Wie eine Krise die Digitalisierung nach vorn bringt

Dr. Michael Diederich, Foto: Hypovereinsbank

Die Corona-Krise stellt die Wirtschaft nicht nur vor große Herausforderungen, sie bringt die Unternehmen auch dazu, ihre Arbeitsweisen anzupassen, Prozesse zu verkürzen, digitaler und agiler zu werden. Das sei eine große Chance für alle, meint der Autor. Vor allem auch für die Banken: Denn was Heerscharen von Beratern bislang nicht geschafft haben, ist nun die neue Normalität: Meetings und Kundengespräche werden online per Video abgehalten, Kunden bezahlen selbst bei Kleinbeträgen mit Karte, die Onlinefiliale erfreut sich größter Beliebtheit und das Arbeiten im Homeoffice ist fest etabliert, mit allen Lernerfolgen für das eigene Zeitmanagement wie die Führungsaufgaben hochrangiger Mitarbeiter. Die Akzeptanz der Kunden ist sehr hoch, weil ihnen weiterhin die gesamte Palette der Bankdienstleistungen zur Verfügung steht und ihnen die gewohnte Qualität in der Beratung geboten wird, stellt der Autor fest. Es wird spannend sein zu beobachten, wie viel von diesem "new normal" nach Corona bleiben wird. (Red.)

Im Bioladen um die Ecke trennt in diesen Tagen eine Plexiglasscheibe die Kunden vom Kassierer. Daran klebt ein Zettel: "Wir bitten Sie, auch bei Kleinstbeträgen mit Karte zu bezahlen." Früher hätte man als Kunde gar nicht gewagt, hier nach Kartenzahlung zu fragen, doch jetzt ist alles anders. Der ältere Herr ganz vorn in der Schlange zückt seine Bankkarte, hält sie an das Terminal, es piept, er nickt, der Kassierer nickt - der Nächste bitte.

Je selbstverständlicher die Digitalisierung gerade wird, umso digitaler werden die Kunden - auch die Bankkunden. Sie nutzen zunehmend Online- und Mobile Banking, virtuelle Beratung und zahlen kontaktlos per Karte oder Smartphone. Dass sich Digitalisierung in der Finanzbranche durchsetzen würde, war klar - doch im Bargeldland Deutschland ließ der Durchbruch ein wenig auf sich warten. Hier nutzt nur etwas mehr als jeder Zweite Onlinebanking, 2019 waren es 61 Prozent, die meisten im Alter zwischen 30 und 49 Jahren. In der Altersgruppe über 65 Jahre waren es nur noch 21 Prozent. Damit lag Deutschland im Ländervergleich im Mittelfeld, weit hinter Norwegen, Dänemark, den Niederlanden und Finnland.

Dann kam Corona. Das Virus hat in kürzester Zeit, neben vielen anderen und oft schrecklichen Dingen, etwas geschaffen, das bisher nicht da war: eine zwingende Notwendigkeit für die Digitalisierung.

Schub für das Online- und Mobile Banking

Der Deutsche Commercial Internet Exchange (DE-CIX) betreibt Internetknoten rund um die Welt. Dort lässt sich derzeit sehr gut beobachten, wie sich das öffentliche Leben von der greifbaren in die virtuelle Welt verlagert. Beispielsweise am Knoten in Frankfurt am Main, einem der größten der Welt, gemessen am Datendurchsatz. Stand Ende März: ein um zehn Prozent höheres durchschnittliches Datenvolumen, eine Verdoppelung der Nutzerzahl von Online- und Cloud-Gaming-Plattformen sowie ein hundertprozentiger Anstieg bei Videokonferenzen über Skype, WebEx und ähnlichen Programmen. Vergleichbare Ergebnisse liefern auch die anderen DE-CIX-Standorte, gleich ob in München, Madrid oder Dallas.

Wer bisher noch in die Filiale gegangen ist, um seine Bankgeschäfte zu erledigen, wechselt jetzt lieber ins Online- und Mobile Banking. Die Hypovereinsbank hat eine Kampagne gestartet, die sich an alle Offline-Kunden richtet. Das Ziel: Neben dem Einholen noch fehlender Einwilligungserklärungen zur Kontaktaufnahme per Telefon und E-Mail insbesondere die Registrierung für das Online- und Mobile Banking zu erhöhen. Im Privatkundengeschäft steigen die Onlinebanking-Freischaltungen und die Downloads der App. Ursprünglich sollte bis 2023 die Hälfte der Hypovereinsbank-Kunden Mobile User sein - die Corona-Krise könnte dazu führen, dass dieses Ziel deutlich früher erreicht wird.

Auch beim bargeldlosen Zahlen lag Deutschland bisher eher im europäischen Mittelfeld, weit hinter den skandinavischen Ländern. Dieser Abstand dürfte sich durch die Corona-Krise ebenfalls verringern. Denn auch wenn Bundesbank und Virologen den Geldschein als möglichen Übertragungsweg ausschließen, die Krise sensibilisiert. Nach Angaben der Deutschen Kreditwirtschaft wurden im März bereits mehr als die Hälfte aller Girocard-Zahlungen kontaktlos durchgeführt. Im Dezember lag dieser Anteil noch bei 35 Prozent. Manche Kunden lassen das Portemonnaie auch einfach zu Hause und zahlen per Smartphone, zum Beispiel mit Apple Pay. Warum sollten sie das nach der Corona-Krise ändern?

Auch Beratung funktioniert digital

Selbst komplexe Finanzberatungen, die Kunden früher in der Filiale gemacht haben, werden jetzt per Videochat durchgeführt. Auch ältere Menschen chatten mit ihrer Bank, als hätten sie das schon immer getan. Manche haben das auch. Die Hypovereinsbank war eine der ersten Banken in Deutschland, die im Privatkundengeschäft eine reine Onlinefiliale ins Leben gerufen und Beratungsgespräche per Video angeboten hat. Auch mit dem Banking-Team Business Easy, das kleinere Unternehmen und Gewerbetreibende schon von Beginn an remote berät, gehörte das Münchner Institut vor über sieben Jahren zu den digitalen Pionieren.

Aktuell fahren aber auch die Kundenbetreuer von größeren Unternehmen, bedingt durch den Reisestopp, nicht mehr persönlich zu Kundenterminen, sondern halten Meetings und Beratungsgespräche ausschließlich über Remote-Kanäle ab. Hier entsteht eine neue Normalität, die viele Kunden für sich adaptieren, denn Digitalisierung und Automatisierung verkürzen Prozesse, sparen Geld und standen ohnehin schon vor Corona bei vielen Unternehmen auf der Agenda. Doch vorher wurde Digitalisierung von vielen als Kür verstanden, jetzt ist klar: Sie ist Pflicht.

Homeoffice ist das "new normal"

In vielen Unternehmen ist Remote-Arbeiten im Homeoffice jetzt das "new normal". Über Kinderstimmen, die während Konferenzen im Hintergrund Fragen stellen, hören Kollegen längst hinweg. Und wenn der Lärmpegel zu sehr ansteigt, schaltet sich derjenige mit den Kindern einfach kurz stumm.

Dabei war Homeoffice für viele Arbeitnehmer vor Ausbruch der Corona-Krise eher die Ausnahme. Nach einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) arbeiteten in Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten nur rund 25 Prozent gelegentlich remote - Führungskräfte häufiger als "normale" Angestellte und die meisten eher stunden- als tageweise.

Das hat sich geändert: Nach einer Umfrage im Auftrag des Digitalverbandes Bitcom arbeitete Mitte März fast jeder zweite der befragten Berufstätigen ganz oder zumindest teilweise im Homeoffice. Jeder fünfte sogar zum ersten Mal überhaupt. Die früher beliebte Behauptung, im Homeoffice wäre man nicht produktiv, wirkt plötzlich wie aus einer anderen Zeit. Bei der Hypovereinsbank stieg die Quote der remote arbeitenden Beschäftigten Anfang April auf rund 80 Prozent, darunter viele Mitarbeiter, bei denen das technisch zuvor nicht möglich war - etwa bei Kollegen in den Callcentern oder im Handel des Investmentbankings. Die Akzeptanz der Kunden ist sehr hoch, weil ihnen weiterhin die gesamte Palette der Bankdienstleistungen zur Verfügung steht und ihnen die gewohnte Qualität in der Beratung geboten wird.

In Rekordzeit wurden neue Notebooks und Smartphones organisiert, um die Voraussetzung für das Arbeiten zu Hause zu schaffen. Parallel dazu erfolgte der flächendeckende Rollout von Kommunikationssoftware für Calls und Videokonferenzen mit Kunden und den Mitarbeitern untereinander. In der Hypovereinsbank soll die Homeoffice-Quote weiter steigen, für 98 Prozent der Belegschaft haben wir bereits die technischen Voraussetzungen geschaffen.

Im Schnellverfahren lernen Mitarbeiter, wie sie auch von zu Hause arbeiten und Führungskräfte, wie sie virtuelle Teams am besten führen. Wir alle üben uns in virtueller Kommunikation, neuen Strukturen, verändertem Zeitmanagement und digitalem sozialem Austausch. Nichts spricht so sehr für Neuerungen wie ihr Erfolg. Und der lässt sich direkt aus der Krise ableiten: Was früher sechs Wochen oder gar Monate dauerte, passiert jetzt in sechs Tagen. Das oft als Buzzword verwendete "agile" ist nicht länger nur eine Projektmanagementmethode, sondern tatsächlich auch eine agile Einstellung gegenüber der eigenen Arbeit.

Ein Virus hat geschafft, was Heerscharen von Change-Management-Beratern nicht erreicht haben. Und wenn man die Entwicklung etwas ganzheitlicher betrachtet, fällt auch dem größten Digitalisierungsgegner auf, dass die Menschheit immer überlebt hat, weil sie sich neuen Umständen angepasst und Mittel gegen ihre aktuellen Gegner gefunden hat - ganz gleich, ob das Raubtiere oder Viren waren. Es geht hier also um Evolution. So gesehen ist die Entwicklung hin zu moderneren Arbeitsweisen wirklich völlig normal. Und das ist ja auch beruhigend.

Dr. Michael Diederich Sprecher des Vorstands, HypoVereinsbank AG, München
Michael Diederich , Sprecher des Vorstands, HypoVereinsbank AG, München
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