Deutschlands Interessen an der Europäischen Integration stehen zur Debatte

Prof. Gerhard Stahl, Foto: G. Stahl

Viele bemühten die Metapher des Paukenschlags, als das Bundesverfassungsgericht am 5. Mai dieses Jahres seine Entscheidung über mehrere Verfassungsbeschwerden gegen das Staatsanleihekaufprogramm (Public Sector Purchase Programme, PSPP) bekanntgegeben hat. Die starke Sprache gegen die EZB sei ein gefundenes Fressen für Euro-Gegner sowie osteuropäische Separatisten, die dieses Urteil nun als Argument für mehr nationale Souveränität missbrauchen könnten, so die einen. An anderer Stelle wird lediglich von einem erhobenen Zeigefinger gesprochen, da EZB und Bundesbank auf das Urteil eher gelassen reagieren. Der Autor liefert einen Beitrag zur Diskussion, der neben der Geldpolitik vor allem auch die politische Signalwirkung des Urteils bespricht. Die Wirtschafts- und Währungsunion brauche das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedsstaaten, meint er. Das gelte es nun umso mehr durch Bundesregierung und Bundesbank zu beweisen. (Red.)

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem Urteil vom 5. Mai 2020 festgestellt, dass die Europäische Zentralbank (EZB) mit dem öffentlichen Anleiheaufkaufprogramm (PSPP) seine Kompetenzen überschritten haben könnte. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), welches im Dezember 2018 das Anleiheprogramm der EZB als rechtmäßig eingestuft hatte, wird als nicht nachvollziehbar und willkürlich kritisiert.

Die übermittelten Stellungnahmen der Bundesregierung, der Bundesbank und der Europäischen Zentralbank im Rahmen der mehrjährigen Befassung werden als nicht ausreichend angesehen um feststellen zu können, ob die EZB im Rahmen ihres Mandates gehandelt hat. Das Verfassungsgericht bezweifelt, dass das Ankaufprogramm eine geldpolitische Maßnahme ist und nicht doch vorwiegend wirtschaftspolitische Zielsetzungen hat. Dies wäre dann eine Überschreitung der Kompetenzen der Europäischen Zentralbank.

Die Bundesregierung und der Bundestag werden deshalb aufgefordert von der EZB innerhalb von drei Monaten eine angemessene Verhältnismäßigkeitsprüfung einzuholen. Sollte innerhalb dieser Frist nicht geklärt werden, dass es sich bei dem Anleiheaufkaufprogramm um eine geldpolitische Maßnahme handelt wird der Bundesbank untersagt, weiter daran teilzunehmen.

EZB-Präsidentin Lagarde hat bereits zwei Tage später öffentlich reagiert: Als unabhängige EU-Institution ist die EZB der Rechtsaufsicht des EuGH unterworfen und steht dem Europäischen Parlament Rede und Antwort. Sie unterstrich, dass die EZB auch in Zukunft alle notwendigen Maßnahmen im Rahmen ihres Mandates ergreifen wird und sich davon auch nicht durch eine Entscheidung des höchsten deutschen Gerichtes abhalten lässt.

Am 8. Mai hat der EuGH in einer kurzen Pressemitteilung darauf hingewiesen, dass nur er dazu befugt ist festzustellen, ob eine Handlung eines EU-Organs gegen EU-Recht verstößt. Außerdem betonte er, dass EuGH-Entscheidungen für nationale Gerichte bindend sind.

Ist das Urteil ein Stopp für die europäische Integration?

Die Bedeutung des Urteils geht über die Rechtsprechung hinaus. Mit dem Urteil stellt dass Bundesverfassungsgericht zwei Grundpfeiler der europäischen Integration in Frage: die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung in der EU durch die Bindungswirkung der EuGH-Entscheidungen und die Unabhängigkeit der EZB.

Der EuGH ist der Garant für die Funktionsfähigkeit der EU. Diese ist als Rechtsgemeinschaft darauf angewiesen, dass Gemeinschaftsrecht von den Mitgliedsstaaten befolgt wird. BVerfG greift die Arbeitsweise des EuGH mit einer Wortwahl und Deutlichkeit an, die für eine juristische Entscheidung außergewöhnlich ist. Dem EuGH wird "eine schlechterdings nicht mehr nachvollziehbare und daher objektiv willkürliche Auslegung" europäischen Rechts bescheinigt.

Dieser juristische Angriff des BVerfG auf den EuGH erfolgt nicht in einem politischen Vakuum, sondern zu einem Zeitpunkt wo dieser und mit ihm die europäische Rechtsordnung im Zentrum politischer Auseinandersetzungen stehen. Bereits bei der Brexit-Kampagne im Vereinigten Königreich (VK) versprachen Europaskeptiker die Unterwerfung unter den EuGH zu beenden. In den Verhandlungen über die zukünftige britische Teilnahme am Binnenmarkt wird die Rechtsaufsicht des EuGH bei der Kontrolle der Binnenmarktregeln vom VK abgelehnt. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hat das BVerfG-Urteil als eines der wichtigsten in der Geschichte der europäischen Union gelobt.

Der EuGH und die europäische Rechtsordnung

Er begrüßte, dass dadurch klargestellt wird, dass die Mitgliedsstaaten bestimmen, wo für die Organe der EU die Kompetenzgrenzen liegen. Diese positive Reaktion verwundert nicht, da die polnische Regierung zu den stärksten Kritikern des EuGH gehört. Der EuGH hatte mit Hinweis auf die Unabhängigkeit der Justiz mehrere Bestimmungen der "polnischen Justizreform" untersagt.

Die ersten öffentlichen Reaktionen zeigen die Gefahr, dass unter Hinweis auf das Karlsruher Urteil die Legitimität europäischer Rechtsprechung infrage gestellt wird. Pedro Cruz Villalón, ehemaliger Präsident des spanischen Verfassungsgerichts, formuliert dies so: Die Logik des BVerfG-Urteil ist es, dass jeder Mitgliedsstaat unabhängig den Bereich definieren kann, den er als konstitutionell unantastbar ansieht.

Die praktischen Konsequenzen falls sich diese BVerfG Interpretation europäisch durchsetzten sollte sind leicht vorstellbar. Polen könnte zum Beispiel eine europäische Rechtsprechung zur Justizreform ablehnen und Ungarn ein europäisches Urteil zur Sicherung der Pressefreiheit.

EZB und die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)

Im Zentrum der WWU stehen die EZB und das Europäische Zentralbankensystem (ESZB), welches die Notenbanken der Mitgliedsstaaten einschließt. Ziel des ESZB ist die Preisstabilität, die Festlegung und Durchführung der Geldpolitik, das Verwalten der Devisenreserven und ein reibungsloses Funktionieren der Zahlungssysteme. Während die Geld- und Währungspolitik in der WWU eine ausschließliche Zuständigkeit der Europäischen Zentralbank ist, bleibt Wirtschaftspolitik im Grundsatz eine nationale Zuständigkeit. Der EU-Vertrag selbst enthält keine Definition der Geld- und Währungspolitik, sondern gibt nur die zu erreichenden Ziele vor.

Die Abgrenzung zwischen Geldpolitik und Wirtschaftspolitik ist schwierig zu treffen, da geldpolitische Maßnahmen wirtschaftspolitische Auswirkungen haben. Aber auch nationale wirtschaftspolitische Maßnahmen können sich auf die Preisstabilität auswirken und deshalb geldpolitische Reaktionen erfordern.

Das BVerfG hat geprüft, ob das Anleiheaufkaufprogramm der EZB eine geldpolitische Maßnahme ist und damit in die Kompetenz der EZB fällt oder eine wirtschaftspolitische und damit als Kompetenzüberschreitung bewertet werden muss. Bei der mehrjährigen Prüfung fällt auf, dass das Verfassungsgericht sich tief in eine wirtschaftspolitische Diskussion verstrickt hat, bei der unterschiedliche Sichtweisen und Lehrmeinungen aufeinandertreffen. Die Rolle der Zentralbanken hat sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. Zur Sicherung der Finanzsysteme, zur ausreichenden Finanzierung der Volkswirtschaften wurden im Anschluss an die Finanzkrise von 2008 von Zentralbanken weltweit auch unkonventionelle Maßnahmen ergriffen. Für die EZB ist Geldpolitik eine besonders große Herausforderung, da es keine gemeinsame europäische Fiskalpolitik gibt und die wirtschaftliche Situation in den einzelnen Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich ist. Die europäische Geldpolitik muss diese Verschiedenheit berücksichtigen.

Die Verhandlungen des BVerfG und des EuGH

Bei den Verhandlungen des BVerfG wurde auf die Bewertung der EZB-Maßnahmen durch deutsche Experten und Interessenvertreter abgestellt. Es waren keine ausländischen Wirtschaftsforschungsinstitute oder internationale Experten an der Anhörung beteiligt. Das Gericht folgte den Antragsstellern der Verfassungsbeschwerde und gab Fragen und Ängsten einen sehr großen Raum, welche bereits bei der Gründung der WWU von deutschen Euro-Gegnern engagiert vorgetragen wurden. Im Urteil wurde untersucht, ob die EZB eine versteckte Staatsfinanzierung betreibt und durch den Ankauf von italienischen Staatsanleihen den italienischen Haushalt zulasten des deutschen Steuerzahlers mitfinanziert. Es wurde erörtert, ob die PSPP-Maßnahmen die Marktdisziplin schwächen und deshalb den Druck zur Haushaltskonsolidierung und zu Strukturreformen schwächen. Es wurden die vermeintlich negativen Auswirkungen der Niedrigzinsen erörtert.

Die Fragen, ob die PSPP-Maßnahmen zum Zusammenhalt der Währungsunion beitragen und Wachstum und Beschäftigung fördern, wurden nicht weiter vertieft. Es wurde auch nicht hervorgehoben, dass während der Laufzeit des umstrittenen Anleiheaufkaufprogramms trotz der Niedrigzinsen das Geldvermögen der privaten Haushalte in Deutschland um 4,3 Prozent jährlich gestiegen ist. In einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft wird daher festgestellt, dass auch in Zeiten niedriger Zinsen in Deutschland ein Vermögensaufbau stattfand. Der Autor der Studie schlussfolgerte, dass zumindest in Bezug auf die Ersparnisse das Anleiheaufkaufprogramm verhältnismäßig war.

Eine einzelstaatliche Sichtweise genügt nicht mehr

Bei der Analyse der Urteilsbegründung ergibt sich der Eindruck, dass das Verfassungsgericht versuchte, sich auf jeden Fall von der Entscheidung des EuGH abzugrenzen. Ohne nachvollziehbare Kriterien und Methoden gelang es dem BVerfG allerdings nicht, eine klare Einordnung des PSPP als Wirtschafts- oder Geldpolitik vorzunehmen.

Eine Analyse der 168 Punkte umfassenden Vorabentscheidung des EuGH zu den vom BVerfG vorgelegten Fragen zeigt, wie intensiv sich der EuGH mit dem Thema beschäftigt hatte. Für die Verhandlungen des EuGH wurden die Stellungnahmen der Bundesbank, der Europäischen Zentralbank, der Europäischen Kommission, der Bundesregierung, der französischen Regierung und zahlreicher weiterer Regierungen hinzugezogen. Sowohl die umfassende Beteiligung der Betroffenen als auch die Klarheit des EuGH-Urteils stehen im Gegensatz zum Vorgehen des BVerfG.

Der EuGH stellt nach einer detaillierten Prüfung fest, dass die EZB im Rahmen ihrer währungspolitischen Kompetenz gehandelt hat. Das BVerfG kann sich ausgehend von einer vorwiegend deutschen Sichtweise auf die Wirtschafts- und Währungsunion nicht zu einem abschließenden Urteil durchringen.

Das Vorgehen des BVerfG wird der Realität der WWU und der inzwischen engen Verflechtung der europäischen Volkswirtschaften nicht gerecht. Es gibt in der WWU keine abgeschlossenen nationalen Märkte mehr. Viele Unternehmen sind bei der Produktion über europäische Zulieferungen eng miteinander verbunden und auch der Absatz orientiert sich am europäischen Binnenmarkt.

Die Fixierung der Beratungen auf eine vermeintliche verdeckte Staatsfinanzierung von Ländern wie Italien durch EZB-Maßnahmen und eine nationale fiskalpolitische Sichtweise übersehen die echten Risiken der WWU für den deutschen Steuerzahler. Durch verspätete und zu vorsichtige geldpolitische Maßnahmen im Falle einer Rezession können wirtschaftliche Entwicklung und Beschäftigung leiden, mit der Folge von erheblichen Steuerausfällen für den deutschen Fiskus.

Das Urteil erfordert eine klare europapolitische Antwort

Die Bundesregierung und der Bundestag dürfen sich nicht damit begnügen eine technische Antwort zur gewünschten Verhältnismäßigkeitsprüfung von der Bundesbank und der Europäischen Zentralbank einzuholen. Das BVerfG-Urteil hat Grundsatzfragen zum Primat des Europarechts und zur Handlungsfähigkeit der EZB aufgeworfen, die in einer öffentlichen Debatte über die deutsche Europapolitik geklärt werden müssen.

Diese Debatte kann für die EZB eine Chance eröffnen, ihre schwierige Aufgabe und die notwendigen Abwägungen der deutschen Öffentlichkeit besser zu erläutern. Dabei sollte daran erinnert werden, dass die EZB bei Ausübung ihrer geldpolitischen Zuständigkeit und unter Respektierung ihrer Unabhängigkeit verpflichtet ist die Ziele der Europäischen Union zu unterstützen. Dazu gehört nach Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union auch die Aufgabe, "den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten" zu fördern.

Herausforderung und Chance

Die EU und ihre Mitgliedsstaaten stehen durch die Corona-bedingte globale Wirtschaftskrise, durch den Zusammenbruch der internationalen multilateralen Nachkriegsordnung, durch amerikanischen Protektionismus und einem erstarkten China vor existenziellen Herausforderungen.

In dieser schwierigen Situation hat sich die EZB bisher als sehr handlungsfähig erwiesen. Sie hat am 18. März dieses Jahres eine Ausdehnung ihres Anleiheaufkaufprogramms um 750 Milliarden Euro beschlossen. Mit diesem beispiellosen Rettungsprogramm (Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) wurden die internationalen Kapital- und Devisenmärkte beruhigt und die Liquiditätsversorgung sichergestellt. Geldpolitik beruht auf Vertrauen.

Die deutsche Politik muss durch ein klares Bekenntnis zur Unabhängigkeit der EZB zum Erhalt dieses Vertrauens beitragen. Wahrscheinlich hat die EZB im zeitlichen Zusammenhang mit dem BVerfG-Urteil deshalb besonders viele Anleihekäufe getätigt, um ihre ungeschmälerte Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Je mehr Zweifel geschürt werden, desto stärker muss die EZB intervenieren um eine erneute Finanzkrise in Europa zu vermeiden.

Es braucht einen Vertrauensbeweis mit Signalwirkung

Die Entscheidungsfähigkeit der EZB kontrastiert mit dem schwierigen Verhandlungsprozess zwischen den EU-Mitgliedsstaaten, die auch nach zwei Gipfeln der europäischen Regierungschefs noch keine Einigung über die Finanzierung des beschlossenen europäischen Wiederaufbauprogramms gefunden haben.

Um die Demokratie in Deutschland und der EU zu sichern, kommt es nicht nur darauf an, die Verfahren und Regeln einzuhalten, sondern auch die Erwartungen der Bürger auf Wohlstand und Sicherheit zu erfüllen. In der Politikwissenschaft werden Input-Legitimität (Einhaltung der Verfahren) und Output-Legitimität (Ergebnisse der Politik) als Voraussetzung für eine stabile Demokratie angesehen. In einem engverflochtenen Europa, wo viele Probleme nicht mehr von allein agierenden Nationalstaaten gelöst werden können, ist es eine besondere Herausforderung hier das richtige Gleichgewicht zu finden.

Ein zerbrechlicher Frieden

In der politischen Auseinandersetzung wird zunehmend eine Rückkehr zu mehr nationaler Politik gefordert. Die Pandemie hat bereits gezeigt, wie schnell nationale Grenzen wiederentstehen können und wie der Binnenmarkt zum Beispiel beim vorübergehenden Exportstopp von Medizinprodukten zusammenbrechen kann.

Als Folge der Corona-Pandemie erleiden Deutschland und andere EU-Länder den größten Wirtschaftseinbruch seit dem 2. Weltkrieg. Deutschland ist durch seine Exportorientierung von der internationalen Wirtschaftskrise, dem amerikanischen Protektionismus und der immer stärkeren chinesischen Konkurrenz besonders betroffen. Daher ist ein stabiler europäischer Binnenmarkt im Rahmen einer WWU mit einer handlungsfähigen Europäischen Zentralbank die Basis für deutschen Wohlstand.

Der deutsche Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier sagte am 75. Jahrestag zur Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa: "Wir müssen Europa zusammenhalten. Wir müssen als Europäer denken, fühlen und handeln. Wenn wir Europa, auch in und nach dieser Pandemie, nicht zusammenhalten, dann erweisen wir uns des 8. Mai nicht als würdig. Wenn Europa scheitert, scheitert auch das 'Nie wieder!'"

Prof. Gerhard Stahl Peking University HSBC Business School, Shenzhen
Prof. Gerhard Stahl , Peking University HSBC Business School, Shenzhen
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