Wie Industrie 4.0 auch die Finanzwelt verändern könnte

Christopher Smart, Foto: Barings

Den Betreibern von Turbinen, Bohrtürmen und Pipelines bringt das industrielle Internet inzwischen schon spürbare Einsparungen, doch im Finanzbereich und gerade auch im weltweiten Finanzierungsgeschäft hält der Autor die Möglichkeiten der Datenanalyse für lange noch nicht ausgeschöpft. Die Sensornetze und Big Data Analytics, die dazu beitragen, effizientere Wartungspläne festzulegen und potenzielle Systemausfälle vorherzusagen, können aus seiner Sicht auch der Finanzindustrie, die die entsprechenden Industrie- und Infrastrukturinvestitionen mit Darlehen unterstützt oder versichert, ein ganz neues Ausmaß an Transparenz und damit zu zielgenauen Finanzierungskonditionen bieten. (Red.)

Das Internet der Dinge wird häufig mit Verbrauchergimmicks wie Zahnbürsten, die die Zahnhygiene verfolgen, oder Kühlschränken, die Bescheid geben, wenn die Milch sauer wird, in Verbindung gebracht. Diese umwälzende Technologie ist weltweit in großen Industriebetrieben bereits tief verankert und wird dazu genutzt, die Kosten zu verringern, die Sicherheit zu verbessern und die Lebensdauer der Sachanlagen zu verlängern. Industrie 4.0, die manchmal auch als vierte industrielle Revolution bezeichnet wird, bietet einen faszinierenden Fortschritt: Betriebsstörungen können vorhergesehen, Unfälle können verhindert und die Wartung kann rationalisiert werden.

Erschließung neuer Kapitalquellen

Was in signifikantem Umfang jedoch noch aussteht, ist die Teilhabe derer an diesen betrieblichen Vorteilen, die die Darlehen, die Mietobjekte, die Versicherungen oder das Eigenkapital bereitstellen. Die Sensornetze und Big Data Analytics, die dazu beitragen, effizientere Wartungspläne festzulegen und potenzielle Systemausfälle vorherzusagen, können auch jenen Personen ein neues Ausmaß an Transparenz bieten, die diese Industrie- und Infrastrukturinvestitionen mit Darlehen unterstützen und versichern. Insbesondere in Entwicklungsländern, in denen die betrieblichen und politischen Risiken bereits hoch sind, dürften Analysen, die die betrieblichen Abläufe und die Produktivitätsgewinne überwachen können, dabei helfen, neue Kapitalquellen von sonst eher scheuen Geldgebern zu erschließen.

Um die Vorteile vollständig realisieren zu können, müssen zunächst aggregierte Datenströme entwickelt werden, die die Ergebnisse auf der Basis anderer ähnlicher betrieblicher Abläufe konkret vorhersagen und das Risiko nachweislich verringern. Die längerfristige Herausforderung besteht in der Verarbeitung dieser Daten bei gleichzeitigem Schutz der Vertraulichkeit im Hinblick auf die Betreiber sowie unter Berücksichtigung nationaler Sicherheitsbedenken der Regierungen und der Abwehr von Cyberangriffen. Am Ende bleibt abzuwarten, welche Akteure in diesen neuen kommerziellen Konstellationen tatsächlich von den finanziellen Vorteilen der neuen Technologie profitieren werden.

Eine vernünftige Kapitalanlage erfordert einen angemessenen Abgleich des mit dem Kapitalaufwand verbundenen Risikos mit der Höhe der potenziellen Rendite. Nach wie vor messen die Berechnungen und die Wahrscheinlichkeiten hauptsächlich das Risiko und die potenzielle Rendite auf der Basis von Inputs aus den Märkten und historischen Jahresabschlüssen. Das 21. Jahrhundert hat eine Kombination von Technologien eingeführt, die eine detaillierte und simultane Überwachung der physischen Welt ermöglichen. Die breite Verfügbarkeit von kostengünstigen Sensoren, mobiler Telekommunikation und Cloud-Speicherung macht die Fernerfassung, Übertragung und Speicherung riesiger Datenmengen über komplexe betriebliche Abläufe zu einem allgemein üblichen und bezahlbaren Unterfangen. Datenalgorithmen oder "maschinelles Lernen" setzen diese Datenströme der Vergangenheit und Gegenwart in immer aussagekräftigere Vorhersagen um.

Das wirklich Revolutionäre daran ist, dass dies alles so schnell und mit so geringen Kosten möglich ist. Dadurch können diese Tools für interessante Anwendungen eingesetzt werden, die den Entscheidungsprozess transformieren und bisweilen auch als vierte industrielle Revolution oder Industrie 4.0 bezeichnet werden. Es handelt sich um beeindruckende Tools, die die Menschen, die ihre besten Entscheidungen auf der Basis der verfügbaren Informationen treffen, nicht ersetzen, sondern vielmehr die verfügbaren Informationen erweitern und damit auch die Chancen, bessere Entscheidungen zu treffen, deutlich steigern werden.

Verringerung der Ausfallzeiten - Einsparung von Energie

Die folgenden Beispiele verdeutlichen, was in zahlreichen Industrien bereits geschieht:

- General Electric überwacht den Betrieb seiner Düsentriebwerke weltweit in Echtzeit und sammelt damit an einem einzigen Tag Millionen von leistungsbezogenen Datenströmen auf verschiedenen Routen und bei verschiedenen Wetterbedingungen. Wenn die Sensoren ein drohendes Problem melden, kann die Fluggesellschaft dafür sorgen, dass das richtige Teil zur richtigen Zeit in der richtigen Stadt zum Austausch zur Verfügung steht. Dadurch lassen sich außerplanmäßige Störungen um bis zu 25 Prozent verringern, unerwartete Ausfallzeiten vermeiden und der Kraftstoffverbrauch um 10 bis 15 Prozent reduzieren.

- Royal Dutch Shell setzt in Nigeria eine ähnliche Technologie zur Überwachung des Drucks, der Temperatur und des Durchsatzes von Pipelines ein und konnte seine Kapitalrendite nach eigenen Angaben durch die Verringerung von Ausfallzeiten fast verdoppeln.

- Caterpillar integriert verbundene Sensoren in alles, angefangen von Gabelstaplern bis hin zu Motoren, damit Bergbaukunden ihre Routen optimieren, mehr Aufgaben aus der Ferne erledigen und den Betrieb auch auf die Nacht ausdehnen können. Dadurch lässt sich der Kraftstoffverbrauch verringern, die Sicherheit verbessern und Geld einsparen.

Bessere Vorhersagen, bessere Investitionen

Natürlich gibt es noch Hindernisse für einen breiten Einsatz dieser Technologien. Viele von ihnen erfordern eine grundlegende Anpassung bestehender Geschäftsmodelle, während andere aufgrund von Unsicherheiten hinsichtlich der Datenschutzvorschriften verzögert werden. Dennoch ist der Nutzen aus diesen Technologien bereits erstaunlich und das vorhandene Potenzial noch faszinierender.

Für die Finanzwelt befindet sich der Wandel noch im Anfangsstadium, doch der Grundgedanke ist einfach. Wenn neue Technologien einen Beitrag zur Verbesserung der Transparenz, Verringerung der Kosten und Vorhersage von Problemen großer und komplexer physischer Betriebsvorgänge leisten, dürfte es auch eine messbare Verschiebung bei der Bewertung des finanziellen Risikos und der Rendite geben. Wer den Status und Zustand von Sicherheiten verfolgen kann, der wird eher geringere Verluste aus einem Darlehens- oder Mietvertrag erwarten. Wer in der Lage ist, die physische Versendung von Waren über die globalen Lieferketten hinweg zu verfolgen, kann Zahlungen schneller freigeben und muss weniger Working Capital binden. Wer den Betrieb und die Wartung einer Fabrik oder eines Kraftwerks aus der Ferne überwachen kann, dürfte imstande sein, weniger Reserven zu halten und seinen Cashflow zu verbessern.

Es kann sein, dass sich diese Vorteile nur langsam und nur in Nischen zeigen, während die Kapitalgeber, die Finanzierung in verschiedenen Formen bereitstellen, mit der Zeit lernen, den Strömen der Prognosedaten zu trauen und sie tatsächlich in ihre Entscheidungen einzubeziehen. In vielen Fällen können die Gewinne aus dieser neuen Transparenz auch rasch auf Wettbewerber verteilt werden, die bereit sind, den Nutzen daraus zu teilen, zum Beispiel durch bessere Bedingungen gegenüber Kreditnehmern.

Angesichts wachsender Sorgen über die Umwelt-, Sozial- und Governance-Dimensionen von Investitionen und Finanzen bringt die Fähigkeit, die physischen Bedingungen oder Vorgänge aus der Ferne zu überwachen, zusätzliche Vorteile. Anleger, die sich für die Beurteilung des Stands ihrer prognostizierten Renditen fast ausschließlich auf Geschäftsberichte verlassen hatten, können neue Datenfeeds zur Überwachung - und Vorhersage - von Ergebnissen im Zusammenhang mit einigen dieser anderen Dimensionen nutzen. Die Fähigkeit, Energieeinsparungen ebenso wie Trends bei CO2 -Emissionen zuverlässig und sofort zu überwachen, wird bei der Einschätzung der Umweltrisiken einer Investition besonders wirksam sein.

Mehr Automatisierung und Fernbetrieb können die Sicherheit der Arbeitnehmer ebenfalls drastisch verbessern. Für Anleger, deren Mandate die wirtschaftliche Entwicklung beinhalten, gibt es einige frühe Geschäftsmodelle, die diese Technologie in abgelegenen Entwicklungsländern einsetzen und damit das Risiko verringern und neue Finanzquellen erschließen.

Risiken und Fragen

Die größte Herausforderung für die Nutzung der vielversprechenden Aussichten dieser neuen Datenströme stellt vielleicht das Management der Ströme selbst dar. Ihr realer Wert ergibt sich nicht aus dem Betrieb eines einzelnen Düsentriebwerks oder Computertomografen, sondern aus Vergleichen mit dem Betrieb ähnlicher Geräte in ähnlichen Situationen. Dies bedeutet, dass verschiedene Betreiber bereit sein müssen, ihre Daten zu teilen, und dass die Daten aggregiert und analysiert werden müssen. Sollte dies die Aufgabe der Betreiber selbst sein oder sollten die Hersteller die Analysen liefern? Wie gut kann ein Hersteller den Betrieb des Produkts eines Wettbewerbers analysieren, das Teil derselben Anlage ist? Oder sollten die Kunden ihre Daten in einem Pool bei einem Dritten zusammenführen, dem man vertrauen kann, dass er sie aggregiert und teilt?

In engem Zusammenhang mit den Fragen rund um das Thema Datenaggregation werden die Regulierung und der Schutz der Daten stehen. Wenn die Ergebnisse mit einer größeren Gesamtheit von Industriebetrieben verglichen werden müssen, dann müssen die Regulierungsbehörden und Regierungen es zulassen, dass Daten aus ihren jeweiligen Hoheitsbereichen die Grenzen frei überqueren, damit ein Gasleitungsnetz in Brasilien mit einem in der Türkei verglichen werden kann. Dies ist ein heikles Unterfangen, wenn manche Behörden weiterhin auf Datenlokalisierung bestehen, um die Privatsphäre ihrer Bürger zu schützen.

Außerdem kann die breite Weitergabe industrieller Daten als Risiko für die nationale Sicherheit angesehen werden und zu einer erheblichen Verschärfung der Kontrollen führen. Es wird auch Befürchtungen im Hinblick auf Cyberangriffe geben. Man könnte Regierungsvertreter davon überzeugen, dass sie die Sicherheit und Regulierung von Schlüsselindustrien deutlich verbessern können, wenn sich die Daten frei bewegen und die Vergleiche aussagekräftig sein sollen. Aber dies wird kein einfaches Gespräch sein. Hersteller des industriellen Internets vertreten vielleicht gegensätzliche Ansichten zu diesen Fragen. Diejenigen, die ihre Gewinne in erster Linie mit Ausrüstungsverkäufen erzielen, könnten eher über die Weitergabe von Daten, die Konstruktionsgeheimnisse preisgeben, besorgt sein; diejenigen, die es sind, werden ihren Fokus auf den Verkauf von Software und und Analysen verlagern und in höherem Maß am freien Fluss der Daten beteiligt sein.

Gewinner gesucht

Nur weil die Daten aus dem industriellen Internet die Kredit- und Versicherungsrisiken verringern können, bedeutet dies nicht, dass alle an diesen entsprechenden Gewinnen teilhaben werden. Werden die Eigentümer und Betreiber von Ausrüstung tatsächlich bessere finanzielle Konditionen erhalten? Werden die Banken und Versicherer bei niedrigeren Verlusten und geringeren Risiken ähnliche Zinsspannen aufrechterhalten? Werden die Hersteller einen Nutzen aus den Daten ziehen, die sie selbst möglich gemacht haben?

In einer Konstellation könnte der Hersteller weiterhin Umsätze mit Ausrüstung mit integrierter Analytik verbuchen, während der Kunde und seine Bank sich die Einsparungen durch effizientere betriebliche Abläufe bei geringerem Risiko teilen. Was für den Hersteller in diesem Fall noch schlimmer wäre, ist die Tatsache, dass traditionell lukrative Wartungsverträge weitaus weniger lukrativ werden könnten, wenn weniger prophylaktische Wartung durchzuführen ist.

In einer anderen Konstellation würde der Hersteller nicht nur die Analysesoftware entwickeln, sondern auch die Kontrolle über die Analyse und die Wartung behalten. In dieser Konstellation könnte sich der Hersteller für die Finanzierung der Ausrüstung zusammen mit einem Bankenkonsortium entscheiden und den Kreditgebern direkt einige gestraffte betriebliche Analysen bereitstellen, um die Kosten der Kreditaufnahme zu verringern. Dies versetzt den Hersteller eher in die Rolle eines Verkäufers von Betriebsleistungen (Kilowatt- oder Düsentriebwerksstunden) als in erster Linie von Ausrüstung. Er würde auch eine zentrale Rolle bei der Wartung behalten, was den Vorhersagewert der Analysen vermutlich nur verbessern würde.

Vorteile für First Mover

Unterdessen könnte der Kreditgeber, der Betriebsberichte direkt vom Hersteller erhält, der die Ausrüstung am besten kennt, eher bereit sein, das geringere Risiko durch einen niedrigeren Zinssatz zu honorieren. Wenn er die Preissetzungsmacht behalten kann, wird er den Gewinn daraus ziehen. Wenn er die Einsparungen an die Kunden weitergibt, kann er seinen Marktanteil steigern. Wie so viele strukturelle Technologie-Änderungen werden sich diese zunächst langsam und dann sehr schnell entwickeln. Am Ende könnten die ersten Anwender ihren Vorsprung verlieren, doch die späten Anwender könnten ganz auf der Strecke bleiben.

Christopher Smart PhD, CFA, Head of the Barings Investment Institute, Charlotte (North Carolina)
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Christopher Smart , PhD, CFA, Head of the Barings Investment Institute, Charlotte (North Carolina)
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