Die Instrumente der EZB: Es ist noch Handlungsspielraum vorhanden

Dr. Uwe Siegmund, Foto: R+V AG

Alle großen Zentralbanken haben in den letzten Jahren die Instrumente der Geldpolitik erweitert. In Europa gehören Nullzinsen und monatliche Anleihekäufe in Milliardenhöhe zur neuen Normalität. Ökonomen und Politiker diskutieren, in welchem Umfang die Europäische Zentralbank (EZB) noch handlungsfähig ist. Der EZB steht nunmehr ein breites Arsenal an konventionellen und unkonventionellen Instrumenten zur Verfügung. Mehr noch, in Krisenzeiten können weitere Instrumente eingeführt werden. Die Autoren des vorliegenden Beitrags vertreten daher anhand von 15 Instrumenten die These, dass die EZB noch Handlungsspielraum habe. Sie warnen aber auch: Denn sollte dieser ausgenutzt werden, könne eine Vermischung von Geld- und Fiskalpolitik die Folge sein, die eine Neubewertung der Rolle der EU-Institutionen sowie der nationalen Notenbanken erforderlich machen könnte. (Red.)

In Artikel 127 Absatz 1 des EU-Vertrags steht: "Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken [ESZB] ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten." Weiter heißt es: "Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union [...]." Von diesem Ausgangspunkt aus, also den Zielen der Preisstabilität, der Vermeidung großer Rezessionen und neuerdings der Finanzstabilität, können 15 verschiedene geldpolitische Instrumente systematisch betrachtet werden. Dabei kann das ESZB auf bewährte Mittel (1 bis 8) zurückgreifen, aber auch andere, noch ungenutzte Instrumente (9 bis 15) anwenden, um seinen Handlungsspielraum auszuschöpfen.

1. Leitzinsen (Hauptrefinanzierungs-, Einlage- und Spitzenrefinanzierungssatz): Das wichtigste Instrument der Europäischen Zentralbank (EZB) ist die Festlegung der europäischen Leitzinsen. Die Zentralbank schafft mit ihnen eine Benchmark für Kredit- und Geldmarktzinsen. Bei einer Zinssenkung schafft sie Anreize, verstärkt Kredit bei den Banken nachzufragen.

Bestehendes geldpolitisches Instrumentarium

Der EZB-Hauptrefinanzierungssatz, umgangssprachlich auch nur Leitzins genannt, liegt seit 2014 bei 0 Prozent. Er kann somit nur noch ins Negative gesenkt werden. Wie die Schweiz seit 2015 zeigt, ist das durchaus möglich. Dort beträgt der Leitzins minus 0,75 Prozent. Europäische Geschäftsbanken würden aufgrund der Wettbewerbssituation ihre Zinssätze vermutlich ebenso senken. Solange Banken weiterhin einen Risikoaufschlag und Gebühren verdienen, kann also auch der Kreditzins negativ werden. Welche Folgen negative Kreditzinsen für die Kreditaufnahme hätten, ist derzeit offen.

Monatliche Nettokäufe der EZB (in Milliarden Euro) Quelle: EZB

Unterhalb des Hauptrefinanzierungssatzes liegt der Einlagesatz, zu dem Banken ihre Liquidität bei der EZB parken können. Für Banken gibt es nur drei Möglichkeiten überschlüssiges Geld kurzfristig anzulegen: Sie können Bargeld halten, das Geld am Interbankenmarkt verleihen oder es auf ihrem EZB-Konto parken. Der Einlagesatz ist seit 2014 negativ und beträgt derzeit minus 0,5 Prozent. Der Einlagezins kann noch weiter fallen, solange bis die Kostengrenze der Bargeldhaltung erreicht ist. Mit dem 2019 beschlossen Tiering-System möchte die EZB die Banken entlasten und die Kreditvergabe stimulieren. Denn Geschäftsbanken können und wollen die negativen Einlagezinsen nicht an Haushalte und Unternehmen weitergeben. Das Tiering-System funktioniert wie ein Freibetrag: Bis zu einem bestimmten Betrag können Banken nun ihre über den Mindestreserven gehaltenen Mittel bei der EZB anlegen, ohne dass hierdurch negative Einlagezinsen fällig werden.

Oberhalb des Hauptrefinanzierungssatzes liegt der Spitzen-Refinanzierungssatz. Zu diesem können Banken zusätzlich unbegrenzt Geld bei der Zentralbank leihen, wenn sie am Interbankenmarkt keine Mittel bekommen. Er beträgt derzeit plus 0,25 Prozent. Momentan spielt er aufgrund der hohen Liquidität am Markt keine Rolle. Aber in einer Krisensituation, wenn Liquidität knapp ist, kann er wichtig werden. Wie sich am Beginn der Finanzkrise im Vereinigten Königreich gezeigt hatte, kann er sehr schnell gesenkt oder außer Kraft gesetzt werden. Auch der Spitzen-Refinanzierungssatz könnte negativ werden.

2. Mindestreservequote (Minimum Reserve Requirement): Etwas in Vergessenheit geraten ist die Mindestreservequote, ein in Entwicklungsländern noch sehr gebräuchliches geldpolitisches Instrument. Damit kann die EZB auf die Geldschöpfungsfunktion der Geschäftsbanken Einfluss nehmen. Je höher die erforderliche Reservequote, die Banken bei der EZB halten müssen, desto weniger zusätzliche Kredite können Banken aus Sichteinlagen erzeugen. Im Euroraum liegt die Mindestreservequote seit 2012 bei 1 Prozent und kann somit noch kaum gesenkt werden.

3. Kommunikationspolitik (Forward Guidance): Die EZB gehörte schon immer zu den eher transparenten Zentralbanken, die ihre Ziele, Instrumente und Handlungen aktiv kommuniziert hat. Als Neugründung war dies notwendig zur Erlangung ihrer Reputation. Hierbei zielt die EZB auf die Erwartungen der Marktteilnehmer ab und will deren zukünftiges Verhalten beeinflussen. Mario Draghi hat 2012 mit seiner berühmten Aussage "whatever it takes" diesem Instrument nochmals eine neue Dimension verliehen.

Solange die EZB ihre Reputation hat, das heißt die Marktteilnehmer glauben, dass die geldpolitischen Instrumente wirken, kann dieses Ankündigungsinstrument auch weiterhin eingesetzt werden. Dies gilt umso mehr, als die EZB auch gleich noch die Geschäftsbanken im Euroraum mitreguliert und dem 2010 gegründeten Europäischen Rat für Systemrisiken (European Systemic Risk Board) vorsitzt.

4. Devisenswaps mit Zentralbanken (Liqui -dity Swap Lines): Die Devisenswaps sind in Krisenzeiten ein Mittel der Zen tral banken, um den Geschäftsbanken Fremdwährungsliquidität zu geben. In der Finanzkrise ab 2010 wollte man damit das Überschwappen von Liquiditätsengpässen vermeiden, die Wechselkurse entlasten und eine über Länder hinweg konzertierte Liquiditätsversorgung signalisieren.

Devisenswaps sind jederzeit einsetzbar, so auch jetzt in der Corona-Krise. Da es typischerweise um die Bereitstellung von US-Dollar geht, hängt es allein von dem Willen der Fed ab, ob sie andere Währungen im Swap akzeptiert. Selbst in der Eurokrise, als der Euroraum infrage gestellt wurde, akzeptierte die Fed den Euro.

Jüngere Maßnahmen

5. Langfrist-Kredite (LTRO, T-LTRO): 2010 wurden die Long Term Refinancing Operations (LTROs) geboren, die dann 2014 zu Targeted LTROs (T-LTROs) weiterentwickelt wurden. Die EZB vergibt lang laufende, derzeit dreijährige Refinanzierungen mit attraktiven Konditionen an Banken, um deren Kreditvergabe zu stimulieren. Geschäftsbanken können diese EZB-Kredite mit Aufschlag an die Realwirtschaft weitergeben. Die LTROs und ihre Konditionen sind an die Kreditvergabevolumina der Banken gebunden (targeted). Je mehr Kredite vergeben werden, umso mehr und günstiger sind die LTROs. Das Instrument dient daher zwei Zielen: der Stimulierung der Kreditvergabe und der Stärkung der Profitabilität im Bankensystem.

Die Langfristkredite der EZB können beliebig in Volumen, Laufzeit und Konditionalität ausgeweitet werden. Die Grenze besteht somit in der Kreditnachfrage der Realwirtschaft.

6. Anleihekäufe (Asset Purchase Programme, APP): Mit dem Ankauf von Anleihen am Sekundärmarkt versucht die EZB die Marktrenditen auch länger laufender Anleihen zu reduzieren. Die EZB verfolgt damit eine Vielzahl von Zielen: Reduzierung der Attraktivität dieser Anleihen für Investoren und damit gleichzeitig Schaffung von Anreizen zur Finanzierung riskanter Assets, Stimulierung der Kreditvergabe, günstigere Refinanzierung von Unternehmen am Kapitalmarkt, Erhöhung von Konsumanreizen. Im Kern geht es um Portfolioumschichtungseffekte. Und in der Tat ist dieser "search for yield" mit niedrigeren, länger laufenden Zinsen und engeren Spreads auch zu beobachten.

Die EZB kauft hauptsächlich Staatsanleihen, Pfandbriefe, Unternehmensanleihen und ausgewählte Kreditverbriefungen. Zum Kaufprogramm gehören aber nicht nur der Kauf der Anleihen selbst, sondern auch die Wiederanlage bei Auslaufen der Anleihen und die Neuanlage der Erträge aus den Anleihen. Es kann insbesondere die Laufzeitenstruktur verändert werden, indem beispielsweise auslaufende Anleihen und Erträge zu längeren Laufzeiten angelegt werden als im EZB-Portfolio vorhanden (operation twist).

Als Erweiterung des Instruments in der Corona-Krise hat die EZB im März 2020 zusätzlich zu den laufenden Anleihekäufen das Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) aufgelegt und im Juni nochmals aufgestockt. Die EZB kauft mit dem PEPP Anleihen im Volumen von 1 350 Milliarden Euro. Die Laufzeit des Programmes ist unbefristet, läuft aber bis mindestens Juni 2021.

Derzeit besitzt die EZB 2,3 Billionen Euro europäische Staatsanleihen. Das gesamte ausstehende Volumen an Anleihen europäischer Zentralregierungen beträgt laut Bank für Internationalen Zahlungsausgleich rund 9 Billionen Euro. Hinzu kommt, dass die EU plant, für den Corona-Wiederaufbaufonds eigene Anleihen in erheblichem Umfang zu begeben. Dies zeigt, dass der EZB noch Anleihen zum Kauf zur Verfügung stehen. Die EZB kauft Anleihen nach ihrem Eigenkapitalschlüssel und dieser stößt inzwischen an Grenzen. Mit stark verschuldeten Staaten könnte gerade in einer Krise der Kaufschlüssel geändert werden. Demgegenüber stehen aber große juristische Hürden.

In anderen Ländern haben Zentralbanken Anleihekäufe in erheblichem Umfang getätigt und diese in der Corona-Krise wieder aufgenommen, allen voran in den USA, Japan und UK. Es ist zu konstatieren, dass trotz aller Kontroversen Anleihekäufe zu einem geldpolitischen Standardinstrument der Zentralbanken geworden sind.

7. Notfall-Kredite (ELA): Während der Finanzkrise 2007 wurde die Emergency Liquidity Assistance (ELA) eingeführt und auch in der Eurokrise aktiv genutzt. Geschäftsbanken können demnach bei ihren nationalen Notenbanken zusätzliche Refinanzierungen gegen minderwertige Sicherheiten bekommen. Der Zinssatz liegt über dem Spitzen-Refinanzierungssatz. Diese Kredite werden durch die nationalen Staaten gedeckt und nicht durch die EZB. Prinzipiell kann die ELA - sprich nationale Geldschöpfung - jederzeit aktiviert und ausgeweitet werden. Es ist eine politische Verhandlung.

8. Outright Monetary Transactions (OMT): Die Outright Monetary Transactions wurden 2012 in der Euro krise eingeführt. Danach können Staaten, die sich unter ein Anpassungsprogramm begeben, Hilfen durch Staatsanleihekäufe erhalten. Menge, Konditionen et cetera legt die EZB fest, aber es besteht eine Konditionalität in der Umsetzung des Anpassungsprogramms. Das Anpassungsprogramm wird vom European Stability Mechanism (ESM) zusammen mit dem IWF finanziert und kontrolliert. Geldpolitisch wichtig ist, dass die bereitgestellte Liquidität durch andere Maßnahmen der Zentralbank neutralisiert wird, damit die gesamte Geldmenge nicht erhöht wird. Bisher wurden OMT noch nicht aktiviert, obwohl es für folgende Länder Anpassungsprogramme gab: Griechenland (seit 2010 laufend), Irland (2010 bis 2013), Portugal (2011 bis 2014), Spanien (2012 bis 2014), Zypern (2013 bis 2016). Doch schon die Ankündigung der OMT wirkte damals beruhigend auf die Anleihemärkte.

Wichtig ist folgende Abgrenzung: OMT sind nicht APP, denn das Staatsanleihekaufprogramm soll die allgemeine Geldpolitik aller Euroländer unterstützen, während OMT einzelne Länder unterstützt. OMT ist nicht ELA, weil die Notfall-Kredite eine Verhandlung zwischen EZB und einzelnen nationalen Notenbanken sind und vor allem der Stützung des dortigen Bankensystems dienen. OMT unterstützt sozusagen die fiskalischen und makroökonomischen Anpassungsprogramme von monetärer Seite.

Auch die Anpassungsprogramme können jederzeit aktiviert werden, hängen aber am politischen Auslösemechanismus. Wie die Erfahrungen mit den damaligen Krisenländern und jahrzehntelange Erfahrungen des IWF zeigen, sind solche Anpassungsprogramme meist schwierig zu gestalten und zu beenden. Sie hängen von der Art des Schocks ab und stehen natürlich auch in der Corona-Krise zur Verfügung.

Noch nicht genutzte geldpolitische Instrumente

Welche zusätzlichen Instrumente könnte die EZB noch nutzen? Allen betrachteten geldpolitischen Instrumenten ist gemein, dass sie noch nicht oder kaum erprobt sind und daher größtenteils experimentellen Charakter haben. In vielen Fällen ist zumindest für die Europäische Zentralbank davon auszugehen, dass es erhebliche juristische Hürden für eine Implementierung gibt. In einer massiven Krise könnten diese Bedenken in den Hintergrund rücken.

9. Aktienkäufe: Neben verzinslichen Wertpapieren könnte die EZB auch weitere Wertpapiere kaufen. Durch den Ankauf von Aktien sollen die Kurse gestützt werden. Mittels des dadurch entstehenden Vermögenseffektes soll der private Konsum stimuliert werden. Zudem können sich börsennotierte Unternehmen dann günstiger über Eigenkapital finanzieren.

Während es sich bei Anleihen um Fremdkapital handelt, stellt ein Ankauf von Aktien eine Eigenkapitalinvestition dar. Damit würde die Zentralbank unmittelbar Eigentümer an den jeweiligen Unternehmen und könnte somit deren Entscheidungen und strategische Ausrichtung mitbestimmen. Als Folge würde die EZB nicht nur die geldpolitischen Anreize für unternehmerisches Handeln im Euroraum setzen, sondern würde gleichzeitig selbst aktiver Teil der Realwirtschaft. Um dies zu verhindern, wäre der Ankauf von Aktien über Exchange Traded Funds (ETFs) geeignet. Die EZB hat bereits Überlegungen dazu angestellt und sie könnte sich an Erfahrungen der Bank of Japan orientieren, die schon seit Längerem umfangreich Aktien-ETFs kauft.

10. Zinskurvensteuerung (yield curve control): Als eine Weiterentwicklung der Anleihekaufprogramme kann die Zinskurvensteuerung verstanden werden. Dafür verkündet die Zentralbank eine Zielgröße für die Rendite langfristiger Staatsanleihen. Steigt beispielsweise die Rendite am Kapitalmarkt über diesen Zielwert an, kauft die Zentralbank so lange die entsprechenden Anleihen, bis das gewünschte Renditeniveau wieder erreicht ist. Das Ziel der Anleihekäufe ist also nicht mehr auf die Menge ausgerichtet, sondern auf den Preis der Anleihen. Auf diese Art und Weise steuert eine Zentralbank die Steilheit der Zinskurve, also das Verhältnis von kurz- zu langfristigen Zinsen, und das Zinsniveau. Damit bestimmt sie gleichzeitig die Profitabilität des Bankensektors mit.

Die Bank of Japan nutzt dieses Instrument seit 2016, um die Rendite 10-jähriger Staatsanleihen bei etwa 0 Prozent zu halten. Der Leitzins liegt bei minus 0,1 Prozent. Sie konnte damit das Volumen ihrer monatlichen Anleihekäufe deutlich reduzieren. Die Fed setzte im Zweiten Weltkrieg die Zinskurvensteuerung für 3-monatige und 10-jährige Treasuries ein, um die Finanzierung der Kriegsausgaben zu unterstützen. Jüngst kam noch die Reserve Bank of Australia hinzu, die im Zuge der Corona-Pandemie im März eine Zielrendite für 3-jährige Staatsanleihen ankündigte.

Der Eingriff in das Marktgeschehen ist bei der Zinskurvensteuerung deutlich größer als beim Quantitative Easing. Allerdings herrscht größere Transparenz über die geldpolitischen Absichten und diese können mit geringerem Mitteleinsatz und ohne zeitliche Verzögerung erreicht werden. Die EZB kann dieses Instrument ohne Weiteres einsetzen.

11. Änderung der Inflationsziele: Das Ziel der Preisniveaustabilität und dessen Messung wird seit jeher diskutiert und ist auch Teil der derzeit laufenden Strategieüberprüfung der EZB. Anstelle der bisherigen Zielinflation von knapp unter 2 Prozent, könnte die EZB eine flexiblere Zielinflation anstreben. Diese könnte entweder durch eine breitere Spanne erfolgen oder durch eine durchschnittliche Preissteigerung über einen mehrjährigen Zeitraum (zum Beispiel durchschnittlich 2 Prozent per annum in 5 Jahren). Eine solche Auflockerung der Zielinflation gibt der EZB also einen größeren Handlungsspielraum. Damit könnte sie beispielweise bei einem konjunkturellen Aufschwung länger mit Zinsanstiegen warten. Ebenso wichtig ist die Art der Messung der Preissteigerungen. Hier könnte es Änderungen geben wie zum Beispiel die Berücksichtigung der Kosten selbstgenutzter Immobilien.

Zieländerungen haben auch Nachteile: sie sind unbekannt und ungeübt, man muss sich erst daran gewöhnen. Die Erfolgskontrolle der EZB wird erschwert. Nicht rechtzeitiges Handeln kann zu späteren, größeren Verwerfungen führen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die EZB nach 20 Jahren des Bestehens des Euro ihr Inflationsziel teilweise ändert.

12. Direkte Kreditvergabe: In einer Situation, in der die Geschäftsbanken nicht mehr funktionieren oder an die Grenzen der Kreditvergabe stoßen, könnte die EZB die direkte Kreditvergabe an den Privatsektor übernehmen. Haushalte oder Unternehmen hätten Konten bei der Zentralbank. Die EZB vergäbe Kredite nach eigenen Kriterien und würde sämtliche Kreditrisiken übernehmen. Dies ist möglich, da eine Zentralbank in Krisenzeiten auch mit negativem Eigenkapital arbeiten kann. Sie kann frisches Geld drucken und ihr Eigenkapital durch Seigniorage wieder auffüllen.

Die direkte Kreditvergabe durch die EZB funktioniert, solange die EZB glaubwürdig bleibt und die von ihr emittierte Währung weiterhin als Zahlungsmittel akzeptiert wird. Für eine international arbeitende Wirtschaft ist zudem ein Zugang zu Fremdwährungskrediten über eine fremde Zentralbank nötig. Es wäre also eine weiter ausgeprägte Art internationaler Koordination nötig. Damit wird klar, dass dieses Instrument wohl nur unter extremen Bedingungen eingesetzt werden würde.

13. Helikoptergeld: Der Begriff Helikoptergeld wurde erstmals 1969 von Milton Friedman verwendet. Er beschrieb eine Situation, in der eine Zentralbank unvorhergesehen und bedingungslos Geld an alle Bürger verteilte - also quasi mit einem Helikopter abwerfen würde. Seit Ben Bernanke die Idee als Lösung für die japanische Deflation wieder aufgriff, ist sie wieder in der Diskussion.

Ein solches Geldgeschenk soll den Konsum beleben. Das Geld kommt ohne Umwege bei den Konsumenten an, es gibt kaum bürokratische Hürden. Die größte Gefahr besteht darin, dass sich die - in gewissem Maße gewünschte - inflationäre Wirkung nicht genau steuern lässt und die Inflation zu stark ansteigt. Reines Helikoptergeld nach Friedmans Idee gab es bisher nicht. Aber Maßnahmen, die dem Helikoptergeld ähneln, wurden bereits von einigen Staaten erprobt. So verteilte jüngst Hongkong an jeden Bürger 1 000 HK-Dollar, um die Folgen der Corona-Pandemie abzufedern. Diese Auszahlung wurde durch den Staat finanziert und gilt damit als fiskalische Maßnahme. Gleiches gilt für die Zahlungen der US-Regierung als Pandemie-Hilfsmaßnahme. Gerade in den USA wird die Nähe zum Helikoptergeld deutlich, weil die Federal Reserve durch ihre Staatsanleihekäufe diese Ausgaben implizit finanziert und deutlich vergünstigt. Vereinfacht gesprochen könnte auch die Fed das Geld verteilen. Die Diskussionen über einen Einsatz von Helikoptergeld in der Eurozone nahmen seit der Eurokrise Fahrt auf. Es ist anzunehmen, dass die EZB den Einsatz bei einer Verschärfung der Corona-Krise vermutlich ernsthaft prüfen würde.

14. Endogene Staatsfinanzierung (Modern Monetary Theory): Nach der Modern Monetary Theory (MMT) kann sich der Staat mittels eigener Währung in unbegrenztem Maße verschulden. Die Zentralbank stellt das Geld dafür jederzeit zur Verfügung. Eine Möglichkeit wäre die temporäre oder dauerhafte Emission von unverzinsten, endlos laufenden Anleihen (perpetual bonds), welche direkt von der Zentralbank gekauft und gehalten werden. Eine externe Finanzierung über den Kapitalmarkt würde damit überflüssig. Der Staat hätte unbegrenzte Konsum- und Investitionskapazitäten.

Die maßgeblichen Restriktionen der MMT sind die Inflation und die Glaubwürdigkeit. Inflation würde entstehen, wenn die gesteigerte Staatsnachfrage die Kapazitäten der Realwirtschaft strapaziert und Preise zum Ansteigen bringt. Im aktuellen Niedriginflationsumfeld wäre also noch viel Luft. Gleichzeitig könnte der Staat MMT nutzen, um Inflation und Beschäftigung direkt zu steuern.

Allerdings könnte diese unbegrenzte staatliche Geldschöpfung das Vertrauen in das bisherige Geld- und Kreditsystem untergraben. MMT kommt einer Verschmelzung von Geld- und Fiskalpolitik gleich und wäre das Ende unabhängiger Notenbanken. Der Staat könnte das Wirtschaftsgeschehen vollständig dominieren. Die Kontrolle der Staatsverschuldung durch die Kapitalmärkte entfiele vollkommen. Vermutlich würden auch Beschränkungen für den Erwerb von ausländischen Währungen und Gold benötigt, um die inländische Währung vor stärkeren Abwertungen oder gar Geldflucht zu schützen.

Nun gibt es in den USA Stimmen, MMT dafür zu nutzen, um Einkommens- und Vermögensunterschiede zu reduzieren oder Umweltprogramme zu unterstützen. Auch in Europa wird eine "dosierte" staatliche Geldschöpfung diskutiert, um einer Deflation zuvorzukommen. Von der massiven Ausweitung von geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen in der Corona-Krise ist der Schritt zur MMT nicht so weit.

15. Digitaler Euro: Private digitale Währungen wie Bitcoin präsentieren sich als alternative Geldformen und fordern damit die Notenbanken in ihrem Geldmonopol heraus. Ein "E-Euro" fußt auf einer Distributed Ledger Technology, welche rein digital wäre und bei der die Settlement-Funktion systemimmanent ist. Hierzu brauchte es also keine Banken, die über Kontenausgleich und Zahlungsverkehr wachen. Zusätzlich könnte eine rein digitale Währung mit einer bedeutsamen technologischen Neuerung, den sogenannten Smart Contracts, verbunden werden. Diese sind nichts anderes als Codes, die vertragliche Bedingungen abbilden und auf der jeweiligen Blockchain aufsetzen. Klassische "Wenn-Dann-Funktionen" können hierdurch Zahlungsprozesse automatisieren.

Notenbanken forschen und experimentieren weltweit mit vollständig digitalen Geldeinheiten ihrer Währung, weil sie inzwischen Interesse an den nahezu grenzenlosen Gestaltungsmöglichkeiten eines programmierbaren Geldes haben. So forscht China seit über sechs Jahren an der Digitalisierung seiner Währung und testet seit diesem Jahr eine erste Version.

Die EZB forscht schon seit Jahren an Lösungen für eine auf Blockchain basierende Euro-Version. Denn ein rein digitaler Euro könnte den Währungshütern auch bei der Erreichung ihrer Ziele helfen. So ist beispielsweise bei Deflationsgefahr eine automatisierte Abwertung je nach Haltedauer eine mögliche Funktion, welche die EZB nutzen könnte, um die Umlaufgeschwindigkeit und damit die wirtschaftliche Aktivität zu erhöhen.

Je nach Bedürfnis könnte die EZB den Wert aller sich in Umlauf befindlichen E-Euro-Einheiten ändern und damit das Konsum- und Sparverhalten und letztlich das Preisniveau steuern. Bei der gleichzeitigen Abschaffung von Bargeld würde eine Untergrenze für Negativzinsen damit obsolet. Unmittelbar steht keine Einführung eines "E-Euro" bevor, doch der Trend ist gesetzt.

Drohende Nebenwirkungen

Die EZB kann auf eine ganze Reihe geldpolitischer Instrumente zurückgreifen, die noch Handlungsspielraum bieten. Sie kann die Leitzinsen weiter in den Negativbereich senken. Sie kann ihre Kaufprogramme ausweiten, sowohl im Volumen als auch in der Auswahl der Vermögenswerte und Konditionen. Und sollte das nicht ausreichen, gibt es weitere unkonventionelle Instrumente, die zum Teil schon außerhalb Europas erprobt werden. Die Grenzen zwischen Geld- und Fiskalpolitik im Euroraum und die Rolle der EU-Institutionen müssen dann neu bestimmt werden.

Dr. Uwe Siegmund Chief Investment Strategist, R+V Versicherung AG, Wiesbaden
Veronika Lustig Investment Strategist, R+V Versicherung AG, Wiesbaden
Philipp Höfner Investment Analyst, R+V Versicherung AG, Wiesbaden
 
Dr. Uwe Siegmund , Chief Investment Strategist, R+V Versicherung AG, Wiesbaden
Veronika Lustig , Investment Strategist, R+V Versicherung AG, Wiesbaden
Philipp Höfner , Investment Analyst, R+V Versicherung AG, Wiesbaden

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