Jeder für sich - nationaler Protektionismus stellt eine offene Weltwirtschaft infrage

Prof. Gerhard Stahl, Foto: G. Stahl

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Weltwirtschaft geprägt von zunehmender Verflechtung internationaler Unternehmen sowie der wirtschaftlichen Öffnung von Märkten. Größte Nutznießer dieser Entwicklung waren sicherlich multinationale Konzerne. Aber auch deutsche mittelständische Unternehmen konnten mit spezialisierten Produkten Markt- und Wissenslücken in anderen Ländern füllen. Dass eine solche Verflechtung ein Problem darstellen kann, zeigte die Finanzkrise 2008, als ein Schock in einem Wirtschaftssektor eine Kettenreaktion im kompletten System auslöste. Derzeit wird das System noch stärker auf die Probe gestellt: Die COVID-19-Pandemie bringt weltweit die Konjunktur zum Erliegen und zwingt viele Länder zu drastischen Hilfsmaßnahmen. Als Reaktion auf derlei globale Krisen versuchen Politiker in den USA, China und Teilen der EU derzeit das Geflecht zu lösen und ihre Abhängigkeit von anderen so zu mindern. Im vorliegenden Text versucht der Autor zu erörtern, ob der offenen Weltwirtschaft durch Protektionismus der Garaus gemacht wird und wie sich diese Politik auf Unternehmen auswirkt (Red.).

Erste Zweifel an den Segnungen der international eng verflochtenen Weltwirtschaft sind im Anschluss an die Finanz- und Wirtschaftskrise des Jahres 2008 aufgetaucht. Die globale, grenzenlose Finanzwirtschaft hatte zur Folge, dass eine risikoreiche Finanzierung von Hauskäufen in den USA fast zu einer Weltwirtschaftskrise werden konnte. Zum politischen Sprengstoff ist das Thema freier Handel und offene Weltwirtschaft mit der Wahl von US-Präsident Donald Trump geworden. Seine Ablehnung bisher geltender multilateraler Handelsverträge und die Unterminierung der Welthandelsorganisation erschüttern die Grundfesten der historisch gewachsenen Weltwirtschaftsordnung.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Virus-Pandemie haben die Zweifel an der gegenwärtigen Struktur der Weltwirtschaft weiter verstärkt. Arbeitsteilige Zulieferketten, die stark von Zwischenprodukten aus China abhängen, stoppten die Produktion auch von Unternehmen in Europa. Die Knappheit von einigen Gütern wie Atemmasken führte zu Exportverboten und damit einer Abkehr vom internationalen Handel.

Angesichts dieser Zweifel lohnt es sich genauer zu analysieren, welche Faktoren zu einer eng verflochtenen Weltwirtschaft geführt haben und welche Entwicklungen für die Zukunft der Weltwirtschaft erkennbar sind. Seit dem wirtschaftlichen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg haben der internationale Handel und Kapitalverkehr stark zugenommen. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte öffneten sich immer mehr Länder der internationalen Wirtschaft. Unternehmen orientierten sich zunehmend am Weltmarkt. Es kam zu Produktionsverlagerungen in Niedriglohnländer, zum Aufbau arbeitsteiliger Zulieferstrukturen und zur Erschließung neuer Märkte. Diese Globalisierung wurde von zwei historischen Entwicklungen besonders gefördert.

Globalisierung prägte die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts

Die europäische Integration hat nationale Barrieren abgebaut, um einen europäischen Binnenmarkt zu schaffen. Aus ursprünglich 6 Gründungsstaaten wurde ein weitgehend einheitlicher Wirtschaftsraum für mehr als 500 Millionen Menschen in 28 europäischen Ländern. Die Europäische Union garantiert dabei nicht nur die Freiheit des Handels und Kapitalverkehrs, sondern auch die Niederlassungsfreiheit für Unternehmen und die Freizügigkeit für Arbeitnehmer.

Die zweite Entwicklung, welche die Weltwirtschaft grundlegend veränderte, war die Öffnung Chinas. 1979 wurde unter Deng Xiaoping die erste Sonderwirtschaftszone in Shenzhen geschaffen, welche ausländischen Investoren erlaubte, in China zu investieren und zu produzieren. Weitere folgten und ermöglichten den Aufbau einer exportorientierten Industrie. Im Jahre 2001 trat China der Welthandelsorganisation bei und beschleunigte die Marktöffnung und die Integration in die internationale Arbeitsteilung. China wurde zum Wachstumsmotor der Weltwirtschaft und zur wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte.

Geopolitische Hegemonialkämpfe schlagen Wirtschaftspolitik

Lange Zeit wurde diese Entwicklung vor allem positiv gesehen: Millionen von Menschen entkamen der Armut. Dies galt nicht nur für China. Zunehmende Nachfrage nach Rohstoffen förderte auch die Wirtschaftsentwicklung in Teilen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Die entwickelten Volkswirtschaften konnten durch Produktionsverlagerungen von niedrigen Löhnen profitieren und dadurch Wohlstandsgewinne erzielen. Außerdem entstanden durch die aufstrebende Mittelschicht in China neue Absatzmärkte für viele westliche Produkte.

Insbesondere die exportorientierte deutsche Wirtschaft profitierte vom großen chinesischen Markt. Für viele Unternehmen ist China zum wichtigsten Absatzmarkt geworden. Die EU wurde zum größten Handelspartner Chinas. Zwischen 2008 und 2018 verdreifachte sich der EU-Export. Aber auch die deutlich höheren Importe aus China nahmen weiter zu. Es werden inzwischen jeden Tag Waren im Wert von mehr als 1 Milliarde Euro ausgetauscht.

Das vorherrschende wirtschaftspolitische Leitbild dieser Jahre war: Abbau der Zölle, Deregulierung, freier Kapitalverkehr, Ausbreitung des Freihandels und Freizügigkeit. Inzwischen verändert sich die Wahrnehmung. Insbesondere in den USA wird von der Politik das wirtschaftspolitische Leitbild immer öfter durch eine geopolitische Sichtweise ersetzt. Wirtschaftliche Sanktionen werden beschlossen, um politische Ziele zu erreichen. Die Beziehung zu China wird als strategischer Konflikt um politischen, militärischen und wirtschaftlichen Einfluss gesehen.

Durch wichtige Entwicklungen wird das Leitbild einer offenen internationalen Wirtschaft infrage gestellt:

- Mit der Wahl von Präsident Trump 2017 und seiner "America-First"-Politik haben die USA dem Ziel einer offenen Weltwirtschaft eine Absage erteilt. Eine internationale Handelsordnung, die sich an gemeinsamen Regeln orientiert, wird von Trumps Regierung abgelehnt. Die Funktionsfähigkeit der Welthandelsorganisation wird zerstört, dadurch dass keine Richter mehr für das Streitschlichtungsverfahren benannt werden. Internationale Verträge, die multilateral verhandelt wurden, werden gekündigt. Es wird versucht, durch Druck auf einzelne Partner zum Beispiel mittels Zollerhöhungen und durch bilaterales Verhandeln vorteilhaftere Abkommen zu erreichen.

- Mit dem Brexit scheidet zum ersten Mal ein Mitgliedsstaat aus der Europäischen Union aus. Damit werden wieder neue Grenzen innerhalb Europas aufgebaut. Die Zielsetzung der britischen Regierung ist es, nationale Kontrolle zurückzugewinnen. Es ist bereits erkennbar, dass die Verhandlungen (welche Ende 2020 abgeschlossen sein sollen) über Austrittsmodalitäten aus der EU und die zukünftige Zusammenarbeit sehr schwierig werden. Bisher ist nicht erkennbar, wie ein Kompromiss gefunden werden könnte, der auf das britische Verhandlungsziel eingeht: am Binnenmarkt weiterhin teilzunehmen ohne die europäischen Regeln und die europäische Gerichtsbarkeit anzuerkennen.

- Die USA und China haben in ihrem vorübergehenden Waffenstillstand im Handelskonflikt vereinbart, dass China für zusätzliche 200 Milliarden US-Dollar amerikanische Produkte und Dienstleistungen abnehmen wird. Diese Art von dirigistischer Vereinbarung widerspricht den Grundprinzipien des freien Handels und geht zulasten Dritter, deren Exporte entsprechend geringer ausfallen werden.

- Die größte Gefahr für eine offene Weltwirtschaft stellt allerdings der Wettlauf um Innovationen und neue Technologien dar. Wenn die "Nationalität" eines Unternehmens, wie im Falle von Huawei von den USA gefordert, das Kriterium wird, um ein Unternehmen vom Markt auszuschließen, dann werden neue nationale Grenzen gegen internationale Unternehmen geschaffen.

- Auch die chinesische "Made-in- China-2025"-Strategie hat zum Ziel, chinesische Technologie und Innovationen zu fördern und die Abhängigkeit von ausländischen Technologien und Hightech-Importen zu verringern. Bestimmte Dienstleistungen, wie zum Beispiel "Google Search", sind bereits auf dem chinesischen Markt blockiert.

- Erschwerend kommt hinzu, dass umfangreiche militärische Forschung, ins besondere in den USA und China, und entsprechende Auftragsvergabe an nationale Unternehmen in Bereichen wie Flugzeugbau, künstlicher Intelligenz und weltraumgestützte Anwendungen den internationalen Wettbewerb weiter verzerren. Viele der militärischen Entwicklungen haben eine "Dual-Use"-Komponente und können auch zu zivilen Produkten führen.

- Der Technologie- und Innovationswettlauf zwischen den USA und China birgt die Gefahr, dass wir einen technologischen Nationalismus aufbauen, der den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Ideen zunehmend behindert.

Außenhandel wird zum Fauxpas

Die exportorientierte deutsche Wirtschaft hat von der Globalisierung der letzten Jahrzehnte besonders profitiert. Eingebettet in den Binnenmarkt und unterstützt durch einen günstigen Euro-Wechselkurs wurde die Außenhandelsorientierung der deutschen Volkswirtschaft weiter ausgebaut. Dies zeigt sich beispielhaft an dem hohen deutschen Leistungsbilanzüberschuss von rund 7 Prozent des BIP. Dieser Überschuss wird jedoch zunehmend von Handelspartnern kritisiert, als eine Ursache für ein Ungleichgewicht der internationalen Wirtschaft.

China hat dagegen seine Exportabhängigkeit bereits deutlich reduziert und erreicht eine annähernd ausgeglichene Leistungsbilanz. Chinas Wirtschaftsmodell ändert sich: von dem Übergewicht des Industriesektors zu einer stärkeren Entwicklung des Dienstleistungssektors, von der Außenhandelsorientierung zum Aufbau der Binnennachfrage. Die Werkbank der Welt für einfache Güter wird zunehmend zum Innovationszentrum für Hightech-Produkte und zur Dienstleistungsgesellschaft.

Bei einer empirischen Analyse stellen wir fest, dass der Höhepunkt der Globalisierung 2007 war. Im Globalisierungsbericht von McKinsey wird berechnet, dass im Jahre 2007 der Wert des internationalen Waren- und Dienstleistungsaustauschs und der internationalen Finanzströme 53 Prozent der Weltwirtschaftsleistung entsprach. In der anschließenden Wirtschaftskrise fiel dieser Anteil auf 31 Prozent, insbesondere durch den dramatischen Einbruch des internationalen Finanzmarktes.

Inzwischen hat sich der internationale Wirtschafts- und Finanzaustausch wieder auf rund 40 Prozent der Weltwirtschaftsleistung stabilisiert. Die vergangenen Jahre sind aber durch eine deutlich geringere Dynamik als in den Jahrzehnten vor der Finanzkrise gekennzeichnet. Im Jahr 2019 hat durch den Handelskonflikt zwischen den USA und China und die damit verbundenen Unsicherheiten der Welthandel stagniert. Zu Beginn des Jahres 2020 ist durch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie ein Einbruch des Welthandels festzustellen, dessen Ausmaß gegenwärtig noch schwer abzuschätzen ist.

Handlungsräume für Wirtschaft und Politik

Für deutsche Unternehmen haben sich die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen verschlechtert durch amerikanischen Protektionismus, durch zunehmende Weltmarktpräsenz chinesischer und asiatischer Konkurrenten und durch politische Kritik an dem hohen deutschen Exportüberschuss. Das exportorientierte deutsche Wirtschaftsmodell muss sich anpassen. Darauf gilt es sich einzustellen.

Es ist nicht zu erwarten, dass sich die chinesische oder amerikanische Politik in nächster Zeit grundlegend ändern wird. Deshalb ist es notwendig, dass Unternehmen durch nationale und europäische Politik in einer Weise gefördert werden, die vergleichbare internationale Wettbewerbsbedingungen gegenüber ihren internationalen Konkurrenten sicherstellen.

Zum Leidwesen vieler Ordnungspolitiker müssen wir uns dafür von traditionellen Vorstellungen über die Rollenverteilung von öffentlich und privat verabschieden. Ein unternehmerischer, aktiver Staat auf nationaler und europäischer Ebene ist notwendig, um mit der sozialistischen Marktwirtschaft Chinas und der "America-First"-Politik konkurrieren zu können.

Dies bedeutet, dass über Forschungs- und Innovationsförderung, Wettbewerbspolitik, Industriepolitik, Außenhandelspolitik und Normensetzung die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen unterstützt wird. Um dafür die richtige Weichenstellung zu erreichen, ist eine intensive Zusammenarbeit zwischen den Vertretern der Wirtschaft und der Politik notwendig, nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene.

Der Aufbau einer Batterieproduktion und der Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie für umweltfreundliche Mobilität, die Flugzeug- und Raumfahrtindustrie, die Förderung künstlicher Intelligenz sind nur einige Beispiele dafür, dass Industriepolitik für strategische Bereiche auf europäischer Ebene stattfinden muss.

Allerdings müssen sich auch die Unternehmen auf Veränderungen einstellen. Forderungen an die Politik können keine vorausschauende Geschäftspolitik ersetzen. Während große multinationale Unternehmen den internationalen Markt besser verfolgen können, sind die grundlegenden Veränderungen der Weltwirtschaft eine besondere Herausforderung für mittelständische Unternehmen.

Große Marktchancen für Deutschland

Dies kann am Wirtschaftsaustausch Deutschlands mit China beispielhaft aufgezeigt werden. Mit 1,4 Milliarden Menschen bietet China enorme Marktchancen insbesondere in den Bereichen, wo noch keine wettbewerbsfähigen chinesischen Konkurrenten vorhanden sind. Während im traditionellen Industriebereich chinesische Unternehmen inzwischen wettbewerbsfähig sind und auch seit Langem in China etablierten deutschen Unternehmen immer stärker Konkurrenz machen, gilt dies für andere Wirtschaftsbereiche weniger.

Die neuen Schwerpunkte für die chinesische Entwicklung bieten Marktchancen in Wirtschaftsbereichen, in denen in Deutschland mittelständische Unternehmen stark vertreten sind. Dies gilt zum Beispiel für den Ausbau der Krankenhäuser, für das Bildungswesen, für Umwelttechnologien und für nachhaltigen Städtebau.

Für mittelständische Unternehmen ist es jedoch schwierig, in China Geschäfte zu machen. Erstens kennen sie die Gepflogenheiten, Regeln und Partner für wirtschaftliches Handeln in China nicht. Zweitens gibt es häufig ein Ungleichgewicht zwischen einer chinesischen Nachfrage nach umfangreichen Leistungen mit einer erheblichen Größenordnung und den begrenzten Kapazitäten eines Mittelständlers. Eine Antwort darauf könnte sein, dass mittelständische Unternehmen mit unterschiedlicher Spezialisierung sich für das China-Geschäft zusammenschließen, um auf dem chinesischen Markt gemeinsam aufzutreten.

Die Welthandelsordnung muss sich neu orientieren

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Es ist nicht zu erwarten, dass die internationale Wirtschaftsverflechtung trotz protektionistischer Maßnahmen beendet wird. Dazu ist die Verflechtung zu intensiv. Viele Technologien, Dienstleistungen und auch neue Innovationen erfordern einen großen internationalen Markt, um rentabel eingesetzt werden zu können.

Es ist auch im Interesse von Entwicklungsländern, stärker am Welthandel teilzunehmen und von den Vorteilen der internationalen Arbeitsteilung zu profitieren. Diesen Ehrgeiz spiegelt das von der Afrikanischen Union am 7. Juli 2019 vereinbarte kontinentale Freihandelsabkommen wider. Die internationale Welthandelsordnung wird sich allerdings verändern müssen angesichts Klimawandel, makroökonomischer Ungleichgewichte, Wettbewerbsverzerrungen und Risiken der internationalen Arbeitsteilung. Die Umorientierung zu einem sozial- und ökologisch nachhaltigen Wirtschaften wird eine Anpassung nationaler und internationaler Regeln und neue Geschäftsmodelle erfordern. Es kann daher in Zukunft nicht mehr wie in der Vergangenheit mit so hohen Zuwächsen des Welthandels gerechnet werden.

Welche längerfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen die Corona-Pandemie und die nationalen Stützungsmaßnahmen haben werden, ist noch unklar. Allerdings lässt sich eine Schlussfolgerung bereits jetzt ziehen: Die Politik sollte die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion stabilisieren und weiterentwickeln, damit der deutschen Exportwirtschaft in Zeiten internationaler Umbrüche mit einem funktionierenden gemeinsamen Binnenmarkt eine stabile und berechenbare Basis bleibt.

Prof. Gerhard Stahl Peking University HSBC Business School, Shenzhen
Prof. Gerhard Stahl , Peking University HSBC Business School, Shenzhen
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