür, dass mit dem Kreditprozess auch die Finanzierung von Investitionen und Handel zum Erliegen kam. Die Tatsache, dass Endogenität und nicht Exogenität für Instabilitäten im Finanzsystem sorgt, ist nicht trivial: Noch immer erkennen Finanzmodelle Blasen so wenig wie Truthähne Thanksgiving. Noch immer ist die Überzeugung ungebrochen, dass Dank der unfehlbaren Mathematik fast jede Wette als annehmbar (hedgebar) erscheint und theoretische Resultate nur zügig in Produktvielfalt zu transformieren sind. Wie kam es zur Formel des Eingangs?

Das Fundament

Die Mathematisierung der Finanzmärkte begann, als Bachelier im Jahr 1900 die Dissertation "Théorie de la spéculation" vorlegte. Als er an der Pariser Börse keine statistischen Regelmäßigkeiten fand, um eine Bewertungsformel für Rentes (eine Art Bundesanleihen) anzugeben, folgerte er, dass Kurse so verlaufen müssten, als wären sie zufällig erzeugt worden. Er nahm einen Diffusionsprozess an, der zur Brown'schen Bewegung führt. Danach werden Aktienkurse von den Transaktionen am Markt genau so zufällig bewegt, wie in Flüssigkeiten suspendierte Teilchen durch ungerichtete Stöße anderer Teilchen zufällige Wege zurücklegen. Die Zitterbewegungen der Teilchen (Kurse) folgen einer Normalverteilung. Da keine Richtung bevorzugt wird, sind Kursprozesse reine Zufallsbewegungen (Random Walks). In Bachelier-Welten gleicht das Marktgeschehen dem Heimweg eines Betrunkenen: Jeder seiner Schritte ist schwer vorhersagbar. Ungewiss ist der Weg, den er wählen wird. Gewiss ist nur, dass er ein Ziel hat. Dies kombiniert stochastische Prozesse mit deterministischen Trendkomponenten.

Formal abgeschlossen wurde Bacheliers Arbeit im Jahr 1923 von Wiener. Er bewies die Existenz der Brown'schen Bewegung. Zuvor hatte Einstein im Jahr 1905 die Bewegung eines Schwebeteilchens in Raum und Zeit als Diffusionsprozess durch eine aus der molekularkinetischen Theorie der Wärme abgeleitete partielle Differenzialgleichung beschrieben. Dass Bachelier Eigenschaften der Brown'schen Bewegung vor Einstein bewies, ist bemerkenswert. Die Analogien zur Physik in Form der heutigen Finanzmechanik haben hier ihre Wurzeln. Zentral ist der Schluss: Werden auf der atomaren Ebene die Zusammenhänge gut verstanden, werden auch die Dynamiken der Finanzmärkte gut verstanden.

Die Brown'sche Bewegung ist der Prototyp des reinen Zufalls im Zeitablauf. Für die Stochastik hat die Brown'sche Bewegung die gleiche Bedeutung wie die Normalverteilung für die Wahrscheinlichkeitstheorie. Erstere ist anzusetzen, wenn die Kraft für Veränderungen von Zuständen keine räumliche Richtung bevorzugt und in ihren Wirkungen von der Vergangenheit unabhängig ist; Letztere ist anzusetzen, wenn auf eine Größe viele zufällige unabhängige Einflüsse wirken. Dass sich Wahrscheinlichkeiten für Kursverläufe verbreiten wie Wärme und Gleichgewichtslogiken sich in der Formalisierung von quasi-newtonschen Marktdynamiken niederschlagen, sind wichtige konstituierende Merkmale des theoretischen Fundamentes, auf dem die Finanzmärkte heute ruhen.

Bacheliers Modell stand am Anfang und orientierte sich an der Physik der Zeit. Das Modell war originell; der probabilistische Zugang der Zeit voraus. Der Zeit voraus war allerdings auch die Kritik von Bacheliers Lehrer Poincaré. Er ließ die Arbeit nur knapp zur Promotion zu. Scharf kritisierte er die Realitätsferne der Kursbildung durch die Analogie zur Thermodynamik. In den Fragen zur Praxistauglichkeit der Finanztheorie setzt sich das Grundsätzliche der Poincaré-Kritik heute fort.

Weniger falsche Realitäten schaffen

In der Finanztheorie (Finanzmathematik) nehmen Wetten (Casino Games) seit den 1950er Jahren einen prominenten Platz ein. Als Samuelson Bacheliers Modell verbesserte und als geometrische Brown'sche Bewegung neu etablierte, erhob die nun einsetzende Mathematisierung die Finanztheorie in den Augen vieler Ökonomen in den Rang einer Naturwissenschaft. Es begann die Zeit uneinsichtiger Begriffe; nicht mehr wichtig war, was mathematisch nicht erfassbar war. Mit "Bachelier-Physik" erweiterte Sharp in den 1960er Jahren mit dem Capital Asset Pricing Model (CAPM) die Portfoliotheorie von Markowitz zu einer Kapitalmarkttheorie.

Aus dem Hauptergebnis, dass im effizienten Markt nur systematische Risiken zu bepreisen sind, formte Fama Anfang der 1970er Jahre die Market Efficient Hypothesis (MEH). Im Prinzip wird mit der MEH die Theorie rationaler Erwartungen auf die Finanzmärkte übertragen: Prognosefehler sind im Durchschnitt Null und nicht vorhersagbar. Da erwartete Kursanstiege in der aktuellen Periode erfolgen, ist die beste Prognose zum Kurs von morgen der Kurs von heute. Die MEH fundiert Bacheliers Modell theoretisch, da Kursänderungen Random Walks sind.

Der eigentliche Aufstieg der stochastischen Analyse zur wohl erfolgreichsten ökonomischen Theorie, begann mit einer MEH-Erweiterung. Im Jahr 1973 gaben Black und Scholes die Formel an, die zeigt, wie sich der Preis einer Option im Zeitablauf verändert. Durch das Erkennen des Zusammenhangs von Arbitragefreiheit und der Existenz eindeutiger Preise plus hochentwickelter Stochastik hatten Optionen erstmals einen präzise berechenbaren Wert. Dass auch in Black/Scholes-Welten die Präferenzen der Marktteilnehmer keine Rolle spielen, macht bis heute Finanzmodelle schlank, elegant und performant. Lässt man noch "die Tatsachen beiseite, sie tragen zur Frage nichts bei" (Rousseau): Die Normalität der Finanztheorie ist präferenzfrei. Durch diesen Kunstgriff sind Marktteilnehmer geklonte Optimierungsmaschinen in einem Markt, der ein nach Gleichgewichten suchendes System ist und zum Kompromiss wagemutiger Annahmen stellen faire Glücksspiele die Ergebnisse für Kursprozesse ein, die ohne Sprünge (Diffusion) ablaufen. Dabei sind die typischen Zickzack-Muster, die durch die zufällige Gewinnentwicklung beim Roulette erzeugt werden, durch die Optionsgriechen eindeutig bestimmt.

Obwohl die Herleitung der Black/Scholes-Formel aus einer partiellen Differenzialgleichung ökonomisch unzugänglich und mathematisch schwierig ist, veränderte sich sofort die Finanzwelt. Durch die Aussicht jedes Risiko mathematisch eliminieren (hedgen) zu können, erfindet sich die Finanztheorie als Rocket Science quasi neu. Dass Wetten auf zufällige Schwankungen des Marktes (spekulative Risiken) gehandelt werden konnten und Optionsgeschäfte ab dem Jahr 1973 auch nicht mehr als Glücksspiel galten, waren die Treiber der bekannt stürmischen Entwicklung. Ignoriert wurde, dass das steigende Bedürfnis nach Spekulation und Absicherung durch Investments in Derivate zu immer undurchsichtigeren Risiken führte. Heute pendelt der Finanzmarkt meist zwischen Euphorie und Panik. Die Subprimekrise war die letzte große Irrfahrt einer Finanztheorie, die sich immer mehr zur Ingenieurskunst ohne ökonomische Urteilskraft zu entwickeln droht. Damals verloren Quants das Spiel, bei dem herauszufinden war, wie viele faule Kredite sich in ein Wertpapier packen lassen, um gerade noch das begehrte Triple-A-Rating zu erreichen.

Veränderte Finanzwelt

Festzuhalten bleibt: Durch die Black/Scholes-Formel sind komplizierte Finanzprodukte im Prinzip handelbar für jedermann. Ein auf Casino Games (einfache Optionsgeschäfte) reduzierter Spielbegriff steht für eine "ordre naturel" der Spiele gegen eine Umgebung, die frei von Überraschungen ist. Dass im Finanzmarkt der Zusammenbruch historischer Abhängigkeiten beobachtet wird, ist ein krasser Widerspruch zur Realität. Auch muss Modellbauer irritieren, dass Bücher mit provokanten Titeln wie "A Demon of Our Own Design" und "After the Music Stopped" im Regelfall durch die Kritik reüssieren, dass Kurse ausschließlich durch Zufallsprozesse darstellbar sind, die nur lineare Dynamiken bewältigen können.

Erschwerend kommt hinzu, dass durch das No-Arbitrage-Prinzip am Markt nur Spiele gegen die Natur (Wahrscheinlichkeitsverteilung über Umweltzustände) gespielt werden können, deren Zufälligkeit (Risiko) sich durch stochastische Integrale (Optionspreise) mathematisch zügeln (hedgen) lässt. Schwer muss auch wiegen, dass das Basel-Regime falsche Anreize setzt. Es zwingt Profession, Aufsicht und Banker quasi dazu, sich mit dem Finanzmarkt wie Physiker mit der Welt zu befassen. Dabei fördert der Versicherungscharakter des Regimes die "Es kann nicht falsch sein, was alle tun müssen"-Logik, statt Anreize für optimale Strategien zu setzen.

Dass Quants im Endlosspiel des Finanzmarktes zur Veränderung der Spiele aus vielen Gründen nur Spieler mit einem Handicap sind, führt zur Frage, wie der seit Bachelier gebräuchliche (Glücks-)Spielbegriff so verallgemeinert werden kann, damit auch Unwägbarkeiten zugelassen werden können, die der Eigendynamik des Marktes geschuldet sind. Die Rückführung dieses Handicaps durch eine geeignete Mathematisierung der Spielmetapher wird nun skizziert. Dabei werden Merkmale identifiziert, die auf das Feld der Spieltheorie führen.

Unsicherheit zu stark vereinfachender Modelle

Dass die Bewertungsprobleme, die der Finanzmarkt stellt, nicht mehr lehrbuchhaft zu lösen sind, verkürzt Diskussionen über den Reifegrad der Finanztheorie auf das Wesentliche. Zukünftig wird zu beachten sein, dass stochastische Prozesse den Finanzmarkt nur dann noch adäquat beschreiben, wenn sich Marktteilnehmer wie Roulettespieler verhalten, die passiv gegen die Kugel im Kessel und nicht aktiv gegeneinander oder miteinander gegen andere spielen. Dies ist zum Beispiel bei einfachen Optionsgeschäften der Fall. Schon gesagt wurde, dass bei Casino Games die Stochastik freundlich ist, weil (Normal-)Verteilungen bei als bekannt anzunehmenden Ereignisräumen die natürliche Metrik sind, die valide Vorhersagen für mögliche Ergebnisse liefern, da in jeder Spielrunde der Zufall nur Ergebnisse produziert, die als mathematisch vorhersagbare Ereignisse eintreten können.

In der Praxis der Market Games ist die Stochastik aber unfreundlich. Bei komplizierten, den von Black/Scholes als fair errechneten Wert verzerrenden Optionsgeschäften ist zum Beispiel die Zukunft nicht prädeterminiert: Kein Akteur kann heute wissen, ob im Markt morgen Roulette, Poker oder Mischformen von Spielen gespielt werden. Da das die Regel und nicht die Ausnahme ist, ist eine von Zweifeln befreiende Expertise in Stochastik zunächst nachrangig, weil kein statistischer Durchschnitt zu einem Gesetz führen kann, das sich in endloser Häufigkeit unabhängig von Zeit und Ort immer wieder einstellen lässt. Die Dominanz der MEH ist somit ein sperriges Hindernis auf dem Weg zu Modellen, die realistischer als bisher abbilden, wie sich Marktteilnehmer wirklich verhalten.

Famas Diktum "formal tests requires formal models, with their more or less unrealistic structuring of the world" ist auch mehr als nur das Entree in Scheinwelten: Es blockiert die notwendige grundlegende Änderung der Abstraktion des Untersuchungsgegenstandes. Dabei ist gut für die Theorie, dass die MEH die Erfolglosigkeit bei Vorhersagen zum Prinzip erhebt. Schlecht für Investoren ist, dass die MEH schon durch das schlichte Verhaltensmuster obsolet wird, dass Akteure zwar nicht die mathematischen Gesetze von stochastischen Prozessen verändern, diese wohl aber zu ihrem nicht in den Kursen eingepreisten Vorteil nutzen können. Wäre dem nicht so, gäbe es keine Termingeschäfte. Das ist bei Pferdewetten nicht anders: Würden alle Wetter auf dasselbe Pferd wetten, gäbe es keine Wetten.

Am Quell der Empfindlichkeiten bei Fragen zur fundamentalen Krise der mathematischen Modellökonomie sind Missverständnisse zu vermeiden. Es bleibt klarzustellen: Es gibt keine Alternative zur Mathematik, um die Probleme des Finanzmarktes zu lösen. Doch läuft die Finanztheorie durch grobe Transformationsfehler der obigen Art erkennbar Gefahr, sich selbst aus den Angeln zu heben. Ohne Zweifel sind BSM und ihre Nachfolger mathematisch brillante Verkürzungen der Realität; sie werden es auch bleiben. Und dennoch: Risiken, die formal richtig gerechnet sind und auf der Basis von Bekanntem, was sich (stochastisch messen) quantifizieren lässt, errechnet werden, beschränken die Leistungsfähigkeit in wesentlichen Punkten.

Methodische und konzeptionelle Erweiterung erforderlich

Hinzu kommt das grundsätzliche Problem, dass Modelle, die Krisen mit verursachen, durch Verfeinerungen an der Oberfläche aus Krisen nicht herausführen können. Da die Marktteilnehmer ihr Verhalten nicht ändern werden, muss die Theorie ihre Defizite überwinden. Teile der Profession haben wohl erkannt, dass die Analogie zwischen Marktgeschehen und Diffusionsprozessen, die für Casino Games nicht unbegründet ist, für Market Games falsch ist. Auch nährt die Vermutung, dass die Zufallseigenschaft der Kurse nicht die Voraussetzung für, sondern das Ergebnis von Handlungen ist, weil im Markt nicht die Akteure Erfolg haben, die richtig rechnen, sondern sich relativ zu den anderen richtig einschätzen. Es ist folgenschwer, dass die im Spielerischen enthaltene Unsicherheit keine Kuriosität der Märkte, sondern die Bedingung ihres Funktionierens ist.

Festzuhalten bleibt: Nicht die Casino-Game-Metapher wohl aber der BSM-Alleinvertretungsanspruch ist passé. Dieser Fall tritt ein, wenn Unwägbarkeiten (Krisen), die auf der Ebene der Akteure ihren Anfang nehmen, sich nicht zu einem Durchschnitt mitteln lassen, der statistisch beschrieben werden kann. Dabei ist der Roulettespieler keine nur noch überflüssige Hypothese, weil Casino Games nur nicht mehr ausreichen, um ein optimales oder gar stabiles Finanzsystem zu bauen. Dass (1) probabilistische Entscheidungslogiken nur ausgeschaltet sind, wenn Ereignisräume in der Gesamtheit unbekannt sind, (2) die Finanztheorie in einem Darstellungsmodus erstarrt ist, der jede Form von Unsicherheit auf kalkulierbare Unsicherheit reduzieren muss, (3) in der Branche das generell falsche Spielverständnis im Irrglauben wurzelt, dass der strukturierte Zufall, wie er in Random Walks auftritt, dem unstrukturierten Zufall, wie er am Finanzmarkt auftritt, gleicht, (4) Truthahn-Erfahrungen die Regel und nicht die Ausnahme sind und (5) sich die Finanztheorie nicht selbst erneuern kann, sind nicht mehr kleinzurechnende oder einfach zu ignorierende Merkmale, die zeitnah eine methodische und konzeptionelle Erweiterung er fordern. Diese müssen von grundlegender Natur sein, weil Zusammenhänge nicht mehr ausschließlich auf stochastische Wechselwirkungen verkürzt werden können.

Problemlösungsmethode mit Potenzial

Dass Problem, dass es nicht das Problem der Finanztheorie ist, dass es Casino Games gibt, sondern nur, an sie zu glauben, führt auf das Feld der Spieltheorie. Sie ist eine mathematisch ausgereifte Alternative mit Potenzial, weil sie mit den Grenzen stochastischer Finanzmathematik umgehen kann und Casino Games nur in dem Umfang überflüssig werden, wie in Market Games das risikobewehrte Verhalten der Spieler zu quantifizieren ist (Bieta/Milde 2014). Dabei schaffen Modellvielfalt und Konfliktfreiheit zur Standardtheorie durch ein Mehr an analytischen Freiheitsgraden den notwendigen Raum zur Lösung von Problemen, um die es wirklich geht. Was sind die Voraussetzungen und Reichweiten der Spieltheorie?

Spiele sind eine Metapher für Prozesse der Selbstorganisation und Erkenntnisobjekt der Spieltheorie. Spiele mit Akteuren, die ihren Vorteil suchen (Market Games), werden als strategisch, Spiele, die vom reinen Zufall abhängen (Casino Games), als nichtstrategisch bezeichnet. Die Spieltheorie, die Spiele durch ihre als wesentlich erachteten Strukturmerkmale abbildet und mathematisch löst, ist eine Systematik zur Beschreibung und Vorhersage von Spielen (Verhalten), deren empirischer Ast Ergebnisse experimentell überprüft (Maschler 2013).

Warum ist die Spieltheorie die notwendige Ergänzung? Trägt man der Tatsache Rechnung, dass Motive und Anreize die Antriebskraft für Aktivitäten am Finanzmarkt sind und Akteure durch strategisches Verhalten versuchen, den Markt in Gestalt der Mitspieler zu schlagen, ist eine knappe Antwort auf die Frage: Der empirische Befund und der Anspruch, auch schwierige Zusammenhänge erfassen zu können, erfordern es, dass der Finanzmarkt durch eine Terminologie und Methoden zur Strukturierung und Quantifizierung komplexer Zustände auf eine neue Art und Weise beschrieben, analysiert und interpretiert wird. Durch die Mathematisierung der Spielmetapher in allgemeiner Form ist die Spieltheorie dafür der Bezugsrahmen. Dass eine konkrete Situation in geeigneter Form als Spiel zu modellieren ist (Spielauswahlproblem) und Nash-Gleichgewichte als Spiellösungen nur angeben, unter welchen Bedingungen bestimmte Spielergebnisse zu erwarten sind (Lösungsauswahlproblem), stellt sicher, dass durch ein besseres Verstehen der Marktunsicherheit auch (erst!) die systematische Auseinandersetzung mit dem BSM-Modellrisiko zum Bestandteil von Analysen wird.

Schere zwischen Formalisierung und realem Bezug

Dabei trägt der Realität in hohem Maß Rechnung, dass Finanz(spiel)modelle durch die Auswahlprobleme und die nicht immer optimalen Spiellösungen als eine erste Annäherung an die Realität nur eine Art idealer Maßstab sind. Dass es aus Sicht der Spieltheorie nicht das eine Universalmodell geben kann, wenn Gesetzmäßigkeiten, die in Casino Games axiomatische Gültigkeit haben, nicht eins zu eins übertragen werden müssen, ist wesentlich dafür, dass der Anspruch der Spieltheorie bescheidener (realistischer!) ist, als ihn die Finanztheorie gemeinhin formuliert.

Dass sich durch die Spieltheorie die Schere zwischen Formalisierung und realem Bezug nicht weiter öffnen muss, zeigt die Beobachtung, dass der Markt Arbitrage zulässt, da Banken für ein und dasselbe Derivat verschiedene Preise realisieren können. Dies ist für Finanztheoretiker der Worst Case. Für Spieltheoretiker ist die fundamentale Unberechenbarkeit des Marktes zunächst einmal nur ein Baustein eines Spiels. Hier unterstreicht die Zweckmäßigkeit der Spieltheorie, dass die Beobachtung nicht ignoriert werden muss, dass am Finanzmarkt nicht Risiko nach Bachelier, sondern Unsicherheit nach Knight die Zustände einstellen.

Dass Knight in den 1920er Jahren die streng probabilistische Struktur zukünftiger Ereignisse bezweifelte - er trennte Risiko (Erwartungswerte existieren) von Unsicherheit (Erwartungswerte existieren nicht) und folgerte, dass die Welt unsicher (nicht berechenbar) und nicht riskant (berechenbar) ist - erklärt heute die wenig erfolgreiche Mathematisierung der Finanzmärkte durch das in Bachelier-Welten notwendige Ausgrenzen von Zusammenhängen (Unsicherheit) (Weisberg 2014).

Da in der Subprimekrise die Banker offensichtlich Risiko mit Unsicherheit (und Korrelation mit Kausalität) verwechselten, ist auch die Knightian Uncertainty ein starkes Indiz dafür, dass die Spieltheorie durch das Abgreifen der objektiven Perspektive mathematischer Wahrscheinlichkeiten und der subjektiven Perspektive handlungsleitender Prinzipien die Finanztheorie konzeptionell und methodisch um die Problemfelder erweitert, auf denen Finanzmodelle zukünftig ihre Geltung behaupten müssen. Mit "robust finance" sind die Anfänge für eine vor allem auch erfolgreiche Mathematisierung gemacht.

Mathematik zur Beschreibung der Börse?

Das Titelbild des Economist (Juli 2009) zeigt das langsame Abschmelzen des Lehrbuches "Modern Economic Theory". Auch für die Finanztheorie hat das Bild Symbolkraft. Spürbar sind fundamentale Wissenslücken zu schließen. Dabei sind große Teile des Finanzmarktes auch (oder gerade!) deshalb noch immer eine Blackbox, weil durch das Basel-Regime der Beihilfe zum Entstehen von Krisen leistende analytische Minimalbereich weiter der wissenschaftliche Anspruch ist. Dabei erhöht das Tauglichkeitsproblem schon wieder die Gefahr, dass Finanzmodelle durch falsche Signale eine Dynamik entwickeln, die Profession, Quants und Aufsicht weder vorhergesehen haben noch zu beherrschen in der Lage sind.

"Dass zu grobe Raster oft mehr schaden, als dass sie nutzen" (Kant) bringt auf den Punkt, dass sich die prognostische Kraft von Random-Walk-Hypothese und EMH erschöpft, wenn Lösungen je nach der Struktur des Informationsszenarios unterschiedlich ausfallen müssen. Kaskadeneffekte, die im Finanzsystem in Sekunden massiv Werte zerstören, Abhängigkeiten, die durch spontane Selbstorganisation plötzlich brechen, Marktteilnehmer, die auf externe Steuerungsversuche strategisch reagieren, und Ansteckungsrisiken, die aus Interdependenzen zwischen den Segmenten des Finanzmarktes folgen, sind Szenarien, die ein Potenzial für Krisen bergen, die es nach den Verästelungen von Portfolio-Theorie und Dynamic Stochastic General Equilibrium-Modellen so nicht geben dürfte.

Gegeben Szenarien dieses Typs, kommt die Spieltheorie dem mathematischen Verständnis des Finanzmarktes näher als die Theorie des Status quo, weil durch das Auslesen der alles koordinierenden Symmetrien dynamische Inkonsistenzen zugelassen sind und es im Prinzip auch keine Rolle spielt, ob sich in Krisen optimistische in pessimistische Sichtweisen verkehren oder koordiniertes Verhalten an die Stelle von stochastischer Unabhängigkeit tritt.

Inseln der Veränderung

Auch wenn die Spieltheorie auf viele Probleme, um die es wirklich geht, zugreifen kann, eine Theorie für alles ist die Spieltheorie deshalb aber nicht. Den skizzierten Vorteilen, die von grundlegender Natur sind, steht als schon angesprochener "gefühlter" Nachteil gegenüber, dass Finanz(spiel)modelle im Regelfall nicht elegant sind. Dass Modelle, die realistisch sind, weil sie sich ähnlich verhalten wie das Finanzsystem, nicht die Kopie eines Originals aus der Physik sein können, ist wohl die Hauptursache für den noch schweren Stand im akademischen Wettbewerb der Finance Departments. Hier ist das massiv im stochastischen Paradigma gebundene Humankapital als Beharrungsvermögen der Curricula das Trägheitsgesetz der Lehre, was die notwendige Reform der Inhalte verhindert (Admati/Hellwig 2013). Hier ist tröstlich, dass es Inseln der Veränderung gibt. Ein Beispiel ist der Schwerpunkt in Spieltheorie an der Universität Bonn.

Der vielleicht wichtigste Grund dafür, dass letzte Antworten zu Fragen zur "richtigen" Mathematik in naher Zukunft wohl nicht zu erwarten sind, ist, dass Sinnfragen schnell ins Prinzipielle und Grundsätzliche führen. Hier scheint als Minimalkonsens nicht bestreitbar, dass jedes Mitglied der Bachelier-Familie verfeinert, ohne zu verändern. Sei es darum, dass das die Finanzmärkte treibende elementare Muster nicht nachgebildet werden kann, dass Händler Aktien kaufen, wenn sie erwarten, dass deren Kurs steigt und Händler mit ihren Käufen auch entscheiden, ob das geschieht oder ob das nicht geschieht. Oder sei es darum, dass die Realität, die neu verstanden werden muss, nicht neu verstanden werden kann, solange das, was nicht in den Setzkasten der Stochastik passt, nicht wichtig ist. Auch ist das theoretische Fundament, auf dem Finanzmärkte ruhen, eine Abstraktion, der die Klärung von Zusammenhängen ebenso fehlt wie die klare Beurteilung, ob Annahmen realistisch sind oder nicht: Nach der herrschenden Theorie muss man gut rechnen können; ökonomische Expertise ist eher zweitrangig. Damit ist zum Schluss zu fragen, ob Mathematiker möglicherweise Schuld an Finanzkrisen haben.

Die Frage wird (aus gutem Grund) pragmatisch beantwortet und folgt Hilbert. Er hat im Jahr 1900 klargestellt, dass die Mathematik neutral bezüglich Anwendungsinhalten ist. Damit sind, bleibt Fehlverhalten unbeachtet, Mathematiker an Finanzkrisen so wenig schuld wie Einstein am Bau der Atombombe. Dass Kursverläufe als Diffusionsprozesse auf Basis einer präferenzfreien Dynamik analysiert werden, folgt aus einer von Ökonomen und nicht von Mathematikern gewählten Modellierung. Wenn der Finanzmarkt in der Praxis kaum zweitbeste Lösungen zulässt, ist deshalb nicht die Mathematik, sondern das bedenkenlose Umsetzen mathematischer Resultate fragwürdig.

Die Frage nach der Schuld der Black/Scholes-Formel an Finanzkrisen ist damit klar mit Nein zu beantworten. Wie damit umgangen werden kann, dass Bacheliers Erben in der Wissenschaft und in den Banken in großen Teilen auch weiterhin im stochastischen Zugang den einzig möglichen Weg sehen, obwohl die Empirie zeigt, dass am Markt mehr Poker als Roulette gespielt wird, wird statt eines Fazits abschließend diskutiert.

(Spiel-)Analysen verändern

Dass stochastische Finanzmodelle keine Kenntnisse über risikogenerierende Prozesse erfordern, macht das Credo der 1970er Jahre heute zur Crux. Damals schrieb die New York Times euphorisch "Soon traders were valuing options on the floor of the exchange, punching half a dozen numbers into electronic calculators hard wired with the formula ... Mr. Black and Mr. Scholes became so highly regarded at the exchange that when they visited, traders would give them standing ovation"; heute, also in Zeiten, in denen eine erfolgreiche Theorie von Missbrauch und Versagen in der Praxis begleitet wird, ist neu zu definieren, was Finanzökonomie umfasst. Wie kann auf die Spiele am Finanzmarkt besser zugegriffen werden als bisher? Wittgensteins Aperçu "Um Antworten auf schwierige Fragen zu finden, muss man beim Irrtum ansetzen und ihn in die Wahrheit überführen" erhellt die Situation. Am mephistophelischen Zug der Rocket Science Finanz-Ökonomen "Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr" ist anzusetzen. Dies mag als schwierig erscheinen für eine Branche, die im stochastischen Paradigma bequem und lukrativ eingerichtet ist, unmöglich ist es aber nicht. Wie kann die Finanztheorie ihre Defizite überwinden? Da es keine Alternative zu formalen Methoden gibt, ist die Antwort: Nicht weniger, sondern mehr und vor allem komplexere Mathematik ist notwendig. Die Spieltheorie transformiert den Wittgenstein'schen Irrtum fast friktionslos in ein Mehr an Realitätsnähe. Dabei zerstört die Spieltheorie weniger Wirklichkeit, als es die Theorie im Status quo noch tun muss, da, ist Knightian Uncertainty im Spiel, ereignisgenaue Finanz(spiel)modelle sich nicht aus Ad-hoc-Settings und Datenhistorien wider die Annahmen der Stochastik formen müssen. Dass bei Spielanalysen empirische Fakten, ökonomische Expertise und methodischer "state of the art" auszubalancieren sind, trägt der Tatsache Rechnung, dass die Finanzmarktrealität analytisch oft schwer zu durchdringen ist.

Ist den Anwendern die Schuld an Finanzkrisen zuzuweisen, ist an der Wirkungsgrenze stochastischer Routinen mehr Sand im Getriebe kein Nachteil. Cardano war Spieler und der wohl erste Stochastiker. Sein Rat "Der größte Vorteil erwächst aus dem Spiel, das man nicht spielt" verbessert die Finanztheorie, weil die Spieltheorie das Bewährte nicht antastet, wenn die scheinbare Alternativlosigkeit stochastischer Modelle in eine zukünftig notwendige "It is better to be roughly right than precisely wrong"-Kultur eingebettet wird. So ist die Breite und Tiefe möglicher Entwicklungen in ihren Chancen und Risiken besser abzuschätzen und besser zu begrenzen als bisher - quod erat demonstrandum.

Literatur

Admati, A.; Hellwig, M.: The banker's new clothes, Princeton 2013.

Bieta, V.; Milde, H.: Risikomanagement und Spieltheorie, in: NZZ 28.10. 2014; ders. Märkte und Modelle: Vorsicht vor plausiblen Dogmen, in: NZZ 14.11.2014.

Frydman, R.; Goldberg, M.: Beyond Mechanical Markets, Oxford, 2011.

Maschler, M. et al.: Game Theory, Cambridge Mass, 2013.

Poovey, M.: Can numbers ensure honesty? in: Notices of the AMS, Vol 50, 2003.

Stewart, I.: The mathematical equation that caused the banks to crash, The Observer: 2/2012 Weisberg, H.: Wilful Ignorance: The Mismeasure of Uncertainty, New Jersey, 2014.

Die Langfassung des Artikels finden Sie unter: www.kreditwesen.de

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