Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft - eine Bilanz

Quelle: Thomas Köhler/photothek/Deutscher Bundestag

Ausgerechnet im Jahr der Corona-Pandemie hatte Deutschland zum ersten Mal seit 2007 wieder die EU-Ratspräsidentschaft inne. Konnte Deutschland diese Rolle konstruktiv ausfüllen oder war es reines Krisenmanagement? Um diese Frage zu beantworten, hat die Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen einen Volkswirt und Bankenverbände um eine Bilanz der Ratspräsidentschaft aus Sicht der Bankenbranche gebeten. Die Kommentatoren sind sich dabei einig, dass sich Deutschland für die Ratspräsidentschaft viel vorgenommen hatte, dann aber zunächst einmal die Herkulesaufgabe der Pandemie-Bewältigung bestehen musste. Sie stimmen dabei weitestgehend überein, dass dieser Teil mit Bravour erledigt wurde. Aber auch die Themen Bankenunion und Kapitalmarktunion sehen sie vorangekommen. Genannt wird unter anderem die Erleichterung bei der Finanzmarktrichtlinie MiFID II. Zudem wurde in dieser Phase auch der lang verhandelte Brexit nun endlich vollzogen. Angesichts der Größe und Menge an Herausforderungen zeigen sich die Kommentatoren unter dem Strich zufrieden mit der deutschen Ratspräsidentschaft. (Red.)

Iris Bethge-Krauß

Mythologie und Ministerrunden

Die griechische Mythologie kennt viele Götter. Doch wenige sind so bekannt wie Herkules. Der Sohn des Zeus und der Alkmene war von unglaublicher Stärke. Doch um zum unsterblichen Gott in den sagenhaften Olymp aufzusteigen, musste er zwölf Aufgaben erfüllen - jede einzelne davon war im Grunde unmöglich zu erfüllen.

Ähnlich wie Herkules im Anblick der unlösbaren Herausforderungen müssen sich auch die führenden Akteure Europas in der Mitte des vergangenen Jahres gefühlt haben. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und die deutsche Ratspräsidentschaft unter Bundeskanzlerin Angela Merkel standen genau vor einer solchen Herkulesaufgabe: der Bewältigung der Corona-Pandemie und ihrer gravierenden wirtschaftlichen Folgen. Und so wie in der griechischen Sage wartete daneben noch eine ganze Reihe weiterer Aufgaben. Ungelöste Themen wie der Brexit mussten ebenso angegangen werden wie die drängenden Zukunftsthemen Digitalisierung und Klimaschutz.

Herkules bediente sich bei der Bewältigung der Aufgaben gern seiner Lieblingswaffe, der Keule. Diese hatte er aus einem Olivenbaum geschnitzt. Und auch die EU feilte in langen Ministerrunden an einem schlagkräftigen Instrument, um gegen die Folgen der Corona-Pandemie zu kämpfen. Mit Erfolg: Durch die Einigung auf den mehrjährigen EU-Finanzrahmen 2021 bis 2027 wurde die Arbeit an den großen Zukunftsthemen auf eine stabile finanzielle Grundlage gestellt. Der gemeinsam aufgesetzte Wiederaufbaufonds "NextGenerationEU" unterstützt die Mitgliedsstaaten zusätzlich bei der Bewältigung der akuten wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie. Besonders positiv: Beide Instrumente setzen klare Schwerpunkte in den Bereichen Klimaschutz und Digitalisierung. Insgesamt wurde der Haushalt auf 1,8 Billionen Euro angehoben - und ist damit eine Finanzkeule, die sich sehen lassen kann.

Mit der Finanzkeule gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie

Teil der getroffenen Vereinbarungen zur Lösung drängender Zukunftsaufgaben ist das Förderprogramm InvestEU. Mit ihm sollen private und öffentliche Investitionen von rund 370 Milliarden Euro für Bereiche wie nachhaltige Infrastruktur, Innovation und Digitalisierung mobilisiert werden. Mindestens 30 Prozent der geförderten Investitionen sollen zur Verwirklichung der europäischen Klimaschutzziele eingesetzt werden.

Bei der Umsetzung der Programme kommt den europäischen und deutschen Förderbanken eine zentrale Rolle zu. Sie gewährleisten die effiziente Umsetzung der Fördermaßnahmen und stellen sicher, dass die notwendigen Mittel der Wirtschaft schnell und bedarfsgerecht zur Verfügung gestellt werden. Wichtig ist nun, dass die Vereinbarungen mit der Europäischen Kommission beziehungsweise der Europäischen Investitionsbankgruppe zügig erfolgen, um auch über das Jahr 2021 hinaus Kontinuität und Zuverlässigkeit in der Förderung zu gewährleisten.

Zusätzliche Maßnahmen zur Erholung der Wirtschaft

Neben der Einigung auf den EU-Finanzrahmen sowie die Förder- und Investitionsprogramme beschloss die EU unter der deutschen Ratspräsidentschaft zugleich ein Maßnahmenpaket für die Erholung der Kapitalmärkte. Die Anpassungen der EU-Kapitalmarktregeln dienen der leichteren Re-Kapitalisierung von Unternehmen und sollen die Kreditvergabe durch Banken sowie Investitionen in die Wirtschaft fördern.

So wurden konkret im Rahmen des Pakets die Informationsanforderungen der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID II) gezielt vereinfacht. Das soll die Bereitstellung von Investitionen erleichtern, ohne den Anlegerschutz zu beeinträchtigen. Hier besteht noch Raum für weitere Verbesserungen - so zum Beispiel im Hinblick auf die Vorgaben zur Product Governance oder die geplanten Änderungen an den Best-Execution-Berichten. Bei der planmäßigen Überarbeitung von MiFID II/MiFIR Ende des Jahres sollte bei diesen Punkten entsprechend nachgesteuert werden. Wichtig ist aber, dass Erleichterungen nicht wieder durch Verschärfungen und neue Vorgaben an anderer Stelle - zum Beispiel beim bewährten Zuwendungsregime - konterkariert werden.

Die EU hat im Prospektrecht zudem einen EU-Wiederaufbauprospekt eingeführt. Dieser erleichtert es Unternehmen, Kapital aufzunehmen. Zusätzlich gab es im Prospektrecht eine erfreuliche Klarstellung bei der Übermittlungspflicht von Nachträgen an die Anleger. Diese wurde auf die initiale Zeichnungsphase beschränkt und gilt bis Ende 2022. Hier sollte bei der regulären Überarbeitung der Prospektverordnung die Befristung noch überdacht werden.

Weitere wichtige Vorhaben wurden umgesetzt

Während der Ratspräsidentschaft wurden darüber hinaus Änderungen an der sogenannten Benchmark-Verordnung verhandelt, die die Einstellung finanzieller Referenzwerte betreffen. Die Anpassungen wurden vor dem Hintergrund eines erwarteten Auslaufens des Londoner Inter-Bankensatzes bis Ende 2021 vorgenommen. Drittstaatenbenchmarks können bis Ende 2023 grundsätzlich weiterhin angewendet werden - eine Übergangsregelung, die noch um weitere zwei Jahre verlängert werden kann. Darüber hinaus wurde ein Mechanismus für die Ersetzung bestimmter wichtiger auslaufender Benchmarks geschaffen. Durch diese Maßnahmen wird die Rechtssicherheit erhöht und Risiken für die Finanzmarktstabilität verringert. Schließlich gab es unter deutscher Führung Fortschritte bei den Verhandlungen zum Digital Finance Package. Zudem wurden die Diskussionen zur Vollendung der Bankenunion wiederaufgenommen.

Ein Befreiungsschlag

Die Bewältigung der Corona-Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen ist eine wahre Herkulesaufgabe. Herkules, der größte Held des antiken Griechenlands, wurde erst spät in den Olymp aufgenommen. Es bleibt zu hoffen, dass die Herkulesaufgabe Corona schneller bewältigt werden kann.

Mit der Einigung auf den langjährigen Finanzrahmen und den Wiederaufbaufonds sowie wichtigen Änderungen der EU-Kapitalmarktregeln hat die EU hierzu einen wichtigen Schritt getan, indem sie den notwendigen Wiederaufschwung der europäischen Wirtschaft gezielt unterstützt. Das Fazit ist klar: Europäischer Kommission und deutscher Ratspräsidentschaft ist in ihrer Zeit ein Befreiungsschlag im Kampf gegen die wirtschaftlichen Folgen von Corona gelungen.

Iris Bethge-Krauß

Hauptgeschäftsführerin, Bundesverband Öffentlicher Banken Deutschlands (VÖB) e.V., Berlin

Linkedin
Twitter

* * *

Ulrich Kater

Deutsche Ratspräsidentschaft - große Beschlüsse unter schweren Bedingungen

Der 1. Juli 2020 war ein ganz besonderer Zeitpunkt, um die turnusmäßige Präsidentschaft im Europäischen Rat zu übernehmen und damit die politische Arbeit innerhalb der Europäischen Union zu koordinieren und voranzubringen. Nach dem Vorgänger Kroatien, der von der Corona-Pandemie noch überrascht worden war, stellte die deutsche Ratspräsidentschaft die erste wirkliche "Corona-Präsidentschaft" dar, die von der Themenverschiebung hin zu neuen Dringlichkeiten von Maßnahmen gegen die Gesundheitskrise bis hin zu den operativen Schwierigkeiten des Arbeitens unter sozialer Distanzierung vollständig unter dem Eindruck des Jahrhundertereignisses stand.

Aufstand der Unzufriedenen

Aber noch aus anderer Perspektive stellt sich die Fortentwicklung der europäischen Politik in diesen Tagen als besondere Herausforderung dar. In einer Zeit, in der insbesondere in den westlichen Demokratien große Protestgruppen von Unzufriedenen entstanden sind, die sich explizit gegen "etablierte" politische Strukturen wenden, stehen gerade neue und weniger gefestigte Ordnungen wie die einzigartige Zusammenarbeit der europäischen Staaten innerhalb der politischen Union unter großen Herausforderungen.

In den USA haben die Anhänger Donald Trumps aus allen Teilen des Landes zu Beginn des Jahres ihre Abneigung gegen bundestaatliche Institutionen deutlich zum Ausdruck gebracht. Und im Vereinigten Königreich ereifern sich auch nach dem nun vollzogenen Brexit viele Anhänger der Brexit-Fraktion darüber, selbst die moderaten und politisch wie ökonomisch sinnvollen Formen der europäischen Zusammenarbeit auf dem Kontinent als "Superstaat" zu diskreditieren, in der Hoffnung, ihren Unfrieden mit der Einbindung des eigenen Landes in die europäische Integration auf die Mitgliedsstaaten der Union zu übertragen, und damit vielleicht ein wenig zur Destabilisierung der Union beizutragen.

"Big Government", also die Zentralisierung von Kompetenzen weg von untergeordneten Gebietskörperschaften auf übergeordnete Ebenen, ist in die Defensive geraten, obwohl ökonomisch und politisch in einigen begrenzten Feldern viel dafür spricht. Keine leichte Zeit also, um innerhalb der Europäischen Union weiterhin an der sinnvollen Balance zwischen weiterer Integration und fortgesetzter Selbstständigkeit der Mitgliedsstaaten zu arbeiten. Aus dieser Konstellation der außergewöhnlichen Anforderungen der Corona-Pandemie und einer dynamischen Veränderung der politischen Landschaft erwuchs die Besonderheit dieser deutschen Ratspräsidentschaft. Gegenüber diesen Umständen verlief das Halbjahr unspektakulär und vielleicht gerade deswegen sehr erfolgreich.

Zwar konnte einiges von dem, was man sich auf deutscher Seite für diesen Zeitraum vorgenommen hatte, gleich getrost wieder in den Schubladen verschwinden, es wurde jedoch trotzdem europäische Geschichte geschrieben. Nach langjähriger Zurückhaltung bei fiskalischen Gemeinschaftsaktivitäten hatte die deutsche Bundesregierung bereits im ersten Halbjahr angesichts des schweren wirtschaftlichen Schocks und der daraus zu erwartenden Vergrößerung der ohnehin bereits problematischen Unterschiede in der wirtschaftlichen Leistungskraft den französischen Vorschlägen nachgegeben. Heraus kam der kreditfinanzierte Wiederaufbaufonds mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro oder etwa fünf Prozent der europäischen Wirtschaftsleitung. Nach dem Grundsatzbeschluss für ein finanzielles Gemeinschaftsprogramm, das in der Wirkung Mittel von finanziell besser aufgestellten Ländern an Mitgliedsländer umverteilt, die wirtschaftlich von der Gesundheitskrise besonders getroffen sind, stand jetzt die Umsetzung an. Damit sind die Vorbehalte zu einer engeren Fiskalunion in Deutschland nicht aus der Welt geschaffen worden: Gerade die deutsche Politik betont den Einmal- und Notstandscharakter dieser bislang nicht vorstellbaren Umverteilungsmaßnahme auf europäischer Ebene. Die politische Signalkraft des Projekts fällt allerdings durchaus unterschiedlich aus in den verschiedenen Mitgliedsländern.

Der größte operative Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft bestand darin, dass dieses außerordentliche Finanzausgleichsprogramm zusammen mit dem neuen EU-Budget (der sogenannte Mehrjährige Finanzrahmen) ausverhandelt werden konnte. Ob dieser kurzfristige operative Erfolg sich in eine langfristige politische Erfolgsgeschichte für die Union umsetzen wird, können nur die kommenden Jahre zeigen. Das unmittelbare Resultat an den Kapitalmärkten war jedenfalls, dass die Risikoaufschläge für Anleihen einer Reihe von finanziell schwächeren Ländern deutlich zurückgingen. Mitten in der schwersten Wirtschaftskrise des Bestehens der Europäischen Einigung war auf einmal Ruhe am Markt für Staatsanleihen. Weltweit wurde diese Entscheidung als Schritt zu einer Fiskalunion innerhalb des Euroraums aufgefasst, der das Vertrauen in die gemeinsame Währung gestärkt hat. Es ist allerdings eine Stärke und Ruhe auf Zeit, denn wie so häufig wurde lediglich Zeit gewonnen, die unterliegenden Wachstumsprobleme der finanzschwachen Regionen in den kommenden Jahren mit energischen Reformen anzugehen, um die hohen Schuldenlasten tragen zu können. Wer sich gegenwärtig die reformpolitische Diskussion in Italien anschaut, der bekommt seine Zweifel, ob dieser Teil der Botschaft von der europäischen Solidarität überall angekommen ist.

Symptomatisch für die Probleme finanzieller Solidarität in der Europäischen Union war auch die Art und Weise, wie dieser neuerliche Meilenstein der europäischen Solidarität gelegt worden ist. Wieder war es hauptsächlich der Europäische Rat, der diesmal die Kommission an seiner Seite wusste, in welchem die Modalitäten ausgehandelt wurden. Dies war schwierig genug, wie die energischen Widerstände einiger Länder gegen eine mehr oder weniger unkontrollierte Mittelverteilung zeigten. Auch bei der Durchsetzung des neuen Mehrjahresbudgets kam es zu einer typischen Verquickung von politischen und finanziellen Themen, als Polen und Ungarn wegen der Rechtsstaatlichkeits-Frage drohten, das Budget zu blockieren. Es war ein weiterer Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft, dass der Rechtstaatlichkeitsmechanismus der Verknüpfung von Auszahlungen an die Einhaltung rechtstaatlicher Normen trotzdem durchgesetzt werden konnte; diese muss nun allerdings noch vom Europäischen Gerichtshof bestätigt werden.

Fortschritt im Bereich Finanzmärkte

Im Aushandelsprozess von Wiederaufbaufonds wie auch des Budgets zwischen Rat, Kommission und Parlament kam allerdings Letzterem wiederum keine wesentliche Rolle zu. Angesichts der grundsätzlich weiterhin geringeren demokratischen Legitimierung des europäischen gegenüber den nationalen Parlamenten kann dies auch nicht anders sein; es zeigt jedoch, an welche Grenzen eine engere fiskalische Integration in der Europäischen Union regelmäßig stößt.

Daneben liefen aber die vielen Einzelthemen der Weiterentwicklung in der EU weiter. Hier gab es allerdings keine spektakulären Entscheidungen. Im Bereich der Finanzmärkte gab es einige Fortschritte bei den Vorhaben zur Kapitalmarktunion und zur Bankenunion. Der Europäische Rat gab grünes Licht für die nächsten Schritte auf dem Weg zur Stärkung des europäischen Kapitalmarkts. Hiervon ist vielleicht der wichtigste die Erweiterung der gemeinsamen Verbriefungsregeln, die Banken einen besseren Abbau notleidender Kredite ermöglicht. Darüber hinaus soll kleinen und mittleren Unternehmen die bankenunabhängige Finanzierung erleichtert werden. Die grenzüberschreitende Abwicklung von Wertpapiergeschäften soll vereinfacht, die Versorgung von Anlegern mit Unternehmensinformationen soll verbessert werden. Einige Informationspflichten im Rahmen der MiFID-Verordnungen wurden gemildert. Diese Maßnahmen stellen jedoch eher kleine Schritte auf dem Weg zum Ziel eines einheitlichen europäischen Kapital- und Bankenmarktes dar.

Die großen Themen wie etwa die EU-weite Konvergenz der Insolvenzregeln oder das heiß diskutierte Thema der europäischen Einlagensicherung kamen wenig voran. Dazu kommt, dass in der Umsetzung dieser Themen, etwa der ebenfalls beschlossenen größeren Konvergenz bei Aufsichtsfragen in der EU, regelmäßig dicke Fallstricke liegen. Im Bereich Sustainable Finance war zwar die Taxonomie-Verordnung noch im Juni unter der Vorgänger-Ratspräsidenschaft verabschiedet worden. Eine herausragende Entscheidung auf dem Politikfeld der Nachhaltigkeit kam jedoch dann in dieser Ratspräsidentschaft doch noch zustande mit dem Beschluss zur Verschärfung der Klimaziele. Mit der Festschreibung der ehrgeizigen CO2-Reduktionen in einem europäischen Klimagesetz liegt die EU international in der Spitzengruppe beim Klimaschutz.

Und noch ein episches Kapitel konnte während der deutschen Ratspräsidentschaft abgeschlossen werden, nämlich der britische EU-Austritt. Aus Sicht der EU war am bemerkenswertesten, dass während der gesamten dreijährigen Verhandlungszeit um die Austrittsmodalitäten die Mitgliedsländer mit einer Stimme sprachen und damit Fantasien der britischen Brexit-Fraktion über eine Spaltung der Union eine Absage erteilten. Das lag zum einen an der klugen Verhandlungsführung des Franzosen Michel Barnier, der den wichtigen Diplomatengrundsatz beherzigte, dass die Abstimmungen im eigenen Lager mindestens ebenso wichtig ist wie die Verhandlungsführung mit der Gegenpartei. Zum anderen zeigte es aber auch, dass die ökonomische Bedeutung der britischen Wirtschaft und damit ihr Gewicht in Außenhandelsfragen keine kritische Masse ausmacht. Doch der Abschluss der Austrittsverhandlungen markiert nur den Beginn der Koexistenz als Nachbarn und Wettbewerber oder anders ausgedrückt: Mit Handelsstreitigkeiten im Verhältnis zum Vereinigten Königreich werden sich neben der nachfolgenden portugiesischen noch viele Ratspräsidentschaften der Zukunft beschäftigen dürfen.

Die deutsche Ratspräsidentschaft hat auch auf anderen Feldern Akzente gesetzt: in der Sicherheitspolitik, bei dem in den vergangenen Jahren stärker in den Vordergrund getretenen Themenfeld der Rechtsstaatlichkeit, in der Menschenrechtsfrage oder bei der internationalen Zusammenarbeit. Dass die Bilanz vor allem von der Covid-19-Pandemie überschattet wurde, zeigt auch die gegenwärtige Debatte um Defizite in der europäischen Rolle bei der Vorbereitung und Koordinierung der Impfkampagnen. Hier allerdings muss wohl weniger der Rat als die Europäische Kommission in der Verantwortung gesehen werden. Trotz der dabei zutage getretenen Unzulänglichkeiten auf dem Gebiet der europäischen Gesundheitspolitik präsentierte sich die europäische Politik auch unter den schwierigen Bedingungen als arbeitsfähig.

Dr. Ulrich Kater

Chefvolkswirt, DekaBank - Deutsche Girozentrale, Frankfurt am Main

Linkedin
Twitter
Xing

* * *

Andreas Krautscheid

Einiges bewegt in bewegter Zeit

Auf den ersten Blick mag es wie kleines Karo wirken, diese deutsche Ratspräsidentschaft an Erfolgen in der Finanzmarktregulierung zu messen: Alle Planungen wurden durchkreuzt, alle Überlegungen durch die beispiellosen Anstrengungen erschwert, der Corona-Pandemie auch europäisch gemeinsam Herr zu werden - und das fast ohne direkte Gespräche, fast ohne unmittelbaren persönlichen Austausch. Finanzmarktpolitik aus dem Homeoffice: Ja, die ist gelungen, und das zusätzlich zu den größten Brocken, die es zu bewegen galt. Der Corona-Wiederaufbaufonds, dessen Grundzüge die Bundesregierung bereits im ersten Halbjahr 2020 zusammen mit der französischen Regierung ausgearbeitet hatte, wurde gemeinsam mit dem mehrjährigen Haushalt kurz vor Jahresende endgültig in trockene Tücher gepackt. Die Bedeutung für den Zusammenhalt Europas und den wirtschaftlichen Wiederaufschwung kann gar nicht hoch genug eingestuft werden.

Dass manche Vorhaben nicht mit der ursprünglich geplanten Intensität verfolgt werden konnten, weil alle Beteiligten ihre Agenda an die Corona-Lage anpassen mussten - geschenkt. Dennoch sind wichtige Themen vorangekommen, darunter eben auch die Finanzmarktregulierung. In Berlin und Brüssel hat man verstanden: Leistungsfähige Banken und Finanzmärkte sind unverzichtbar, um den Unternehmen eine sichere Finanzierungsgrundlage zu verschaffen und um die Souveränität des europäischen Finanzplatzes zu sichern. Aus gutem Grund hatte die Bundesregierung daher zu Beginn ihrer Präsidentschaft angekündigt, ihre Schwerpunkte genau hier zu setzen. Wo stehen wir nach dieser Präsidentschaft, welche Bilanz können wir ziehen?

Beispiel europäische Kapitalmarktunion: Sie ist eines jener Projekte, die während der Krise noch einmal an Bedeutung hinzugewonnen haben. Insofern war es konsequent, dass die Kommission im vergangenen September einen neuen Aktionsplan veröffentlicht hat, mit vielen Einzelinitiativen, die in den kommenden Jahren in entsprechende Gesetzesvorschläge gegossen werden sollen. Das wäre für sich genommen noch kein Durchbruch. Unter deutschem Vorsitz haben sich die Mitgliedsstaaten Ende vergangenen Jahres aber nun explizit darauf geeinigt, die Kommissionsvorschläge nicht nur zu unterstützen, sondern auch zu forcieren.

Schwerpunkt Finanzmarktregulierung

Mit anderen Worten: Das Thema Kapitalmarktunion hat an Fahrt aufgenommen. Ein einheitlicher europäischer Kapitalmarkt wird nicht nur benötigt, um Finanzierungskapazitäten für den "Wiederaufbau" sowie für die digitale und ökologische Transformation der Wirtschaft bereitzustellen. Eine Kapitalmarktunion ist auch die richtige Antwort auf das Ausscheiden des größten europäischen Finanzplatzes aus der EU. Die deutsche Regierung hat diesem Thema deshalb zu Recht große Beachtung geschenkt und hier bleibt sie auch in der Pflicht.

Zu einem funktionierenden europäischen Finanzbinnenmarkt zählt neben der Kapitalmarktunion die Bankenunion. Auch hier wurden unter deutschem Vorsitz Weichen gestellt: Die Finanzminister wurden beauftragt, in den kommenden Wochen einen mehrstufigen Arbeitsplan zur Vollendung der Bankenunion auszuarbeiten und diesen auf dem Juni-Gipfel der Staats- und Regierungschefs vorzustellen. Ob bis dahin schon ein Konsens in umstrittenen Fragen gefunden sein wird, muss sich zeigen; ein wichtiges Zeitfenster für das Ausloten von Kompromissen aber ist fixiert. Auf anderen Gebieten wurden in den sechs Monaten der deutschen Präsidentschaft bereits Fakten geschaffen: Parlament, Rat und Kommission haben sich auf Lockerungen in der Finanzmarktrichtlinie MiFID II verständigt. Die Reform im Schnellverfahren ist Teil des Capital Markets Recovery Package, das den EU-Finanzmarkt stärken und einen Beitrag zum Kampf gegen die Corona- Krise leisten soll.

Ein besonderes Augenmerk hat die Bundesregierung richtigerweise auf die Digitalisierung der Finanzmärkte gerichtet; genauer auf die Schaffung eines digitalen Finanzbinnenmarktes, auf dem sie bestehende Hemmnisse für grenzüberschreitende digitale Finanzdienstleistungen abbauen will. Dass in diesem Bereich künftig die Musik spielt und zahlreiche Dinge gesetzlich geregelt werden müssen, von Wettbewerbsfragen bis zum Verbraucherschutz, von Kryptowährungen bis zu standardisierten Finanzdaten, hat inzwischen jede und jeder begriffen. Hierzu hat die Kommission ihre Digital-Finance-Strategie vorgelegt; ein politischer Konsens über diese Strategie muss nunmehr von der portugiesischen Präsidentschaft gefunden werden.

Die deutsche Ratspräsidentschaft hat sich mehr als wacker geschlagen. Auf der Agenda standen zwar auch Themen wie Sustainable Finance und Geldwäschebekämpfung. Da sich die entsprechenden Initiativen der Kommission aber coronabedingt verzögert haben, werden sie erst in diesem Jahr veröffentlicht werden. Dennoch wurden sichtbare Fortschritte während der deutschen Präsidentschaft erzielt. Besonders wichtig: Die Leitidee, den europäischen Finanzmarkt zu stärken, scheint in der Politik auf breite Akzeptanz zu stoßen, die wichtige Rolle der Banken für die Finanzierung der Wirtschaft wird erkannt. Nun kommt es darauf an, das Tempo hochzuhalten, die Vorschläge umzusetzen und Europa insgesamt stärker zu machen.

Andreas Krautscheid

Hauptgeschäftsführer, Bundesverband deutscher Banken e.V., Berlin

Linkedin
Twitter

* * *

Karl-Peter Schackmann-Fallis

Mit Subsidiarität in der Krise handlungsfähig

Die Europäische Union hat unter der deutschen Ratspräsidentschaft im Jahr 2020 ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Diese Aussage klingt banal als Rückblick auf sechs intensiv und lange vorbereitete Monate, in denen die Bundesregierung von Juni bis Dezember 2020 die Agenda in Europa prägen wollte. Aber diese Aussage ist beachtlich angesichts einer Pandemie, die alle bewährten Abläufe ausgehebelt und alle sorgsam gesetzten Prioritäten komplett durcheinandergewirbelt hat.

Im Angesicht der weltweiten Bedrohung durch die Pandemie ist Europas Staatsund Regierungschefs unter der deutschen Ratspräsidentschaft eine Einigung gelungen, die vielen als historisch gilt: Mit dem Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 und den EU-Geldern für die Wiederbelebung der Volkswirtschaften wurde ein insgesamt rund 1,8 Billionen Euro schweres Finanzpaket geschnürt und verabschiedet, für das die EU erstmals selbst Schulden aufnimmt. Finanzrahmen und Aufbauplan geben zudem die Richtung vor für die künftige Entwicklung Europas. Forschung und Innovationen sollen angeschoben werden, Klimawende und Digitalisierung gefördert und Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltiger und krisenfester ausgestaltet werden. Fast schon nebenbei wurde der erste Austritt eines EU-Mitglieds aus der Gemeinschaft zum Ende des Jahres 2020 Realität.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Banken und Sparkassen haben sich im Corona-Jahr 2020 enorm ins Zeug gelegt, um den Menschen und der Wirtschaft vor Ort in der Krise zur Seite zu stehen. Allein in den Sparkassen haben sie im Jahr 2020 an Unternehmen und wirtschaftlich Selbstständige Kredite in Höhe von 106,4 Milliarden Euro zugesagt, 13,1 Milliarden Euro oder 14,1 Prozent mehr als im Vorjahr. Über ihre Schreibtische gingen die vielen Anträge auf Förderkredite, die die KfW mit Bundesmitteln möglich machte und für die Brüssel sein wettbewerbsrechtliches Plazet gegeben hatte. Über 35 Milliarden Euro an KfW-Sonderprogrammkrediten wurden 2020 vergeben, Sparkassen stemmten mit über 37 Prozent den größten Anteil. Nicht zuletzt ermöglichten die Institute Kreditmoratorien, für die die nationalen Finanzaufseher im Zusammenspiel mit der europäischen Bankenaufsicht die regulatorischen Voraussetzungen geschaffen hatten.

Europäische Politik ist handlungsfähig

Früh hat auch das Bundesfinanzministerium seine ursprünglich geplante Agenda für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft angepasst, um sich mit aller Kraft dem Kampf gegen die Corona-Pandemie und dem Setzen der richtigen Leitplanken für den Weg durch und heraus aus der Krise zu widmen. Die Beispiele zeigen: Menschen auf allen Ebenen - von den obersten Etagen des Brüsseler EU-Hauptquartiers über Ministerien und Behörden bis zum Sachbearbeiter vor Ort - haben Verantwortung übernommen. Sie haben im Vertrauen auf die Kompetenzen und Stärken der anderen zusammengearbeitet, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie abzumildern. Das ist gelebte Subsidiarität!

Die Rahmenbedingungen für die Kreditvergabe hatten die europäischen Gesetzgeber schon vor Antritt der deutschen Ratspräsidentschaft festzurren können: Mit einem "Quick fix", der das EU-Gesetzgebungsverfahren in Rekordzeit durchlaufen hatte, passten sie die Kapitaladäquanzverordnung (Capital Requirements Regulation, CRR) an, die Vorgaben zur angemessenen Eigenkapitalausstattung von Kreditinstituten macht. Verabschiedet wurden sehr zielgerichtete Maßnahmen zur Eindämmung der Folgen der Corona-Pandemie. Außerdem wurde der erweiterte Anwendungsbereich für den KMU-Unterstützungsfaktor vorgezogen - ein wichtiger Schritt für den Mittelstand. Denn damit wurde die reduzierte Eigenkapitalunterlegung für Mittelstandskredite früher als ursprünglich geplant dauerhaft festgeschrieben. Dadurch werden die Kreditvergabemöglichkeiten für den Mittelstand weiter unterstützt.

Ebenfalls in einem "Quick fix" wurde die Finanzmarktrichtlinie MiFID II angepasst. Wie unter einem Brennglas waren in der Corona-Krise Schwachstellen dieser Regulierung zum Wertpapiergeschäft deutlich geworden - etwa die praktischen Probleme der Bereitstellung von Informationen bei telefonischer Ordererteilung. Künftig hat die elektronische Informationserteilung Vorrang, papierhafte Informationen erhalten Kunden nur noch, wenn sie dies ausdrücklich wünschen. Papierberge und unnötige Portokosten im Namen des Anlegerschutzes gehören damit hoffentlich der Vergangenheit an.

Europas Institutionen haben in der schwersten Krise seit ihrer Gründung unter Beweis gestellt, dass sie - in einem verantwortungsbewussten und vertrauensvollen Zusammenspiel aller Beteiligten - zu guten Lösungen kommen können. Auf solche haben sich die 27 EU-Mitgliedsländer unter der deutschen Ratspräsidentschaft in vielen auch für die Kreditwirtschaft relevanten Punkten geeinigt. Dieser Geist eines Europas, in dem Kompetenz und Verantwortung zusammenbleiben, indem ein gemeinsam verabschiedeter Rahmen vor Ort und im Sinne der Menschen mit Leben gefüllt wird, kann der Europäischen Union auch über die deutsche Ratspräsidentschaft hinaus nur guttun.

Dr. Karl-Peter Schackmann-Fallis

Geschäftsführendes Vorstandsmitglied, Deutscher Sparkassen- und Giroverband e.V., Berlin

Linkedin
Twitter

Iris Bethge-Krauss , Hauptgeschäftsführerin , Bundesverband Öffentlicher Banken Deutschlands e. V. (VÖB), Berlin
Dr. Ulrich Kater , Chefvolkswirt , DekaBank - Deutsche Girozentrale, Frankfurt am Main
Andreas Krautscheid , Hauptgeschäftsführer, Bundesverband deutscher Banken, Berlin
Dr. Karl-Peter Schackmann-Fallis , Geschäftsführendes Vorstandsmitglied , Deutscher Sparkassen- und Giroverband e.V., DSGV, Berlin

Weitere Artikelbilder

Noch keine Bewertungen vorhanden


X