Finanzierung von Innovationen durch die deutschen Börsen von 1896 bis 1932

Prof. Dr. Sibylle Lehmann-Hasemeyer, Foto: Universität Hohenheim (Oskar Eyb)

Innovationen über den Gang an die Börse zu finanzieren ist kein ausschließliches Phänomen der Jetztzeit. Die Autoren weisen darauf hin, dass bereits im späten 19. Jahrhundert viele Unternehmen die Berliner Börse als Quelle von Wagniskapital nutzten. In dem vorliegenden Beitrag gehen Lehmann-Hasemeyer und Streb der Frage nach, ob sich diese Beobachtung in der Zeit von 1877 bis 1932 auch auf die Regionalbörse, von denen es vor dem ersten Weltkrieg in Deutschland 23 gab, ausweiten lässt. In dieser Zeit entwickelte sich die Berliner Börse zu der wichtigsten Börse in Deutschland. Die Autoren haben sich der Frage mit einer empirischen Analyse der Patentgeschichte der Unternehmen angenähert. An der zentralen Börse in Berlin war ein signifikanter Anstieg der Zahl der Patente eines Unternehmens nach dem Börsengang zu beobachten. Eine Feststellung, die sich nicht für die regionalen Börsen belegen lässt. (Red.)

Ein Investor, der mit dem Gedanken spielt, eigene finanzielle Mittel in ein ambitioniertes Innovationsprojekt eines Erfinders zu stecken, kommt nicht umhin, sich mit den Problemen eines hohen Risikos und fehlender banküblicher Sicherheiten auseinanderzusetzen. Sein Investitionsrisiko ist nicht nur deshalb hoch, weil es in der Natur der Sache liegt, dass viele Innovationsprojekte in einem Misserfolg enden. Hinzu kommt, dass der Investor als Außenstehender kaum einschätzen kann, ob Realisierbarkeit und zukünftiger wirtschaftlicher Ertrag einer neuen Technologie tatsächlich den subjektiven Erwartungen des Erfinders entsprechen.

Die seit 2014 ausgestrahlte Fernsehsendung "Die Höhle der Löwen", die Erfindern die Gelegenheit gibt, prominente Investoren für ihre innovativen Ideen zu gewinnen, ist vielleicht gerade deshalb so erfolgreich, weil sie den Zuschauern den schwierigen Aushandlungsprozess zwischen optimistischem Erfinder und vorsichtigem Investor so deutlich vor Augen führt. Fehlende bankübliche Sicherheiten kommen im Falle des Scheiterns eines Innovationsprojekts zum Tragen.

Weil ein Erfinder das ihm zur Verfügung gestellte Kapital vorrangig für Forschung und Entwicklung verwendet, stehen im Falle eines Fehlschlags kaum materielle Restwerte zur Befriedigung der Kapitalgeber zur Verfügung. Viele Kapitalgeber bevorzugen es daher, in etablierte und ihnen vertraute Unternehmungen zu investieren, die das bereitgestellte Kapital für relativ risikolose Erweiterungsinvestitionen nutzen. Folglich kann es für Erfinder sehr mühsam sein, die finanziellen Mitteln einzuwerben, die nötig sind, um eine innovative Idee weiterzuentwickeln und schließlich zur Marktreife zu führen.

Abbildung 1: Patentaktivitäten der notierten und nicht notierten innovativen deutschen Unternehmen im Zeitraum von 1877 bis 1932 Quellen: Patentdaten aus Streb, Baten und Yin (2006), Börsennotiz und Aktienkapital aus Handbuch der Deutschen Aktiengesellschaften 1932

Weil es so schwierig ist, einen einzelnen Großinvestor wie etwa einen Bankmanager für eine neue Idee zu begeistern, gilt der Weg der Finanzierung von Innovationen über die Börse als der leichtere (Black und Gilson 1998). Dort können sich Investoren auch mit vergleichsweise kleinen finanziellen Einsätzen an einer bestimmten Innovation beteiligen, ihr gesamtes Kapital über viele verschiedene Projekte zum Zwecke der Risikodiversifizierung verteilen und ihre erworbenen Aktien schnell und einfach abstoßen, wenn sie den Glauben an ein bestimmtes Vorhaben verlieren. Trotz dieser offenkundigen Vorteile ist auch die börsenbasierte Finanzierung von Innovationen kein Selbstläufer, wie in Deutschland zuletzt die Schließung des "Neuen Markts" im Jahr 2003 verdeutlichte.

Patentaktivitäten nach Börsengang erhöht

Zu versuchen, Innovationsprojekte durch den Verkauf von Beteiligungen an der Börse zu finanzieren, ist keine neuartige Entwicklung des späten 20. Jahrhunderts. Wie die Autoren in einer 2016 publizierten Arbeit ausführlich erläutert haben, nutzten bereits im späten 19. Jahrhundert viele innovative deutsche Unternehmen die Berliner Börse als Quelle von Wagniskapital (Lehmann-Hasemeyer und Streb 2016). So fiel zunächst auf, dass knapp 20 Prozent der insgesamt 474 Unternehmen, die zwischen 1892 und 1913 erstmals an der Berliner Börse notierten, vor oder nach ihrem Börsengang mindestens ein wertvolles Patent2) erwarben, was insoweit überraschend ist, als im Deutschen Kaiserreich insgesamt nur etwa zwei Prozent der deutschen Unternehmen überhaupt über wertvolle Patente verfügten. 

An der Berliner Börse waren innovative deutsche Unternehmen somit deutlich überrepräsentiert. Die Beobachtung, dass sich die Patentaktivitäten eines Unternehmens nach dem Börsengang im Durchschnitt erhöhten, legt ergänzend die Vermutung nahe, dass es innovativen Unternehmen im Kaiserreich tatsächlich gelang, an der Berliner Börse die finanziellen Mittel einzusammeln, die sie zur erfolgreichen Umsetzung geplanter Innovationsprojekte benötigten.

In der Studie der Autoren wurden vier Typen von börsennotierten Unternehmen unterschieden: Unternehmen ohne eigene Patente, Unternehmen mit durchgängiger Innovationstätigkeit, Unternehmen, deren Patentzahl nach dem Börsengang stark zunahm ("Start-ups") und ehemals innovative Unternehmen, die nach dem Börsengang kaum noch Patente erwarben ("Buddenbrooks"). Der Befund, dass die Aktien von Unternehmen, die bereits vor dem Börsengang viele Patente erworben hatten, einen überdurchschnittlich hohen Zeichnungserlös realisierten, impliziert, dass die Berliner Börse ihre Funktion als Wagniskapitalgeber ohne besonderen Risikoaufschlag erfüllte. Offensichtlich schreckten die Marktteilnehmer an der Berliner Börse vor Investitionen in innovative und damit vielleicht riskantere Unternehmungen nicht zurück, sondern fragten ganz im Gegenteil deren Aktien bevorzugt nach, weil sie möglicherweise aktuell hohe Patentaktivitäten mit höheren Gewinnen in der Zukunft assoziierten. In diesem Sinne erfüllten Patente bereits auf dem Kapitalmarkt des 19. Jahrhunderts eine positive Signalfunktion.

Das überraschendste Ergebnis der Analyse ist, dass die Investoren offenkundig dazu in der Lage waren, zwischen nachhaltig innovativen Unternehmen und Buddenbrooks zu unterscheiden, obwohl diese zum Zeitpunkt des Börsengangs noch eine ganz ähnliche Patentgeschichte aufwiesen. Im Gegensatz zu den durchgängig innovativen Unternehmen erzielten die Buddenbrooks am ersten Handelstag eher durchschnittliche Preise und mussten höhere Risikoprämien in Form von "Underpricing" gewähren, um alle ihre Anteile am Markt zu platzieren. Die innovativen "Start-ups" des Kaiserreichs waren meistens bereits mittelständige Unternehmen, die sich in den damaligen technologieintensiven Wachstumsbranchen Chemie, Maschinenbau und Metallverarbeitung sowie im Textilsektor en ga gierten. Das waren die wichtigsten Industrien der deutschen Industrialisierung.

Börsenplatz im Umfeld bevorzugt

Die Berliner Börse war im Kaiserreich nicht die einzige Börse auf deutschem Boden, vielmehr waren seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch an anderen Orten Wertpapierbörsen entstanden. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, die innovationshistorische Betrachtung auf die regionalen deutschen Börsen auszuweiten und deren Bedeutung für die Finanzierung von Innovationen im Zeitraum von 1877 bis 1932 zu analysieren. Hierzu gibt es bisher keine vergleichbare Untersuchung. Immerhin ist in den letzten Jahren das grundsätzliche Interesse an regionalen Börsen gestiegen. Burhop und Lehmann-Hasemeyer (2016) zeigen, dass im frühen 20. Jahrhundert viele deutsche Unternehmen einen Börsenplatz in ihrem eigenen lokalen Umfeld bevorzugten. Erklärbar ist dieser "home bias" mit Informationsvorteilen. Investoren wussten über die wirtschaftliche und technologische Entwicklung der Unternehmen in ihrer Nachbarschaft vergleichsweise gut Bescheid, was ihr Investitionsrisiko beim Erwerb dieser Aktien verringerte und es den lokalen Unternehmen deshalb ermöglichte, beim lokalen Börsengang einen guten Preis zu erzielen. In ihrer Untersuchung über den amerikanischen Wertpapierhandel bis 1930 stellt O'Sullivan (2007) ebenfalls fest, dass an den kleineren Börsen in erster Linie lokale Unternehmen gehandelt wurden. Rogers, Campell and Turner (2020) konstatieren Ähnliches im Falle der regionalen Börsen in Großbritannien.

Abbildung 2: Erster Börsenplatz der innovativen Aktiengesellschaften, 1877 bis 1932 Quellen: Patentdaten aus Streb, Baten und Yin (2006), Börsennotiz Handbuch der Deutschen Aktiengesellschaften 1914 und 1932

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs existierten in Deutschland insgesamt 23 Börsen, die sowohl in traditionellen Geschäftszentren wie Frankfurt und Hamburg, am Sitz von Landesregierungen wie in Berlin, München und Dresden als auch in aufstrebenden Industriestädten wie in Essen und Köln entstanden waren (Lehmann-Hasemeyer und Burhop 2016). Unter diesen Börsen entwickelte sich die Berliner Börse nach der Reichsgründung zur zentralen deutschen Börse, die gleichrangig neben London und Paris agierte. Die bis dahin im deutschen Raum dominierende Frankfurter Börse verlor hingegen an Bedeutung (Gömmel 1992). Ein wichtiger Grund für diesen Führungswechsel war die zunehmende Konzentration bedeutender Bankinstitute am Finanzplatz Berlin. Dort residierte nicht nur die neu geschaffene Reichsbank, sondern auch die großen Aktienuniversalbanken, die wie die Discontogesellschaft, die Deutsche Bank und die Berliner Handelsgesellschaft traditionell in Berlin ansässig waren oder wie die Dresdner Bank und die Darmstädter Bank für Handel und Industrie ihren Hauptsitz dorthin verlagerten.

Darüber hinaus zog Berlin als führende Industriestadt viele Aktienemissionen von Industrieunternehmen an, während Frankfurt bis zu Beginn der 1880er Jahre auf Staatsanleihen spezialisiert gewesen war. Im Laufe der Zeit wuchs die Dominanz der Berliner Börse. Trotzdem blieben die regionalen Börsen für kleinere, lokal ansässige Unternehmen von Bedeutung, auch weil die Zulassungsbedingungen dort meist weniger streng waren als in Berlin (Burhop and Lehmann-Hasemeyer 2016, Tabelle 3).

Fokus der Börse Frankfurt auf chemische Industrie

Nach dem Ersten Weltkrieg bildeten sich unter den verbliebenen 21 deutschen Börsen vier verschiedene Typen heraus (Henning 1992). Berlin und Frankfurt waren als Vertreter der ersten Gruppe die einzigen Börsen mit deutschlandweitem Einzugsgebiet, wobei Berlin auch in der Zwischenkriegszeit die wichtigste überregional agierende Börse blieb. Die Frankfurter Börse war insbesondere für Unternehmen aus dem südwestdeutschen Raum attraktiv und konzentrierte sich auf Wertpapiere der chemischen Industrie. Zur zweiten Gruppe zählten die regionalen Börsen in Hamburg, Köln, Leipzig und München mit jeweils einem besonderen wirtschaftlichen Schwerpunkt.

Beispielsweise waren an der Münchner Börse Brauereien stark vertreten, deren Erzeugung und Absatz im Betrachtungszeitraum einem beachtlichen technologischen Wandel unterworfen waren (Proettel 2020, S. 93 bis 10. Als dritte Gruppe erfüllten die Börsen in Düsseldorf, Essen, Dresden und Hannover in ihrer jeweiligen Region weiterhin eine wichtige Finanzierungsfunktion, während die Börsen Augsburg, Breslau, Chemnitz, Danzig, Halle, Königsberg, Magdeburg, Mannheim, Stettin, Stuttgart und Zwickau als vierte Gruppe nur noch für ihre unmittelbare Umgebung von Bedeutung waren. Insgesamt unterlagen die westdeutschen Börsen weniger dem Zentralisierungssog als die ostdeutschen Börsen, die insbesondere unter ihrer großen Nähe zu Berlin litten. Die Anzahl der deutschen Börsenplätze blieb aber zunächst konstant und wurde erst durch die Nationalsozialisten verringert, die zwölf regionale Börsen schlossen.

Regionale Börsen deutlich weniger liquide

Wenn die von verschiedenen Autoren vertretene Auffassung zutrifft, dass kleine, eher unbekannte Unternehmen nahegelegene regionale Börsen bevorzugten, weil sie dort aufgrund geringerer Informationsasymmetrien vergleichsweise einfach und erfolgreich Investoren gewinnen konnten, liegt die Vermutung nahe, dass dieser Zusammenhang erst recht für innovative Unternehmen galt. Lokale Investoren, die den Innovator bestenfalls sogar persönlich kannten, mochten leichter von den positiven Zukunftsaussichten eines bestimmten Innovationsprojekts zu überzeugen gewesen sein als die anonymen Marktteilnehmer an der weit entfernten Berliner Börse. Allerdings waren die kleineren regionalen Börsen auch deutlich weniger liquide. Denkbar ist zudem, dass die kleinere Gruppe lokaler Investoren sich strukturell von ihren Berliner Kollegen unterschied, insgesamt risikoaverser war, und deshalb lieber in traditionsreiche Unternehmen mit etablierten Geschäftsfeldern investierten als in innovative Projekte.

Angesichts dieser gegenläufigen theoretischen Argumente ist die Frage, ob regionale deutsche Börsen im Kaiserreich als Quelle für Wagniskapital fungierten, nur empirisch zu beantworten. Im Folgenden wird deshalb auf Grundlage eines neuen erweiterten Datensatzes untersucht, an welchen Börsen innovative Unternehmen notierten und welchen Einfluss die Entscheidung zugunsten bestimmter Börsenplätze auf deren Patentaktivitäten hatte.

Daten und Analyse

Innovationen mithilfe von Patentstatistiken zu messen, ist wissenschaftlich nicht unumstritten. Insbesondere lässt das bloße Abzählen von Patenten unberücksichtigt, dass manche Patente eine bahnbrechende Basisinnovation schützten, wie etwa den Viertaktmotor von Nicolaus Otto (vom Kaiserlichen Patentamt im Jahr 1877 unter Patentnummer 532 gewährt), viele andere hingegen weniger bedeutsame Erfindungen betreffen, wie etwa die im Jahr 1883 patentierte "Vorrichtung zum Zerschneiden gekochter Eier" (Patentnummer 27632). In Patentsystemen, in denen die Patentnehmer gezwungen sind, ihr Patent in regelmäßigen Abständen durch Zahlung einer Verlängerungsgebühr zu erneuern, ist es allerdings möglich, die wertvollen Patente anhand ihrer Laufzeit zu identifizieren.

Im Betrachtungszeitraum wurde eine solche Verlängerungsgebühr jedes Jahr fällig und sie fiel mit zunehmender Dauer des Patents immer höher aus, im Kaiserreich etwa von zunächst 50 Mark zu Beginn des zweiten Jahres bis hin zu 700 Mark zu Beginn des fünfzehnten und letzten Jahres. Diese Gebührenstruktur veranlasste die meisten Patentnehmer, ihre Patente frühzeitig aufzugeben, sodass überhaupt nur etwa zehn Prozent aller im Kaiserreich gewährten Patente eine Laufzeit von mindestens zehn Jahren erreichten. Streb, Baten und Yin (2006) deuten diese mindestens zehn Jahre gehaltenen Patente als Teilmenge der ökonomisch wertvollen Innovationen und dokumentierten deren Verteilung über Regionen, Technologien und Unternehmen im Zeitraum 1877 bis 1932 in einer umfangreichen Datenbank mit über 66 000 verschiedenen Patenten.

Auf Grundlage dieser Datenbank wurden alle deutschen Unternehmen identifiziert, die im Zeitraum von 1877 bis 1932 mindestens ein deutsches Patent besaßen, das zehn Jahre oder länger gültig war. In einem zweiten Schritt wurden die vorhandenen Informationen in eine Panelstruktur überführt, die für jedes Jahr des Beobachtungszeitraums die Patentaktivitäten der betrachteten Unternehmen vergleichend nebeneinanderstellt. Hierzu wurden alle wertvollen Patente eines Unternehmens dem konkreten Kalenderjahr zugewiesen, in dem sie jeweils in Kraft getreten sind. Bei der Erstellung der unternehmensindividuellen Patentgeschichten galt es zudem zu berücksichtigen, dass sich Firmennamen im Zeitablauf veränderten, manche Unternehmen im Zuge von Übernahmen und Fusionen ihre rechtliche Selbstständigkeit verloren und manche Patente auf den Namen des Firmeneigentümers oder Gründers liefen. Die Patentangaben für ein Unternehmen wurden als "missing" kodiert, nachdem es liquidiert oder von einem anderen Unternehmen übernommen wurde. Mit anderen Worten: Es wurden die vergangenen Patente des übernommenen Unternehmens nicht der Patentgeschichte des übernehmenden Unternehmens zugerechnet. Schließlich wurden die Unternehmensdaten mit Informationen zu Börsennotierungen und dem Sitz der Firmenhauptquartiere ergänzt. Bei den Aktiengesellschaften wurde zusätzlich noch das Gründungsjahr und das Aktienkapital für das Stichjahr 1932 aus dem Handbuch der deutschen Aktiengesellschaft erhoben.

Insgesamt umfasst der Datensatz die Patentaktivitäten von 4 315 Unternehmen. Davon war die große Mehrzahl, nämlich 3 772, nicht an einer deutschen Börse notiert, 135 notierten nur an einer regionalen Börse, 226 nur in Berlin und 181 Unternehmen in Berlin und an mindestens einer weiteren deutschen Börse. Abbildung 1 veranschaulicht, dass die Unternehmen mit der größten Anzahl an wertvollen Patenten in Berlin und an mindestens einer weiteren regionalen Börse gehandelt wurden, dicht gefolgt von den Unternehmen, die nur in Berlin notiert waren. Das waren auch die signifikant größeren Unternehmen. Selbst die Unternehmen, die nur an regionalen Börsen gehandelt wurden, hatten im Durchschnitt noch doppelt so viele wertvolle Patente wie Unternehmen, die an keiner Börse notierten, obwohl zumindest die Aktiengesellschaften in der letzten Gruppe nicht signifikant kleiner waren.

Diese Vergleiche zeigen, dass die Ergebnisse von Lehmann-Hasemeyer und Streb (2016) auch in einem anderen (und größeren) Sample von Unternehmen replizierbar sind. Weiterhin bestätigt sich Berlin mit deutlichem Abstand als wichtigster Börsenplatz für innovative Unternehmen.

Abbildung 2 zeigt, an welchen Börsenplätzen die innovativen Unternehmen jeweils zuerst gehandelt wurden. Berlin und Frankfurt stechen deutlich hervor. In Berlin gingen 407 der Unternehmen aus der Stichprobe an die Börse, in Frankfurt immerhin noch 28. Im Durchschnitt hatte ein Unternehmen aus unserer Stichprobe, dass zuerst in Berlin notiert war, 24 wertvolle Patente. Unternehmen, die zuerst in Frankfurt notiert waren, besaßen etwas weniger mit 19,2. Im Median unterscheiden sich die beiden Börsen nicht. Auch die in Stuttgart, Köln und Düsseldorf erstmals gehandelten Aktiengesellschaften wiesen deutlich höhere durchschnittliche Patentaktivitäten auf als die nicht notierten Unternehmen, die im Mittel 4,0 wertvolle Patente hielten. Der Börsenplatz Mannheim erfüllt mit durchschnittlich 4,6 wertvollen Patente dieses Kriterium gerade noch, während sich alle anderen Börsenplätze nicht durch überdurchschnittlich innovative Unternehmen auszeichneten. In Ergänzung verdeutlicht Abbildung 3, dass insbesondere die Patentaktivitäten der in Berlin gehandelten Unternehmen vor dem Ersten Weltkrieg und während der Weltwirtschaftskrise Höhepunkte erreichten.

In einem nächsten Schritt wurde untersucht, ob sich die unternehmensindividuellen Patentaktivitäten nach dem jeweiligen Börsengang veränderten. Hierzu wird die folgende Regressionsgleichung geschätzt:

Formel 1

Die zu erklärende Variable ist die Anzahl der neu angemeldeten wertvollen Patente pro Jahr und Unternehmen. Die Zeit nach den Börsengängen wird durch Dummy-Variablen erfasst. Postbörsengang it nimmt den Wert eins für alle Jahre an, nachdem ein Unternehmen erstmals in Berlin gehandelt wurde. Entsprechend wird PostbörsengangRegionalit gleich eins für alle Jahre gesetzt, nachdem ein Unternehmen erstmalig an einer regionalen Börse notierte. Zusätzlich wird mit Jahr t für einen generellen zeitlichen Trend und mit (TrendUnternehmenBerlint ) und (TrendUnternehmenRegionalt) für gemeinsame Trends in den Patentaktivitäten von Unternehmen, die zu irgendeinem Zeitpunkt in Berlin oder einer anderen regionalen Börse notierten, kontrolliert. Unternehmensspezifische Charakteristika werden durch fixed effects aufgefangen. Die Standardfehler werden auf Unternehmensebene geclustered.

Abbildung 3: Patentaktivitäten der innovativen Unternehmen im Zeitablauf, 1877 bis 1932 Quellen: Patentdaten aus Streb, Baten und Yin (2006), Börsennotiz, Aktienkapital Handbuch der Deutschen Aktiengesellschaften 1932

Abbildung 4 zeigt die Ergebnisse der Regressionsanalyse. Der signifikante allgemeine Jahrestrend belegt, dass die Patentaktivitäten der verschiedenen Unternehmen im gewissem Umfang einer gemeinsamen zeitlichen Entwicklung folgten, mit den beiden Höhepunkten vor dem Ersten Weltkrieg und während der Weltwirtschaftskrise. Aufgrund des geringen Werts von R2 sollte man sich allerdings davor hüten, hier einen starken Einfluss eines Kondratjew-Zyklus (Schumpeter 1961, Mensch 1975) zu vermuten. Die Fähigkeit, wertvolle Patente hervorzubringen, scheint in erster Linie eine unternehmensindividuelle und überdies seltene Eigenschaft zu sein, die nur in beschränktem Umfang von allgemeinen makroökonomischen Trends beeinflusst wird.

Zahl der Patente nach Börsengang gestiegen

Festzuhalten ist, dass Abbildung 4 auf Grundlage eines erweiterten Samples von Unternehmen den Befund von Lehmann-Hasemeyer und Streb (2016) bestätigt: Nachdem ein Unternehmen in Berlin an die Börse gegangen war, stieg die Zahl seiner Patente signifikant an. Es ist zu vermuten, dass dieser Zusammenhang durch die Bereitstellung von Wagniskapital erklärt werden kann, durch das die Unternehmen in die Lage versetzt wurden, ambitionierte Innovationsprojekte zu verfolgen. Ein vergleichsweiser Effekt lässt sich für den Börsengang an eine regionale Börse allerdings nicht nachweisen. Die Informationsvorteile, die lokale Investoren auch in Bezug auf die Innovationsprojekte räumlich naher Unternehmen besaßen, reichten offenkundig nicht aus, die Nachteile der kleinen Börsenplätze wie etwa geringere Liquidität auszugleichen. Im gewählten Betrachtungszeitraum befand sich der deutsche Markt für neue Technologien wohl vorwiegend in Berlin.

Die wichtige Frage, wie innovative Unternehmen die Innovationen finanzierten, die zum Aufstieg Deutschlands zu einer der führenden Industrienationen führte, ist noch nicht umfassend beantwortet worden (Kollmer-von Oheimb-Loup und Streb 2010). Proettel (2020) hat gezeigt, dass kleinere innovative Gewerbe auch auf die Finanzierung durch lokale Sparkassen hoffen durften. Lehmann-Hasemeyer und Streb (2016) hoben die Bedeutung der Berliner Börse als Quelle von Wagniskapital hervor. Dieses Ergebnis wird durch den vorliegenden Aufsatz bestätigt. Die regionalen Börsen Deutschlands trugen hingegen wahrscheinlich nur wenig zur Finanzierung von Innovationen bei. An den meisten deutschen regionalen Börsen debütierten zwischen 1877 und 1913 Aktiengesellschaften, die nicht mehr wertvolle Patente besaßen als andere nicht notierte Unternehmen, und die - wichtiger noch - ihre Patentaktivitäten auch nach dem Börsengang nicht signifikant steigern konnten. Dieses Ergebnis mag angesichts von früheren Forschungsergebnissen überraschen, die betont hatten, dass regionale Börsen für kleinere lokale Unternehmen eine wichtige Finanzierungsquelle darstellten.

Frage nach besserer Rechtsform noch zu beantworten

Viele Unternehmen, die zu den innovativsten im gewählten Beobachtungszeitraum zählten, waren keine Aktiengesellschaften, sondern beispielsweise Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Diese im Jahr 1892 neu in Deutschland eingeführte Unternehmensform bot besonders gute Voraussetzungen für die Zusammenarbeit von Investoren und Erfindern, weil sie es erlaubte, die von allen Teilhabern verlangten Kapitaleinlagen auch in Form von Patenten einzubringen (Guinnane 2020). Es bleibt der weiteren Forschung überlassen zu untersuchen, welche rechtlichen Unternehmensformen für innovative Unternehmen am geeignetsten waren.

Abbildung 4: Der Einfluss der Börsennotierung auf die Patentaktivitäten Quelle: S. Lehmann-Hasemeyer/J. Streb

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Fußnoten

1) Einen Überblick über den Forschungsstand zur deutschen Börsengeschichte bieten Burhop und Lehmann-Hasemeyer (2018).

2) Zur Identifizierung wertvoller Patente siehe unten.

3) Zur ungleichen Verteilung der Patentaktivitäten vgl. Degner (2009) und Streb (2019).

4) Dieser Aufsatz kann nur einen kurzen Überblick über die historische Entwicklung der deutschen Börsen geben. Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Beer (1999), Lehmann-Hasemeyer und Burhop (2016) sowie Pohl (1992).

5) Straßburg und Danzig waren infolge der deutschen Gebietsverluste weggefallen.

6) Zu den verschiedenen Möglichkeiten, wertvolle Patente zu identifizieren vgl. Streb (2016). Einen Überblick über den Forschungsstand zur historischen Patentforschung in Europa bieten Donges, Selgert und Streb (2019).

7) Zur sektoralen Verteilung wertvoller Patente vgl. auch Richter und Streb (2011) und Streb, Wallusch und Yin (2007).

8) Streb, Baten und Yin (2006) zeigen, dass der starke Anstieg der langjährigen Patente vor dem Ersten Weltkrieg durch den inflationsbedingten Rückgang der realen Verlängerungsgebühren zwischen 1914 und 1923 erklärt werden kann, weil es hierdurch in diesem Zeitraum kaum noch Kosten verursachte, Patente über längere Zeit zu halten.

9) Zu den Vor- und Nachteilen verschiedener Unternehmensformen vgl. Guinnane, Harris, Lamoreaux und Rosenthal (2007).

Prof. Dr. Sibylle Lehmann-Hasemeyer Professur für Wirtschaftsgeschichte, Universität Hohenheim
Prof. Dr. Jochen Streb Professur für Wirtschaftsgeschichte, Universität Mannheim
Prof. Dr. Sibylle Lehmann-Hasemeyer , Professur für Wirtschaftsgeschichte, Universität Hohenheim
Prof. Dr. Jochen Streb , Professur für Wirtschaftsgeschichte, Universität Mannheim

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