Europas Perspektiven in einem globalen und digitalen Wettbewerb

Andreas Krautscheid, Foto: Bundesverband deutscher Banken (Die Hoffotografen)

Gemeinsam vorwärts - so muss die Devise in Europa für den Wiederaufbau nach dem Ende der Covid-19-Pandemie lauten, meint der Autor des vorliegenden Beitrags. Politisch müsse man sich von individuellen Wegen verabschieden, spalterische Tendenzen sollen überwunden werden. Auch wirtschaftliche Grenzen sollten endlich abgebaut werden. Gerade nach einer solchen Krise gäbe es die Chance, den freien Fluss von Waren und Kapital innerhalb der Europäischen Union weiter auszubauen. So könnten Banken und Unternehmen den Einbruch der europäischen Volkswirtschaften abfedern und diese wieder auf die Beine bringen. Auch einen Rückstand im Bereich des Digitalen gelte es nach der Krise auszugleichen. All diese Maßnahmen seien erforderlich, um Europa wettbewerbsfähig zu halten. Sonst, so die Prognose, drohe der Kontinent zum politischen und zum wirtschaftlichen Spielball anderer Weltmächte wie den USA oder China zu werden. (Red.)

Europa hat versagt. Wieder einmal. Die EU: zu spät, zu langsam, zu zerstritten. So lautet derzeit landauf, landab das schnelle Urteil angesichts der europäischen Reaktionen auf die Corona-Pandemie. Und es stimmt ja auch: Diese Krise führt zumindest auf den ersten Blick zu einer bemerkenswerten Renaissance des Nationalstaats. Dort liegt in diesen Zeiten für Bürgerinnen und Bürger die Handlungsebene für wichtige Entscheidungen, dort haben Institutionen das Vertrauen.

Hat also Corona die Unfähigkeit Europas zu großen gemeinsamen Kraftanstrengungen endgültig bewiesen? War es das erst einmal mit der "Ever closer Union"? Oder bleibt die Einsicht, dass manches eben doch besser gleich gemeinsam angegangen worden wäre? Sind Klima, Digitales, Handel und der Wiederaufbau eines wirtschaftlich ramponierten Europas wirklich eine Sache nur einzelner Nationalstaaten?

Dramatischer Einbruch europäischer Volkswirtschaften

Nach Brexit, Handelskrieg und Budget-Streitigkeiten nun also die Corona-Pandemie - eine Krise, die in ihrer Dimension noch einmal alles bisher Erlebte in den Schatten stellt. Stand jetzt (Mitte April) ist nicht absehbar, welche Folgen sie im Einzelnen haben wird und wie lange wir überhaupt noch unter ihr leiden müssen, doch dürfte klar sein, dass die menschlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen Schäden global betrachtet erheblich sein werden. Auch Europa ist heftig von dieser Krise getroffen worden und das in mehrfacher Hinsicht. Speziell aus Südeuropa erreichen uns nur schwer verkraftbare Bilder und Nachrichten aus überfüllten Krankenhäusern und Rettungsstationen.

Der europaweite Lockdown und die Unterbrechung globaler Lieferketten werden zur Folge haben, dass die Volkswirtschaften aller europäischen Länder in diesem Jahr einen dramatischen Einbruch erleiden. Hinter nackten Zahlen verbergen sich dabei unzählige Einzelschicksale: Selbstständige, die alle Aufträge verloren haben; Arbeitnehmer, denen von heute auf morgen gekündigt werden muss; Unternehmen, deren Existenz am seidenen Faden hängt.

Gerade die deutsche Politik tut alles, um die ökonomischen Verwerfungen so klein wie möglich zu halten. Hier sind auch die Banken mit an Bord, die über die kommenden Monate, so gut es nur irgend geht, an der Seite ihre Unternehmenskunden stehen werden.

Auch politisch hat das Corona-Virus in den ersten Wochen der Krise Schaden angerichtet. Geschlossene Grenzen, gegenseitige Schuldzuweisungen sowie insgesamt wenig Koordination und Zusammenhalt zeigen, in einer historischen Ausnahmesituation haben erst einmal nur die nationalen Reflexe funktioniert, weniger die europäischen. Zumindest zeitweilig hat sich der Eindruck aufgedrängt, dass die Zentrifugalkräfte innerhalb der Europäischen Union noch einmal größer geworden sind. Inzwischen aber scheint es, als würden die meisten Mitgliedsstaaten die Krise mehr und mehr als eine europäische Bewährungsprobe annehmen. Europa beweist Handlungsfähigkeit. Dies ist auch dringend notwendig. Nicht nur weil geschickt inszenierte Bilder von chinesischen und russischen Hilfslieferungen zu einem Reputationsdebakel für Europa zu werden drohten, sondern weil natürlich in einer solchen Krise europäische Solidarität und europäische Zusammenarbeit das Gebot der Stunde sein müssen. Und diese europäische Solidarität ist kein Mythos. Sie existiert auch jetzt, unter erschwerten Bedingungen.

Rettungsmaßnahmen und Hilfspakete

Die Aufgaben, vor denen die Länder Europas akut stehen, sind gewaltig. Von dringender Hilfe für die jeweiligen Gesundheitssysteme abgesehen geht es auf europäischer Ebene vor allem um zwei Fragen: Wie kann es gelingen, die finanziellen Ressourcen so einzusetzen, dass auch die wirtschaftlich am meisten gebeutelten Länder das Tal der Tränen perspektivisch wieder verlassen können? Und - eng damit verbunden - wie lässt sich verhindern, dass diese Krise zu einer neuerlichen Zerreißprobe für die Eurozone wird?

Die Diskussion um Corona-Bonds und europäische Hilfsprogramme soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Nur so viel: Deutschland, und nicht nur Deutschland, wird sein ökonomisches und finanzielles Potenzial einsetzen, damit sich die europäische Wirtschaft wieder regenerieren kann. Ein Land wie Italien wird nicht alleingelassen. Mit dem im April zunächst von den Finanzministern beschlossenen Maßnahmenpaket, welches unter anderem ESM-Kreditlinien, EIB-Garantien sowie Finanzierungshilfen für die Kurzarbeit umfasst, hat die Europäische Union Handlungsfähigkeit demonstriert und rund eine halbe Billion Euro mobilisiert.

Die große europäische Kraftanstrengung, die darüber hinaus notwendig ist, muss klug und pragmatisch über die Bühne gehen und wirkungsvoll erfolgen. Welchen europäischen Stempel sie trägt, ist aber sekundär. Es wäre daher falsch und für den Zusammenhalt der Währungsunion gefährlich, die Diskussion über europäische Solidarität aus ideologischen Schützengräben heraus zu führen - ob aus der einen oder aus der anderen Richtung, etwa bei Corona-Bonds. Entscheidend ist, dass es einen europäischen Stempel gibt und Europa später gemeinsam aus der Krise herauswächst.

Und wenn irgendwann das Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist? Wenn wieder einigermaßen die Normalität zurückkehrt oder zumindest die Talsohle durchschritten wurde? Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, als könne man in der zweiten Jahreshälfte oder zum Ende des Jahres einfach wieder kräftig aufs Gaspedal drücken und schon ist man aus dem Gröbsten wieder raus.

Strategische Weichenstellungen für größere Wettbewerbsfähigkeit

Die ökonomischen und politischen Verwerfungen dieser Krise dürften sehr viel grundlegender sein. Die europäische Agenda wird deshalb auf absehbare Zeit anders aussehen, als sie ohne Pandemie aussehen würde. Und doch werden all die Fragen und Themen, die Europa bis Mitte März beansprucht haben und jetzt etwas in den Hintergrund gerückt sind, wiederkehren - manche schneller als man denkt. Vielleicht erscheinen sie in einem neuen Licht, vielleicht nicht einmal das.

Die Wettbewerbsfähigkeit Europas ist so ein Thema, dessen andauernde Aktualität jedem einleuchtet. Im Augenblick mag es vorrangig darum gehen, den Laden überhaupt wieder in Schwung zu bekommen. Aber das Morgen und Übermorgen zu ignorieren, kann man sich nicht leisten. Es geht auch in der "Wiederaufbauphase" um strategische Weichenstellungen, die die europäische Industrie dauerhaft wettbewerbsfähig machen.

Kurz bevor Corona das Leben und die Schlagzeilen zu diktieren begann, hatte die Europäische Kommission im März eine neue Strategie vorgelegt, mit der sie die europäische Industrie beim Übergang zur Klimaneutralität und Digitalisierung unterstützen will. Ob diese Industriestrategie schon der Weisheit letzter Schluss ist, sei dahingestellt, aber es werden zentrale Punkte angesprochen, die von großer Relevanz sind: Schutz des geistigen Eigentums, fairer Wettbewerb mit Konkurrenten aus Drittstaaten, die weitere Förderung mittelständischer Unternehmen, das Investment in klimaverträgliche Technologien.

Auch soll es darum gehen, Binnenmarktvorschriften besser um- und durchzusetzen. Gerade in einer Situation, in der viele Staaten erstaunlich wenig Scheu zeigen, innereuropäische Grenzkontrollen einzuführen und damit den Warenfluss zu behindern, ist es umso wichtiger, an den überragenden Wert des europäischen Binnenmarktes zu erinnern und ihn - wo es noch Potenzial gibt - weiter zu vertiefen.

Banken- und Kapitalmarktunion

Speziell Banken wissen ziemlich gut, was es bedeutet, auf einem unvollendeten Binnenmarkt zu operieren, sind wir doch von einem echten, schrankenlosen Finanzbinnenmarkt in der Europäischen Union weit entfernt. Viele sichtbare und unsichtbare Hürden erschweren oder verhindern noch immer, dass Banken ihre Produkte und Dienstleistungen grenzüberschreitend anbieten können. Wichtige nationale Regeln weichen voneinander ab und sorgen für ein Stück europäische Kleinstaaterei, wie wir sie vom Warenhandel schon lange nicht mehr kennen.

Fortschritte sind daher sowohl bei der europäischen Bankenunion als auch bei der europäischen Kapitalmarktunion zwingend notwendig. Bankenunion bedeutet vor allem und in erster Linie, einen paneuropäischen Bankenmarkt zu verwirklichen, auf dem einheitliche Regeln von Lissabon bis Tallinn gelten. Sicher, es wird in diesem Kontext auch um die Europäische Einlagensicherung gehen; hier muss es weitere Fortschritte geben. Aber eine Bankenunion umfasst eben mehr als nur die Einlagensicherung, sie ist vor allem ein einheitlicher Wettbewerbsraum.

Eine in größeren Maßstäben gedachte und realisierte Bankenunion wird den europäischen Bankenmarkt daher stärken und dazu beitragen, dass die Institute profitabler werden und eine noch größere Widerstandskraft gewinnen. Wettbewerbsfähigkeit ist ein Thema von zentraler Bedeutung für den Bankenstandort Europa. Europäische Institute, die mit den großen Banken aus den USA auf Augenhöhe konkurrieren können, sind eine zwingende Notwendigkeit für den Wirtschaftsraum EU und kein "nice to have".

Auch die Kapitalmarktunion muss weiter vorangetrieben werden. Die Europäische Union als zweitgrößter Wirtschaftsraum der Welt braucht jetzt erst recht einen leistungsfähigen Kapitalmarkt, der die finanzpolitische Schlagkraft und Souveränität des Kontinents stärkt und zugleich Unternehmen und Anlegern mehr Optionen eröffnet.

Unternehmen profitieren davon, wenn der europäische Kapitalmarkt attraktiver wird und dadurch mehr ausländisches Kapital in den Binnenmarkt strömt. Für die Anleger würden durch die Kapitalmarktunion grenzüberschreitende Investitionen in Wertpapiere so bequem und kostengünstig sein wie im Inland. Reibungs- und grenzenlose Kapitalströme innerhalb Europas können der Wiederbelebung der europäischen Volkswirtschaften einen Schub verleihen - deshalb ist die Kapitalmarktunion die richtige Antwort zur richtigen Zeit.

Digitaler Binnenmarkt notwendig

Die Wiederbelebung der europäischen Volkswirtschaften wird allerdings nur dann in einen dauerhaften Aufschwung einmünden, wenn der digitale Wandel weiter voranschreitet. Gerade in der Industrie gibt es bei digitalen Technologien noch ein sehr großes Wertschöpfungspotenzial, das wir in den nächsten Jahren ausschöpfen müssen. Worauf kommt es auf europäischer Ebene nun an?

Vereinfacht gesagt geht es darum, die Nutzung von Daten und Informationen in Europa signifikant zu erleichtern und die insgesamt verfügbaren Datenmengen deutlich auszubauen. Ähnlich wie bei Finanzgeschäften und Kapital muss ein echter Binnenmarkt für Daten geschaffen werden, nicht nur über Landesgrenzen hinweg, sondern auch zwischen unterschiedlichen wirtschaftlichen Sektoren.

Damit die europäischen Unternehmen leichter auf große Datenmengen zurückgreifen können, denkt die Kommission daran, europäische Datenräume zu schaffen, in denen thematische Datenpools aus unterschiedlichen Quellen aufgebaut werden. Wie das im Einzelnen aussehen soll und wer welche Nutzungsrechte bekommt, ist noch unklar, aber wenn Daten künftig stärker geteilt werden - ob private oder staatliche - und dadurch die verfügbare Menge an Daten größer wird, würde es leichter fallen, neue Produkte zu entwickeln oder selbstlernende KI-Systeme zu trainieren.

Das alles geht nicht ohne den verlässlichen Schutz sensibler Daten. Gerade die Banken wissen, welche Bedeutung dem Datenschutz zukommt. Er ist die Voraussetzung für ein vertrauensvolles und intaktes Kunde-Bank-Verhältnis. Europa insgesamt hat den seriösen und verantwortungsvollen Umgang mit persönlichen Daten zu einem Markenkern gemacht. Die DSGVO ist zu einer Art Exportschlager geworden, hat Standards auch außerhalb Europas gesetzt. Doch auch auf anderen Feldern geht es jetzt darum, eigene digitale Kapazitäten aufzubauen: bei der KI, bei Cloud-Lösungen, in den Bereichen Quanten-Computing, 5G oder Cyber-Security und beim Thema digitale Währung.

Nur mit einem programmierbaren Euro wird man auf mittlere Sicht asiatischen und amerikanischen Initiativen etwas entgegensetzen, Wertschöpfungsprozesse weiter automatisieren und somit die Effizienz einer digitalisierten Wirtschaft steigern können. Damit all dies gelingen kann, muss die Investitionslücke im Vergleich zu den USA und China geschlossen werden. Die Kommission beziffert sie auf 190 Milliarden Euro im Jahr.

Europa und die Weltwirtschaft

Europa wird also in seine Wettbewerbsfähigkeit investieren müssen - und das nach einem beispiellosen Wirtschaftseinbruch, der alle öffentlichen Haushalte tief in die roten Zahlen stürzen lässt und vielen Unternehmen die Existenzgrundlage nimmt. Es nützt aber nichts: Die Gemeinschaft muss sich den mannigfachen Herausforderungen stellen und alles daransetzen, dass die Mitgliedsstaaten ökonomisch wieder auf die Beine kommen, ihre wirtschaftlichen Stärken ausbauen und auf bisher vernachlässigten Technologiefeldern Boden gut machen. Offene Grenzen für Waren, Kapital und Daten gehören mit zu den zentralen Voraussetzungen, damit dieses Unterfangen gelingt.

Es mag sein, dass die Weltwirtschaft in einigen Jahren etwas anders aussehen wird als heute - zumindest in Teilen: mit veränderten Wertschöpfungs- und Lieferketten, einem womöglich noch stärkeren China, neuen Staatenallianzen und der einen oder anderen heute noch nicht absehbaren Entwicklung.

Aber auch dann gilt: Europa wird im Konzert der Großen nur mithalten, wenn es wirtschaftlich stark ist und diese ökonomische Stärke in politische Stärke ummünzen kann. Stark allerdings kann Europa nur dann sein, wenn es sich vom Gemeinschaftsgeist leiten lässt und seine Spaltungstendenzen überwindet. Ob es das schafft, darüber werden auch die kommenden Monate entscheiden.

Andreas Krautscheid Hauptgeschäftsführer, Bundesverband deutscher Banken e.V., Berlin
Andreas Krautscheid , Hauptgeschäftsführer, Bundesverband deutscher Banken, Berlin
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