Ende der Vorrangstellung von Aktionärsinteressen hat Folgen für Aktienbewertungen

Lars Detlefs, Foto: MFS Investment Management

Die Gesellschaft hat begonnen, vom bisherigen Modell abzurücken, das den Aktionärsinteressen bei der Entwicklung eines Unternehmens Vorrang vor allem anderen einräumt. Die Covid-19-Pandemie dürfte dieses Umdenken beschleunigen. Denn nun müssen Anleger verstehen, welchen Wert Unternehmen für alle Interessengruppen geschaffen haben und welche Kosten sie verursachen. Unternehmen sind in den Augen dieser Interessengruppen nicht nur mehr den Investoren gegenüber verantwortlich, sondern tragen eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Die Autoren des vorliegenden Beitrags gehen davon aus, dass die Margen aufgrund dieser neuen Betrachtungsweise in den kommenden Jahren niedriger als erwartet ausfallen könnten, da Unternehmen einer größeren Öffentlichkeit ausgesetzt sind, die ihre Handlungen kritisch betrachten und Fehlverhalten bestrafen. Nur Unternehmensführungen, die sich angesichts dieses neuen Drucks weiterhin als nachhaltig beweisen werden, könnten als werthaltige Anlage bestand haben. (Red.)

Trotz seiner langen Dauer brachte der vor Kurzem beendete elfjährige Konjunkturzyklus im Verhältnis zu den großzügigen Renditen, die Anleger an den Finanzmärkten einfahren konnten, nur ein mageres Wirtschaftswachstum. Die Zentralbanken hatten damit gerechnet, dass niedrige Zinsen die Lebensgeister der Unternehmen wecken, die Investitionstätigkeit fördern, die Inflation ankurbeln und so dem Wohle aller dienen würden.

Anstelle von Lohnsteigerungen und anderen gesamtgesellschaftlichen Vorteilen wurde über die aufgeblasenen Zentralbankbilanzen jedoch unbeabsichtigt ein Anstieg der Vermögenspreise finanziert, denn Dividendenausschüttungen und Aktienrückkäufe florierten.

Zu dieser Fehleinschätzung der Zentralbanken kam zusätzlich das extrem kurzfristige Denken der Anleger. Vor dem Hintergrund des unterdurchschnittlichen Umsatzwachstums in der ersten Zyklushälfte erkannten die Unternehmen, dass der Markt nach Kapitalerträgen dürstete und wenig auf die langfristige Wertschöpfung achtete. Sie lieferten dem Markt, was er verlangte.

Nicht mehr nur den Aktionären verpflichtet

Während des letzten Konjunkturzyklus brachten die Unternehmen im breit gefassten S&P 500 Index ihren Aktionären eine Rendite von mehr als 9 Billionen US-Dollar, das heißt einen beträchtlichen Anteil der bei 23 Billionen US-Dollar liegenden Marktkapitalisierung des Index ein, und zwar hauptsächlich durch die Erhöhung des Fremdkapitalanteils in ihren Bilanzen. Dies trug dazu bei, die Bewertungen am Aktienmarkt völlig losgelöst vom Tempo des US-amerikanischen oder weltweiten Wirtschaftswachstums in die Höhe zu treiben. Es war ein Paradebeispiel für die Doktrin der vorrangigen Berücksichtigung von Aktionärsinteressen (Shareholder Primacy) - das Konzept, nach dem Unternehmen in erster Linie den Interessen der Aktionäre verpflichtet sind.

Ungleiche Einkommensverteilung wird berichtigt

Aufgrund der zuvor angesprochenen Entwicklung geriet dieses Modell zuletzt jedoch massiv unter Beschuss. Die Unzufriedenheit mit der vorrangigen Berücksichtigung von Aktionärsinteressen könnte künftig dazu führen, dass sich das Margenprofil und die Bewertungen, bei denen Anleger zum Kauf bestimmter Unternehmen bereit sind, grundlegend verändern. Die Bedeutung der Titelauswahl dürfte sich infolge dieser Veränderungen erhöhen. Das Risiko kann unter anderem auf drei verschiedene Aspekte analysiert werden: die ungleiche Einkommensverteilung, die Lieferketten und die Unternehmensführung.

In den letzten 40 Jahren hat sich durch zahlreiche strukturelle Faktoren, wie etwa die Automatisierung der Industrie, das Einkommensgefälle in den meisten Industrieländern verstärkt. Covid-19 hat diese Ungleichheiten ins Bewusstsein gerückt und Gesellschaft sowie Aufsichtsbehörden werden darauf abzielen, viele der Schritte, die Unternehmen in den letzten Jahrzehnten zur Stärkung ihrer Margen durch eine Verringerung der Personalkosten unternommen haben, wieder rückgängig zu machen. Nur ein Beispiel unter vielen: Die Zahl der Zeitarbeitnehmer, freien Mitarbeiter und projektbezogen Beschäftigten ist drastisch angestiegen. Inzwischen steht kaum einem von ihnen noch der Weg in eine Vollzeitbeschäftigung mit besseren Sozialleistungen und besserem Arbeitnehmerschutz offen.

Zahlreiche Tätigkeiten im Dienstleistungssektor haben beträchtlich an Wert verloren. Da nur wenige dieser Stellen ein existenzsicherndes Einkommen, Kranken- und Altersversorgungsleistungen oder geregelte Arbeitszeiten bieten, war die Gesellschaft gezwungen, die Kosten im Zusammenhang mit den negativen externen Effekten zu schultern, die aus der Personalpolitik schlecht bezahlender Arbeitgeber erwachsen.

Lieferketten stehen unter schärferer Beobachtung

Für Unternehmen, die dank nicht nachhaltiger Niedriglöhne überdurchschnittliche Erträge erzielten, sieht es nach Covid-19 kritisch aus. Demgegenüber dürften sich Unternehmen, die bereits ein gutes Personalmanagement betreiben oder über ausreichend hohe Margen und Preissetzungsmacht verfügen, um die höheren Personalkosten aufzufangen, einem geringeren Margendruck ausgesetzt sehen und im Vergleich zu ihren Wettbewerbern möglicherweise Seltenheitswert haben.

Das verstärkte gesellschaftliche Bewusstsein für Ungleichheit erstreckt sich auch auf Lieferketten. Es gab zahlreiche Berichte über Arbeitnehmer, die wegen Fabrikschließungen infolge der Pandemie in wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken. Von einigen Modemarken wurde vielfach gefordert, zum Beispiel nicht nur das Verkaufspersonal in den Industrieländern, sondern auch die in ihrer Lieferkette beschäftigten Arbeitskräfte zu schützen.

Es ist zu erwarten, dass nur wenige Unternehmen Kosten in dieser Höhe tragen können, falls der wirtschaftliche Stillstand länger als einige Monate anhält. Überdies kommen neue, durch die Pandemie bedingte Faktoren zu bereits bestehenden hinzu, beispielsweise zu den Vorschriften gegen moderne Sklaverei, die unter anderem Zwangs- und Kinderarbeit verhindern sollen, sodass sich Unternehmen womöglich einem verstärkten Kostendruck in ihrer Lieferkette ausgesetzt sehen.

Verändertes Verhalten der Unternehmen zu erwarten

In der Vergangenheit beschäftigten sich auf Nachhaltigkeit bedachte Anleger vor allem mit Governance-Themen wie der Zusammensetzung des Verwaltungsrats und der Vergütung von Führungskräften. Aufgrund der schuldenfinanzierten Exzesse, die mit der Covid-19-Pandemie abrupt zum Erliegen kamen, dürften nun lange vernachlässigte Aspekte der Unternehmensführung, wie die Kapitalallokation und -rendite, die sich langfristig mindestens ebenso stark auf die Nachhaltigkeit und Robustheit eines Unternehmens auswirken, stärker ins Blickfeld rücken. Unternehmenspraktiken wie die Aufnahme von Fremdkapital zur Finanzierung von Aktienrückkäufen und Dividendenausschüttungen wird der Markt künftig wohl deutlich kritischer betrachten.

Da Unternehmen staatliche Zuschüsse und Finanzhilfen beantragen, kann davon ausgegangen werden, dass nun auch Unternehmen mit geringen Körperschaftsteuersätzen genauer unter die Lupe genommen werden. Schon vor der Corona-Pandemie nahm die steuerliche Transparenz zu und viele Unternehmen mussten Mitarbeiter, Umsätze, Gewinne, Vermögenswerte sowie sonstige Daten nach Ländern aufgeschlüsselt angeben. Unabhängig davon kann beobachtet werden, wie einige Länder Steuern auf digitale Umsätze entwickeln, die wahrscheinlich erst den Beginn der umsatzbasierten Besteuerung darstellen, die Unternehmen erwartet, wenn sie ihre Gewinne aus Ländern mit höheren Steuersätzen auslagern.

Weitere Fragen erfordern immer neue Antworten

Die steigende Staatsverschuldung im Zusammenhang mit der Reaktion auf den Ausbruch des Corona-Virus dürfte eine Körperschaftsteuererhöhung oder die Entwicklung neuer Besteuerungsformen, beispielsweise CO2-, zucker- und ertragsbasierte Steuern, beschleunigen. Wie die bereits aufgezählten Belastungsfaktoren könnten auch diese Veränderungen mittel- bis langfristig auf die Gewinnmargen der Unternehmen Abwärtsdruck ausüben.

Es gibt in diesem Zusammenhang viel zu bedenken und alle Aspekte wurden hier noch nicht abgedeckt. Man könnte beispielsweise über das Tempo der Veränderungen diskutieren oder sogar darüber, ob die Vorrangstellung von Aktionärsinteressen bei außergewöhnlich hoher Unsicherheit wirklich endet. Deshalb ist MFS als Anleger daran interessiert, in Unternehmen zu investieren, die ihre Erträge über den gesamten Konjunkturzyklus hinweg nachhaltig steigern können und sich durch ein attraktives Risiko-Rendite-Verhältnis auszeichnen.

Zumindest ist bekannt, dass die Gewinnmargen der Unternehmen während des letzten Konjunkturzyklus neue Höchststände erreicht haben, obwohl das wirtschaftliche Umfeld bislang selten so schwach war. Das könnte darauf zurückzuführen sein, dass anderen Interessengruppen als den Aktionären in dieser Zeit enorme wirtschaftliche Werte entzogen wurden.

In jedem Konjunkturzyklus haben sich Ungleichgewichte herausgebildet. Während einer Krise oder Rezession werden diese Ungleichgewichte dann mühevoll und teuer von den Verursachern beseitigt. Vor diesem Hintergrund ist eine sorgfältige Fundamentalanalyse und Titelauswahl die einzige Möglichkeit, wirklich verantwortungsvoll mit Kapital umzugehen.

Lars Detlefs CEFA, Geschäftsführer Deutschland, MFS Investment Management, Frankfurt am Main
Robert M. Almeida, Jr. Portfoliomanager und Globaler Investmentstratege, MFS Investment Management, Frankfurt am Main
Lars Detlefs , Senior Managing Director, Head of Institutional Sales – EMEA , MFS Investment Management, Frankfurt am Main
Rob Almeida , Portfoliomanager und Globaler Investmentstratege, MFS Investment Management, Frankfurt am Main

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