Emerging Markets - was langfristig zählt

Lars Detlefs, Foto: MFS

Sollten Anleger unter den von Unsicherheit geprägten Marktverhältnissen der vergangenen Jahre auf Engagements in Emerging Marktes oder eher in Industrieländern setzen? Während derzeit viele Investoren an ein nachlassendes Wirtschaftswachstum in den Emerging Markets glauben, sehen die Autoren deren Chancen bei Unternehmensgewinnen und Aktienkursen letztlich eher von den Fundamentaldaten geprägt und folgen in ihrem Ausblick nicht dem Marktkonsens. Bei sorgfältiger Einzelwertauswahl und dem Verzicht auf zu hoch bewertete Titel erwarten sie insgesamt in den Emerging Markets bessere langfristige Ertragsperspektiven. (Red.)

Seit Jahrhunderten liebt die Investmentbranche Geschichten und läuft Trends hinterher. Im 17. Jahrhundert waren es Tulpenzwiebeln in den Niederlanden, im frühen 18. Jahrhundert die Aktien der South Sea Company und im 19. Jahrhundert Landrechte und Anleihen eines frei erfundenen mittelamerikanischen Landes namens "Poyais". In den 1990er-Jahren vertraute man auf den enormen Hardwarebedarf des wachsenden Technologiesektors. Und erst vor Kurzem haben das Versprechen stabiler Hauspreise und die vermeintliche Sicherheit von Hypothekenverbriefungen 2008 schließlich zur internationalen Finanzkrise geführt.

Noise oder langfristig wichtige Informationen?

Im Grunde sind die Finanzmärkte ein Forum, das Kapitalnehmer und Kapitalgeber zusammenbringt. Wer Kapital braucht, verweist auf den gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Nutzen seines Projekts, um an Finanzmittel zu kommen. Letztlich sind die Kurse von Aktien und Anleihen die abgezinsten erwarteten Rückflüsse. Wenn diese Rückflüsse aber ausbleiben oder hinter den Erwartungen zurückbleiben, brechen die Kurse ein und die Investoren fragen sich, was schiefgegangen ist. Wer erfolgreich investieren will, muss daher zwischen Noise und langfristig wichtigen Informationen unterscheiden. Im Folgenden wird untersucht, worauf es langfristig bei Emerging-Market-Aktien und Emerging-Market-Anleihen ankommt.

Im späten 19. Jahrhundert waren viele börsennotierte Industrieländerunternehmen sehr kapitalintensiv. Ihre Gewinnmargen waren niedrig, die Abhängigkeit vom Produkt- und Konjunkturzyklus war hoch. Es gibt viele Gemeinsamkeiten mit den späteren Emerging-Market-Unternehmen, deren Kurse sich je nach Weltkonjunktur extrem gut oder extrem schlecht entwickeln. Dieses zyklische Verhalten führte naturgemäß zu mehr Volatilität und Instabilität. Doch in den letzten Jahren hat sich etwas geändert.

Die Qualität von Emerging-Market-Anlagen hat sich verbessert. Ob gemessen an den Gewinnen je Aktie oder der Marktkapitalisierung: Der Anteil des Rohstoffsektors sowie zyklischer Sektoren wie Energie und Grundstoffe am MSCI Emerging Markets Index ist zurückgegangen. Heute entfällt ein größerer Teil des Anlageuniversums auf Sektoren mit höheren Einzelwertrisiken, für die geistige Eigentumsrechte und strukturelle Entwicklungen wichtiger sind als die Konjunktur. Beispiele sind Finanzen und Technologie.

Die Qualitätsverbesserung zeigt sich auch in der abnehmenden Kapitalintensität. Zur Jahrtausendwende betrug der durchschnittliche Quotient aus Investitionen und Umsatz bei Emerging-Market-Unternehmen etwa 15. Seitdem ist die Kapitalintensität kontinuierlich gefallen und liegt heute deutlich unter 10. Damit ist sie nur noch geringfügig höher als in den Industrieländern. Weil margen- und ertragsschwache Geschäftsmodelle seltener werden, steigen die Nettogewinnmargen (Abbildung 1). Die Qualität der Emerging-Market-Unternehmen verbessert sich also erheblich.

Enorme Bewertungsdifferenz zwischen Industrie- und Schwellenländern

Traditionell hängt die Anlegerstimmung an den Emerging Markets maßgeblich von den Wachstumserwartungen sowie der politischen und wirtschaftlichen Unsicherheit ab. Optimisten erwarten hohes Wachstum, Pessimisten große Unsicherheit. In den letzten Jahren sorgten beispielsweise die US-Dollar-Aufwertung, das abnehmende Wirtschaftswachstum (zum Beispiel in China) sowie länderspezifische Risiken (zum Beispiel in der Türkei) für eine Ausweitung des Bewertungsabstandes zwischen Emerging-Market- und Industrieländeraktien. Das konjunkturbereinigte Kurs-Gewinn-Verhältnis der USA (über 30) und das der Emerging Markets (knapp über 10) verdeutlicht dies.

Um es klar zu sagen: Ein Bewertungsaufschlag für Industrie- gegenüber Schwellenländeraktien ist gerechtfertigt, da in den Industrieländern die Kapitalkosten niedriger sind, die Gewinne weniger schwanken und die Corporate Governance besser ist. Die enorme Bewertungsdifferenz von heute scheint aber andere Gründe zu haben. Sie dürfte eher damit zu tun haben, dass die Investoren an die Geschichte vom nachlassenden Wirtschaftswachstum in den Emerging Markets glauben. Aber am Ende bestimmen die Fundamentaldaten die Cashflows, von denen Unternehmensgewinne und Aktienkurse abhängen. Der folgende Ausblick entspricht daher nicht dem Marktkonsens. Die Bewertung von Emerging-Market-Anleihen wiederum hängt davon ab, ob der Emittent zahlungswillig und zahlungsfähig ist. Anders als bei Emerging-Mar ket-Aktien kommt es hier entscheidend auf das Wirtschaftswachstum und die politische Stabilität an. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben vor allem die Industrieländer für Wirtschaftswachstum gesorgt. Seit der internationalen Finanzkrise entfällt aber über die Hälfte des realen Weltwirtschaftswachstums auf die Emerging Markets. Weil sowohl die Beschäftigung als auch die Produktivität hier stärker steigen als in den Industrieländern, ist weiter davon auszugehen, dass der Anteil der Emerging Markets wächst.

Bewertungen als Abbildung des Wachstumsbeitrags der Industrieländer?

Abbildung 2 zeigt die Entwicklung der Endfälligkeitsrendite von Industrieländer-Staatsanleihen, Emerging-Market-Fremd - währungsanleihen und Emerging-Market-Lokalwährungsanleihen. Aufgrund des Fundamentalausblicks und eines Vergleichs des Wirtschaftswachstums bietet der Zinsvorsprung der Emerging Markets heute einen mehr als großzügigen Risikoausgleich. Trotz der Überzeugung, dass Emerging-Market-Titel, Aktien wie Anleihen, langfristig höhere Erträge als Industrieländertitel versprechen, ist dennoch in beiden Assetklassen die Einzelwertauswahl wichtig. Hier gibt es enorme Alphachancen für Investoren.

Weil sich Einkaufsgewohnheiten und Verbraucherverhalten weltweit ändern, sollte man Cashflows und Gewinne vieler Konsumgütertitel neu bewerten - und damit letztlich auch deren Aktienkurse. Die Verbraucher geben immer mehr Geld für Erfahrungen und Erlebnisse und weniger für Produkte aus. In den letzten fünf Jahren zeigte sich dies in den USA, Großbritannien und Deutschland und es gibt erste Anzeichen für eine ähnliche Entwicklung in Schwellenländern wie Indien und Kolumbien (Abbildung 3).

Zunehmender Wettbewerb durch verschiedene Faktoren

Online-Reisebüros wie Ctrip in China oder Make My Trip in Indien können hier eine wichtige Rolle spielen, aber auch Schnellrestaurants mit eingeführten Marken und loyalen Kunden wie Yum China oder Jollibee, deren Kundenzahl und Preismacht steigen kann. Kasinobetreiber wie Genting Berhad aus Singapur könnten sich über wachsende Märkte freuen. Traditionell sind Konsumverbrauchsgüterwerte überdurchschnittlich bewertet, da ihre Cashflows als recht stabil gelten.

Doch auch das ändert sich, da der Branche zunehmender Wettbewerb durch E-Commerce, digitale Medien und veränderte Verbrauchergewohnheiten droht. Die Verbraucher wünschen sich jetzt "authentische" Artikel. Durch den E-Commerce ist die Platzierung der Waren in den Supermärkten nicht mehr so wichtig. Denn die digitalen Medien machen Verbraucher zu "Prosumenten", also zu Intermediären: Sie sprechen Empfehlungen aus und posten im Internet Produktkritiken, die die Verbrauchergewohnheiten beeinflussen.

Die sozialen Medien haben die Markteintrittsschranken im Konsumverbrauchsgütersektor gesenkt. Es gibt jetzt ein günstiges Werbemedium, das vor zehn Jahren noch nicht zur Verfügung stand. Schließlich haben sich auch die Verbraucherpräferenzen geändert. Man möchte jetzt "Authentizität" und setzt weniger auf die großen Marken. Neben Lebensmitteln werden Kleidung und Kosmetik wichtiger, was die Gewinnpotenziale noch weiter segmentiert. Viele Massengüterhersteller müssen daher entweder innovativ sein oder sich dem Preiswettbewerb stellen. Wenn dadurch die Marken fragmentiert werden und die Margen zurückgehen, wird die Einzelwertauswahl bei Aktien wie bei Credits wichtiger.

Markteintrittsschranken durch soziale Medien gesenkt

Nicht nur bei Konsumgüterherstellern sorgt das Internet für mehr Transparenz, sondern letztlich bei allem, was die Gesellschaft von heute prägt. Dadurch steigt auch die Bedeutung von ESG- beziehungsweise Nachhaltigkeitsfaktoren bei Anlageentscheidungen. Beispielsweise droht heute 40 Prozent der Weltbevölkerung Wasserknappheit. So ist in China 90 Prozent des Wassers verschmutzt. Politische Maßnahmen, um dieses Problem anzugehen, führen zu höheren Wasserkosten und Betriebsausgaben.

Chinesische Unternehmen mit Produktionsstätten in Regionen mit Wasserknappheit sind vielleicht nicht nachhaltig. Nutzen Investoren bei diesen Risiken möglicherweise die falschen Diskontfaktoren? Und wie steht es um die Corporate Governance? Über die Hälfte der Unternehmen des MSCI Emerging Markets Index hat einen Großaktionär, der mindestens 25 Prozent der Aktien hält. Staatliche Unternehmen machen fast ein Viertel des Anlageuniversums aus. Letztlich haben die vom Staat geschaffenen Monopole - zu denen nicht alle Staatsunternehmen zählen - weniger Anreize zu einer sorgfältigen Kapitalallokation und Investitionsplanung.

Da der Weltkonjunkturzyklus in die Jahre kommt und die Kapitalkosten zunehmen, könnten auch die Opportunitätskosten geschäftlicher Entscheidungen steigen. Wenn das Umfeld schwieriger wird und es den Unternehmen nicht mehr so leichtfällt, hohe Gewinne zu erzielen - sei es aufgrund von Disruption durch neue Technologien, verändertem Verbraucherverhalten oder Nachhaltigkeitsfaktoren -, wird der Markt Unternehmen ohne stetige langfristige Cashflows abstrafen und andere Unternehmen belohnen.

Selektivität als Alphaquelle

Noch ein paar Worte zu Emerging-Market-Anleihen: Noch vor nicht langer Zeit haben die Erträge kaum gestreut, da in den Industrieländern in den letzten Jahren sehr viel überschüssiges Kapital zur Verfügung stand. Wenn die Notenbanken vom Quantitative Easing zum Quantitative Tightening übergehen, könnte diese Finanzierungsquelle schwinden. Der Marktmechanismus könnte dann für eine bessere Übereinstimmung der Fundamentaldaten mit den Bewertungen sorgen, sodass die Einzelwertauswahl eine wichtigere Ertragsquelle werden kann.

Die Benchmarks sind üblicherweise so konstruiert, dass Papiere mit einer guten Vergangenheitsperformance und große Emittenten höher gewichtet werden. So ist der chinesische Unternehmensanleihemarkt heute der drittgrößte Anleihemarkt der Welt. China hat viel, was andere nicht haben, beispielsweise eine konsequente Politik und die nötigen Ressourcen, um auch mit schwierigen Rahmenbedingungen fertigzuwerden. Dennoch bieten die Spreads heute einen viel zu niedrigen Ausgleich für die Risiken. China hat fast einen zehnprozentigen Anteil am JPM EMBI Global Index, aber anderswo lassen sich bessere Anlagemöglichkeiten finden.

Schließlich wird die Länderauswahl, aber auch die Auswahl innerhalb der Länder bei Anleihen immer wichtiger. Beispielsweise gibt es in Brasilien trotz der höheren einzelwertspezifischen Risiken von Credits heute kaum einen Spread zwischen Unternehmens- und Staatsanleihen. Daher sind brasilianische Staatsanleihen die wesentlich interessantere Wahl. Im Gegensatz dazu spiegeln sich die sehr guten Fundamentaldaten von Peru in den Staatsanleihekursen noch nicht wider. Hier scheinen Unternehmensanleihen attraktiver.

Änderung der Fundamentaldaten

Zusammengefasst versprechen langfristig sowohl Emerging-Market-Aktien als auch Emerging-Market-Anleihen Investoren höhere Erträge als Industrieländerpapiere. Dies liegt an den höheren Cashflow-Erwartungen und der gemessen daran niedrigen Bewertung. Wenn das Umfeld für Unternehmen und staatliche Emittenten weltweit schwieriger wird, weil die Kapitalkosten steigen, müssen Investoren mehr auf genau jene Fundamentaldaten achten und langfristig denken.

Viele Faktoren - Technologie, Umwelt, Corporate Governance - werden in den kommenden Jahren die Fundamentaldaten von Unternehmen und Ländern verändern - und damit letztlich die Cashflows. Dies dürfte zu einer stärkeren Streuung der Wertpapierkurse führen. Es ist davon auszugehen, dass die Emerging Markets insgesamt bessere langfristige Ertragsperspektiven bieten. Dennoch könnten eine sorgfältige Einzelwertauswahl und der Verzicht auf zu hoch bewertete Titel am Ende den Unterschied machen.

Lars Detlefs CEFA, Geschäftsführer Deutschland, MFS Investment Management, Frankfurt am Main
Robert M. Almeida, Jr. Portfoliomanager und Global Investment Strategist, MFS Investment Management, Boston
Lars Detlefs , Senior Managing Director, Head of Institutional Sales – EMEA , MFS Investment Management, Frankfurt am Main

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