Künstliche Intelligenz ermöglicht komplexe ESG-Analysen

Carmine De Franco, Foto: Ossiam

Welche Auswirkungen haben Nachhaltigkeitsprofile einzelner Unternehmen auf ihre künftige Wertentwicklung? Aktien von Unternehmen mit ESG-Ansätzen erfreuen sich seit einiger Zeit großer Beliebtheit. Abgesehen vom Umweltaspekt finden auch die Unternehmensführung und soziale Aspekte zunehmend Beachtung. Bei der Auswahl von Aktien unter diesen Gesichtspunkten sei es aber auch lohnenswert, eine Gewichtung vorzunehmen: Für welche Unternehmen müssen welche Aspekte besonders beachtet werden und können andere bis zu einem gewissen Grad vernachlässigt werden? De Franco schlägt einen KI-gestützten Aufbau des Aktienportfolios vor. Mithilfe maschinellen Lernens ließen sich Muster in ESG-Daten identifizieren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Outperformance führten. Komplementiert wird der Ansatz durch Smart-Beta-Strategien, die Volatilität und mangelnde Diversifikation begrenzen können. Insgesamt sei so ein Portfolio erstellbar, welches sowohl hohe Renditen erzielt als auch ein reduziertes Risiko birgt. (Red.)

Binnen weniger Jahre haben sich nachhaltige Investments vom Nischenthema zu einem der wichtigsten Trends der Finanzbranche entwickelt. Immer mehr institutionelle und private Investoren berücksichtigen bei ihren Anlageentscheidungen Umweltaspekte, soziale Belange und Prinzipien einer guten Unternehmensführung. Tatsächlich sind entsprechende ESG-Ansätze (ESG - Environmental, Social, Governance) dabei, die gesamte Investmentlandschaft nachhaltig zu verändern.

Immer häufiger wollen Investoren dabei nicht nur den selbst gesetzten sowie den zunehmend umfangreichen regulatorischen ESG-Anforderungen an ihre Investments genügen, wie sie etwa der Aktionsplan der Europäischen Union für ein nachhaltiges Finanzsystem vorsieht. Vielmehr geht es ihnen darum, über die Integration von ESG-Kriterien ihre Erträge zu erhöhen und ihr Rendite-Risiko-Profil zu verbessern.

Klassische ESG-Ansätze sind allerdings vielfach nur begrenzt geeignet, diese Zielsetzung der Investoren umfassend zu erfüllen. So erscheint beispielsweise für viele Investoren eine Berücksichtigung von Ausschlusskriterien bei der Portfoliozusammenstellung attraktiv. Sie schließen Anbieter bestimmter Produkte und Dienstleistungen und zweifelhafte Geschäftstätigkeiten von vornherein aus dem Investmentuniversum aus. Auch ein Best-in-Class-Ansatz, der mithilfe eines einfachen Screenings verschiedener ESG-Indikatoren die am besten bewerteten Unternehmen auswählt, erscheint in den Augen vieler Investoren interessant.

Jedoch führen diese Ansätze in der Regel zu ESG-Portfolios, die nicht stark von ihrer Benchmark abweichen. Weil darüber hinaus Unternehmen mit ganz unterschiedlichen ESG-Stärken in einem Portfolio zusammengefasst werden, gehen genau diejenigen Schlüsselfaktoren verloren, die zu einer überlegenen Performance führen könnten. Im Ergebnis können derart konstruierte Portfolios meist allenfalls mit dem breiten Markt Schritt halten.

Machine-Learning-Algorithmus Quelle: Ossiam

Drei Kategorien reichen nicht

Wenn Investoren also zunehmend nach ESG-Strategien suchen, die auch unter Performance-Aspekten überzeugen, bedarf es einer Weiterentwicklung des Ansatzes. Grundsätzlich bieten ESG-Daten jede Menge nützliche Informationen, um die Stärken und Schwächen von Unternehmen zu identifizieren, die wiederum die künftige Performance einzelner Aktien beeinflussen. Angesichts der riesigen Datenbasis ist es allerdings keine einfache Aufgabe, aussagekräftige Schlüsse zu ziehen: Für jedes Unternehmen gibt es rund 150 ESG-Indikatoren, die Antworten auf unterschiedlichste ESG-Fragen liefern. Dazu zählen beispielsweise Fragen nach der Unabhängigkeit des Aufsichtsrats, der Diversität der Belegschaft, den Auswirkungen auf die Umwelt sowie der Nachhaltigkeit von Büros und Fabriken.

Statt diese Indikatoren nur zu ESG-Ratings zu aggregieren, bietet sich an, sie als eigenständige Informationsquelle zu nutzen und im jeweiligen Unternehmenskontext zu betrachten. So werden für einen Stahlproduzenten Umweltkriterien eine ganz andere Rolle spielen als für ein Medienunternehmen. Und einen europäischen Energieversorger treffen sie möglicherweise anders als seinen US-Konkurrenten. Grundsätzlich haben schon E-, S- und G-Ratings getrennt betrachtet je nach Sektor, Region und Unternehmensgröße ganz unterschiedlichen Einfluss auf die Unternehmensentwicklung. Erst eine noch tiefer gehende Differenzierung ermöglicht aber, tatsächlich belastbare Muster zwischen ESG-Profil und Geschäfts- beziehungsweise Kursentwicklung einzelner Unternehmen aufzudecken, insbesondere im Vergleich zur jeweiligen Peergroup.

Bei einem betrachteten Universum von mehreren Tausend Unternehmen weltweit mit jeweils mehreren Hundert Indikatoren wird die Analyse schnell sehr kompliziert und überfordert das menschliche Gehirn und die Standardwerkzeuge der Ökonometrie gleichermaßen. Eine Lösung, derartige Muster dennoch zu identifizieren und bei der Portfolio-Konstruktion einzusetzen, bietet die Anwendung Künstlicher Intelligenz (KI). Dank der Fortschritte in diesem Bereich und einer stark verbesserten Datenqualität und -tiefe lassen sich heute große Informationsmengen schnell und effizient verarbeiten.

Anders als bei statischen Modellen üblich, passen sich KI-gestützte Analysen laufend selbstständig an sich verändernde Rahmenbedingungen an. So berücksichtigen selbstlernende Algorithmen, die auf den Erkenntnissen des Machine Learning basieren, beispielsweise Erweiterungen von ESG-Kriterien und Veränderungen der ESG-Systematik und ihren Einfluss auf die Ertragsaussichten. Viele ESG-Variablen beziehen sich heute auf Umweltaspekte. Möglicherweise werden entsprechende Kriterien in einigen Jahren von einer so großen Zahl von Unternehmen erfüllt, dass sich soziale Variablen wesentlich stärker auf die Performance auswirken.

Der Datenmenge entgegen

Ein derartiges Machine-Learning-basiertes Tool ermöglicht es, anhand der dynamischen Analyse der Rohdaten, die die bekannten Anbieter zu ihren ESG-Ratings aggregieren, eindeutige Zusammenhänge zwischen ESG-Profilen und dem Potenzial für eine finanzielle Outperformance zu identifizieren. Der Algorithmus sucht dabei nach Mustern, die es wahrscheinlich erscheinen lassen, dass bestimmte Unternehmen sich gegenüber ihren Benchmarks über- oder unterdurchschnittlich entwickeln. Diese Muster, in Fachkreisen "Experten-Panel" genannt, können auf einzelnen oder mehreren ESG-Variablen basieren und im Lauf der Zeit variieren.

Beispielhaft könnte ein Experte signalisieren, dass ein Unternehmen eine schlechte Bewertung hinsichtlich Governance hat, was in einem bestimmten Sektor ein guter Indikator für zukünftige schlechte Performance sein kann. In einem anderen Sektor dagegen könnten Umweltaspekte ein besserer Indikator für die zukünftige Performance sein, was wiederum ein anderer Experte aufgreifen wird.

Damit führt der Machine-Learning-Prozess zu einer Liste aussichtsreicher Aktien, die unter ESG-Aspekten gut dastehen und gleichzeitig mit hoher Wahrscheinlichkeit besser abschneiden als der Gesamtmarkt. Ein ausschließlich auf Basis dieses Prozesses konstruiertes Portfolio kann gleichwohl unerwünschte Risiken aufweisen. Hier sind insbesondere eine erhöhte Volatilität und mangelnde Diversifikation zu nennen.

Maßregelung der KI

Sinnvoll ist es daher, einen weiteren Ansatz in die Portfolio-Konstruktion zu integrieren, der diese Risiken adressiert. Als passend erweisen sich hier systematische Smart-Beta-Strategien wie ein Minimum-Varianz-Ansatz. Derartige Ansätze lassen sich auf nahezu jedes zuvor bestimmte Universum und damit auch auf eine KI-geprägte Aktienauswahl anwenden. Ziel der Minimum-Varianz-Strategie ist, Schwankungsintensität und Verluste dieser Auswahl in schwachen Marktphasen maßgeblich zu verringern, ohne das Renditepotenzial spürbar zu beschneiden. Die Risikoreduktion erfolgt dabei über die Auswahl und Gewichtung von Aktien, die eine geringe Volatilität und geringe Korrelation zu anderen Aktien der jeweiligen Auswahl aufweisen und entsprechendes Diversifikationspotenzial bieten.

Ein erfolgversprechendes Modell könnte mithin darin liegen, Machine Learning und Smart Beta zu verbinden: Während der ESG-Algorithmus auf überdurchschnittliche Erträge ausgerichtet ist, sorgt die Minimum-Varianz-Strategie für eine Begrenzung des Risikos. Ergebnis sollte ein deutlich robusteres Portfolio sein, das den jeweils neuesten Nachhaltigkeitsansprüchen genügt, den jeweiligen Vergleichsindex langfristig schlägt und kurzfristig weniger Abwärtsrisiken aufweist.

Carmine De Franco Head of Fundamental Research, Ossiam, Paris
 
Carmine De Franco , Head of Fundamental Research, Ossiam, Paris

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