Zu den Erfolgsaussichten des EU-Gipfels vom 21. Juli 2020

Michael Altenburg, Foto: Studio Ecker

Altenburg sieht das insgesamt 1,8 Billionen Euro umfassenden Finanzpaket, das die Regierungschefs der 27 EU-Mitgliedsstaaten am 21. Juli 2020 beschlossen haben, in der Umsetzung gefährdet, da auch noch das EU-Parlament zustimmen müsse. Dieses komme jedoch erst nach der Sommerpause am 14. September 2020 wieder zusammen. Das Parlament habe schon seine Zustimmung von Anpassungen des siebenjährigen EU-Budget-Rahmens abhängig gemacht. Er sieht die EU dabei jedoch auf dem Holzweg, sich lieber auf das Feilschen um einzelne Milliarden für traditionellen Agrarprotektionismus zu konzentrieren als sich den Herausforderungen der aktuellen Zeit zu stellen. Zwischen fortschreitender Dominanz der US Bigtechs und dem "aggressiven Hegemonialstreben" Chinas fehlt dem Autor eine abgestimmte Strategie des Westens. Er fordert eine neue, stärker fokussierte europäische Einigkeit, die seiner Meinung nach jedoch mehr Dezentralität als bürokratischen Zentralismus bedeuten sollte. (Red.)

In den frühen Morgenstunden des 21. Juli 2020 einigten sich die Regierungschefs der 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nach einem viereinhalbtägigen Marathon-Gipfeltreffen auf ein insgesamt 1,8 Billionen Euro umfassendes Finanzpaket. Das Paket enthält einen "Nächste Generation Europa" (NGEU) genannten Aufbaufonds über 750 Milliarden Euro zur Überwindung der wirtschaftlichen Einbußen infolge der Covid-19 Krise und einen siebenjährigen EU-Budget-Rahmen über knapp 1 100 Milliarden Euro. Angesichts ausgeprägter Auffassungsunterschiede galt diese Verständigung bis zuletzt als ungewiss. Das am Ende kaum noch erwartete Ergebnis wurde umso enthusiastischer als enormer, ja als historischer Erfolg von den beteiligten Regierungschefs gerühmt.

Das Europäische Parlament begrüßte den NGEU-Aufbaufonds ebenfalls, aber will trotzdem seine Zustimmung von Nachverhandlungen vor allem zum siebenjährigen EU Budgetrahmen abhängig machen: Den erfolgreichen Abschluss von Nachverhandlungen erwartet es bis Ende Oktober, damit es zu einem reibungslosen Start der EU-Programme ab 2021 kommt. Im Einzelnen wehrt sich das Europaparlament gegen Budgetkürzungen von Investitionen in den Programmen Grüner Deal, Digitale Wirtschaft, Erasmus sowie Gesundheit und Forschung. Darüber hinaus fordert es als Beitrag zur Rückzahlung der Mittel des Aufbaufonds die verbindliche Einführung direkter EU-Steuern wie etwa Abgaben auf nicht recycelten Plastikmüll oder CO2-Emissionen. Im Übrigen müssten Länder durch Entzug von EU-Mitteln und rechtlich sanktioniert werden können, falls Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit und Menschenrechte nicht gewahrt sind.1)

Zeitlicher und finanzieller Druck

Noch steht also die Umsetzung des Finanzpakets vom 21. Juli 2020 infrage. Die nächste Sitzung des Europarlaments findet erst nach der Sommerpause am 14. September 2020 in Straßburg statt. Vor allem die Unterstützungsmittel des Aufbaufonds können daher noch nicht fließen. Das trifft die fiskalisch schwächeren südlichen EU-Mitgliedsländer natürlich weitaus härter als etwa Deutschland.

Schon allein der zeitliche und vor allem finanzielle Druck, endlich an die Zuschussmittel aus dem NGEU-Fonds zu kommen, könnte dazu führen, dass das Europaparlament am Ende dem Paket, wie am 21. Juli 2020 von den EU-Regierungschefs beschlossen, auch ohne wesentliche Nachbesserungen zustimmen wird. Denn Deal ist Deal. Einzelforderungen zu Nachbesserungen des Budget-Rahmens könnten sonst auch die Einigung zum Aufbaufonds wieder ins Wanken bringen.

Unwillkürlich kommt einem das Bismarck unterstellte Dictum in den Sinn: "Je weniger die Leute wissen, wie Würste und Politik gemacht werden, desto besser schlafen sie."

So war etwa ein von Polen und Ungarn lautstark angedrohtes Veto gegen das - nur bei einstimmiger Unterstützung gültige - Beschlusspaket vom 21. Juli 2020 lediglich durch eine Zusicherung vermieden worden, dass die Verfolgung eines Mitgliedschaftsaufhebungsverfahrens nach Artikel 7 EU-Vertrag jedenfalls während der halbjährigen deutschen Ratspräsidentschaft ausgesetzt werde. Dabei handelt es sich um eine Sanktionierung wegen antidemokratischer, autoritärer, die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit einschränkende Tendenzen. Macron und sein neuer Europastaatssekretär Clément Beaune vertreten hierzu eine härtere Linie als die deutsche Bundesregierung. Spätestens mit Auslaufen der deutschen Ratspräsidentschaft am Jahresende 2020 wird das Thema also wieder auf den Tisch kommen.

Vermeintlich harter Widerstand der "sparsamen Vier" abgekauft

Auch die Überwindung des hartnäckigen Widerspruchs der als "sparsame Vier" bezeichneten Gruppe der Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden gegen die im NGEU geplanten Zuschüsse anstatt nur zurückzahlbarer Kredite erfolgte im zitierten Bismarckschen Sinne reichlich "wurstig". Ihren Widerstand haben sich die "sparsamen Vier" nämlich durch großzügige EU-Budget-Beitragsrabatte einfach abkaufen lassen. Wegen dieser Rabatte kam es dann auch zu Kürzungen im mehrjährigen EU-Budget: also weiter traditioneller Agrarprotektionismus und bloße Kohäsionsbemühungen anstatt neuen Schwerpunktbildungen in Bildung, Forschung, Innovation und internationaler Wettbewerbsfähigkeit.

All das steht aber einer überwiegend positiven Würdigung des EU-Gipfels auch außerhalb der Politik nicht im Wege. Professor Clemens Fuest etwa, Präsident des angesehenen Münchner ifo-Institutes, erkennt im EU-Gipfelbeschluss ein Zeichen für Solidarität, Handlungsfähigkeit und weitreichenden Wandel. Sein Vorgänger, Hans Werner Sinn, zwar auch im Grunde zustimmend, zeigt sich gleichwohl besorgt über die fiskalische Zielsetzungen in fragwürdiger Weise einbeziehende Praxis der Geldpolitik der EZB, auf deren Fortsetzung auch das Funktionieren des Aufbaufonds angewiesen bleibt. Ähnlich besorgt über die Belastung zukünftiger Generationen durch die jetzige, wenig gezielte Liquiditätsschwemme äußert sich Raghuram Rajan.2)

Bemerkenswert sind auch die ausgesprochen günstigen Einschätzungen des EU-Gipfels vom 21. Juli 2020 durch die supranationalen Finanzinstitutionen IWF, Weltbank, BIZ und durch Think Tanks wie OMFIF (Official Monetary and Financial Institutions Forum) und die G30 (Group of Thirty), die sich auf globale Zentralbankthemen und Investitionen von Akteuren des öffentlichen Sektors fokussieren. Hier steht die Sorge um den für die Stabilität des Weltfinanzsystems weiterhin ausschlaggebenden US-Dollar im Hintergrund.

Dessen Position wird sowohl durch die täglich zu beobachtende Vernachlässigung, ja Verschmähung der hieraus resultierenden Führungsverantwortung der USA durch den gegenwärtigen Präsidenten gefährdet, wie durch das immer aggressivere globale Hegemoniestreben Chinas. Ein zunehmendes Gewicht des Euro als Handels- und Reservewährung im internationalen Währungssystem hätte stabilisierende Wirkung. Die Entwicklung eines substanziellen, liquiden, in Euro denominierten Kapitalmarktsektors mit "AAA"-Spitzenratings, wie er von der Weiterentwicklung einer europäischen Kapitalmarktunion erwartet wird, wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Dieses Wünschen und Hoffen hat allerdings ein zureichend einmütiges politisches Wollen und Streben der EU, ihrer Mitgliedsländer und Organe zur Voraussetzung. Die Ratingagentur S&P teilte Ende Juli jedenfalls schon einmal mit, den Ausblick für das EU-Rating angesichts der positiven Signale vom 21. Juli 2020 auf "AAA" angehoben zu haben.3) Das Toprating hatte S&P der EU im Jahr 2016 mit der Begründung entzogen, das Fehlen politischer Kohäsion der EU im Anschluss an das britische Brexit-Referendum habe ihre Kreditwürdigkeit beeinträchtigt.

Technologischer Wettlauf zwischen dem Westen und China

Eine erneute Beeinträchtigung der Kreditwürdigkeit könnte natürlich auch als Folge einer weiteren Corona-Infektionswelle eintreten. Aber selbst wenn insoweit Europa das Schlimmste inzwischen tatsächlich bereits hinter sich gebracht haben sollte, ist festzuhalten, dass umgekehrt ausgerechnet Covid-19 und der Lockdown die digitale Transformation und damit die Bigtech-Firmen im Gegensatz zu den meisten anderen Wirtschaftssektoren extrem begünstigt haben: Mit Bekanntgabe der Ergebnisse für das zweite Quartal 2020 am 30. Juli 2020 erreichten Apple, Microsoft, Amazon, Alphabet und Facebook neue Umsatz- und Aktienkursrekorde. Ihre addierte Marktkapitalisierung macht inzwischen mehr als ein Fünftel des S&P-Dow-Jones-Aktienindex aus.4) Diese Konzentration wirft nochmal ganz andere ordnungspolitische wie hegemonialstrategische Schlagschatten als ein gigantischer Hilfsfonds für Unternehmen, deren Geschäftsmodelle inzwischen zumindest teilweise, aber unwiederbringlich obsolet geworden sind.

Gleichzeitig spitzt sich der technologische Wettlauf zwischen China und dem Westen weiter rasant zu. Hierauf fehlt bislang auch nur die Spur einer abgestimmten strategischen Reaktion des Westens. Präsident Trump versucht, mit Sanktionen zu kontern. Dagegen argumentiert Google Gründer Eric Schmidt,5) dass auf Dauer nur der überlegene Wettbewerber gewinnen wird und nicht derjenige, der sich abzuschotten und einzuigeln versucht. Und weil sich der Fortschritt in der Digitalisierung beschleunigt und ein Mithalten oder Aufholen angesichts des Skalierungshebels der Bigtech-Plattformen für Nachzügler kaum noch möglich sein wird, ist gesteigerte Dringlichkeit geboten.6)

Für das Finanzgeschäft auch in Europa ist ausschlaggebend, wer bei der Umsetzung eines zukünftigen grenzüberschreitenden digitalen Zahlungssystems der Gewinner sein wird. Denn der wird weltweit dann auch die neuen Standards diktieren. Das könnte am Ende gar ein chinesischer Akteur sein, vielleicht sogar ein staatlich kontrollierter.7) Die Bedrohungen erstrecken sich wegen des steigenden Risikos von Angriffen aus dem Cyberspace neben dem privaten Bereich (Schutz vor Datenmissbrauch, Fake News, Diebstahl, Betrügereien) auch auf die militärische Sicherheit.

Dezentrale Umsetzung statt zentralistischer Bürokratie

Brüsseler Selbstvergessenheit ist also auch unter dieser Weitwinkelperspektive kein erfolgversprechender Ansatz. Denn es kommt angesichts eines Gesamtpakets von 1,8 Billionen Euro nicht so sehr auf eine Milliarde Euro mehr oder weniger an als auf den unentrinnbaren globalen Kontext. Und der verlangt Wachheit, Tempo und auch eine Anpassung der europäischen Verträge. Dabei bedeutet die dringliche Entwicklung einer neuen, stärker fokussierten europäischen Einigkeit vor einem multipolaren geopolitischen Hintergrund nicht einstimmigen bürokratischen Zentralismus, sondern eine flexi ble Governance mit dezentraler Umsetzungsverantwortung, um Innovation, demokratische Verantwortlichkeit und damit auch Sensibilität für die zu lange schon vernachlässigten Aufgaben der Nachhaltigkeit zu retten.

Fußnoten

1) https://multimedia.europarl.europa.eu/de/parliament-cannot-accept-the-eu-long-term-budget-deal-as-it-stands_N01-PUB-200724-NEGO_ev

2) Siehe Rajans Artikel "Should Governments Spend Away?" vom 3. August 2020 in Project Syndicate: https://www.project-syndicate.org/commentary/government-spending-debt-burden-on-future-generations-by-raghuram-rajan-2020-08?utm_source=Project+...

3) Artikel der Financial Times vom 31. Juli "S&P lifts outlook on EU credit rating": https://www.ft.com/content/8b2dfa92-c073-4709-8003-c5296afe2675

4) Artikel der Financial Times vom 1. August: "Big tech presents a problem for investors as Congress": https://www.ft.com/content/89e07076-dfb7-49bc-a970-0d15e2dd2c2a

5) https://www.csis.org/events/online-event-technology-data-and-innovation-policy

6) Vgl. Bericht der G30 vom 30. Juli 2020 "Digital Currencies and Stablecoins/Risks, Opportunities and Challenges Ahead": https://group30.org/images/uploads/publications/G30_Digital_Currencies.pdf

7) Vgl. Artikel von Kenneth Rogoff "Covid Coin?" in Project Syndicate vom 5. August 2020: https://www.project-syndicate.org/commentary/covid19-impact-on-rise-of-central-bank-digital-currency-by-kenneth-rogoff-2020-08?utm_source=Projec...

Michael Altenburg Luzern, Schweiz
Michael Altenburg , Luzern, Schweiz
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