Eine neue Epoche der Notenbankpolitik

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otmar Issing, Foto: Center für Financial Studies (CFS)

Die wichtigste Aufgabe und somit das größte Ziel einer Notenbank ist die Erhaltung des Geldwertes und der Preisstabilität. Dadurch wird alles getan, um eine mögliche Inflation oder Deflation der Wirtschaft sowie der jeweiligen Währung zu verhindern, so zumindest die Theorie. Und je unabhängiger eine Notenbank ist, desto besser kann dieses Ziel erreicht werden, meint der Autor. Allerdings habe sich die Notenbankpolitik aufgrund vielfältiger Herausforderungen, neuer Aufgaben und der Entwicklung neuer Instrumente (beziehungsweise deren massiver Einsatz) stark verändert. Laut dem Autor spiele dabei die zunehmende Politisierung der Geldpolitik eine wesentliche Rolle. Die Institute hätten zudem versäumt, auf die Grenzen ihrer Möglichkeiten aufmerksam zu machen, während die Politik auf dem Gebiet der mikroprudenziellen und makroprudenziellen Aufsicht zusätzliche Aufgaben übertrug. Dieser Trend werde durch die selbsterklärte Verantwortung von Notenbanken für die Umwelt oder die Verteilung von Vermögen noch einmal verstärkt. (Red.)

Zwei Ereignisse haben das globale Umfeld einschneidend verändert und damit neue Herausforderungen für die Geldpolitik geschaffen. Die Finanzmarktkrise 2008 hat die Welt an den Rand einer Depression getrieben, vergleichbar im Ausmaß der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Nicht zuletzt dank des massiven Einsatzes der Geldpolitik verblieb der Einbruch der Wirtschaft in der Dimension einer tiefen Rezession, das Schlimmste konnte also verhindert werden.

Aber das erfolgreiche Zusammenwirken mit der Fiskalpolitik hat dauerhafte Spuren hinterlassen. Im Grunde ist die Politik der Notenbanken seitdem nicht völlig aus dem Krisenmodus herausgekommen. Im Übrigen ist ein zentrales Problem bis heute nur sehr unzureichend behandelt: Haben nicht die Notenbanken selbst, allen voran die Fed, mit einer Geldpolitik, die der Entwicklung von monetären und finanziellen Faktoren so gut wie keine Beachtung geschenkt hat, eine zunehmende Instabilität des Finanzsystems bewirkt und damit zum anschließenden Crash beigetragen?

Von Krise zu Krise

Während die Geldpolitik, nicht zuletzt die der EZB, auf dem Weg zur Normalisierung noch nicht wirklich vorangekommen war, wurde die Welt mit der Covid-19-Krise von einem neuen und neuartigen Schock getroffen. Weithin wird dabei von einem schweren Konjunktureinbruch gesprochen. Diese Analyse führt jedoch in die Irre und zum Ausgangspunkt für falsche wirtschaftspolitische Reaktionen. Anders als eine "normale" Rezession stellt die Pandemie eine Kombination von Angebots- und Nachfrageschock dar. Damit wird auch deutlich, dass in dieser Krise an erster Stelle die Fiskalpolitik gefragt ist. Nur diese kann selektiv, zielgerichtete Maßnahmen zur Stützung der Wirtschaft ergreifen.

Der Geldpolitik kommt dabei eine begleitende Rolle zu. Ihre Hauptaufgabe liegt im Wesentlichen darin, die Finanzpolitik gegen unerwünschte Störungen vonseiten der Finanzmärkte abzusichern, indem sie einem unangemessenen Anstieg der Zinsen und größerer Volatilität entgegenwirkt. Mit dieser quasi dienenden Rolle gefährdet jedoch die Notenbank ihre Unabhängigkeit von der Politik, wenn sie sich nicht rechtzeitig aus dem Schlepptau der Finanzpolitik befreit.

Diese Gefahr droht vor allem von dem riesigen Schuldenberg, den die Pandemie und ihre Bekämpfung weltweit hinterlassen. Diese Bedrohung ist umso größer, als seit der Finanzmarktkrise der öffentliche - und in zahlreichen Fällen auch der private - Schuldenstand bereits vorher stark angewachsen war. In der Zwischenzeit erreichen die öffentlichen Schulden in zahlreichen Ländern Höchststände, wie sie bisher nur als Folge von Kriegen zu verzeichnen waren. Deutschland bildet dank einer Reihe von Jahren mit ausgeglichenem öffentlichen Haushalt oder sogar Überschüssen eine Ausnahme. Dies gilt jedoch nur für die ausgewiesene, die explizite Schuld. Die implizite Schuld, im Wesentlichen in Form von gesetzlichen Ansprüchen an die Sozialsysteme, liegt um ein Vielfaches höher und bedroht die Stabilität des ganzen Finanzsystems.

Zur Bekämpfung der Krisen haben die Notenbanken ein ganzes Arsenal von Instrumenten eingesetzt - von negativen Zinsen, gezielten Kreditprogrammen für Banken bis zu massiven Anleihekäufen. Trotz des Einsatzes sogenannter unkonventioneller Maßnahmen bewegte sich die Inflationsrate oft deutlich unter der allgemein als optimal angesehenen Marke von (rund) 2 Prozent. Konzeptionell stellt sich die Frage, inwieweit nach einer Überwindung der Krisen das Instrumentarium der Geldpolitik neu justiert werden soll.

Neue Strategien der Geldpolitik

Die Finanzmarktkrise und die Pandemie haben die Notenbanken vor große Herausforderungen gestellt. Das wirtschaftliche Umfeld hat sich durch weitere Entwicklungen wesentlich verändert. An erster Stelle steht der Klimawandel. Wie soll die Geldpolitik auf diese größte Bedrohung von Wirtschaft und Gesellschaft reagieren? Eröffnet sich hier ein neues Betätigungsfeld oder liegt die Verantwortung für die Bekämpfung des Klimawandels und seiner Folgen nicht außerhalb des Handlungsbereichs der Notenbanken?

Geldpolitische Maßnahmen haben immer auch Wirkungen auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen. Sind solche Wirkungen nicht nur zu bedenken oder sollen die Notenbanken bei ihren geldpolitischen Entscheidungen Verteilungsziele verfolgen? Die Globalisierung, ihr Ausmaß und ihre Geschwindigkeit, beeinflusst schließlich die Entwicklung der Ein- und Ausfuhrpreise und übt somit einen wichtigen Einfluss auf das Preisklima aus mit entsprechenden Folgen für die Geldpolitik.

Zusammengenommen stellen diese Entwicklungen die Notenbanken vor die Aufgabe, ihre Geldpolitik grundsätzlich zu überdenken. Die beiden wichtigsten Notenbanken der Welt haben entsprechend ihre Strategien überprüft.

Strategiewechsel der Fed

Im Sommer 2020 hat die US-Notenbank ihre neue Strategie bekannt gegeben. Im Folgenden sollen die wichtigsten Elemente nur kurz erläutert werden.

Die Ziele der Fed sind vom Parlament (Kongress) vorgegeben: maximale Beschäftigung, stabile Preise und - meistens vernachlässigt - moderate langfristige Zinsen. Das bisherige Inflationsziel von zwei Prozent als jährlicher Anstieg des Preisindex für die persönlichen Konsumausgaben hat die Fed im Grundsatz bestätigt. In der neuen Strategie verfolgt sie dieses Ziel fortan aber als Durchschnitt im Zeitverlauf. Da die Preissteigerungsrate in der Vergangenheit längere Zeit unter zwei Prozent gelegen hat, strebt die Notenbank jetzt eine Inflationsrate an, die für einige Zeit "mäßig" über zwei Prozent liegt.

Für dieses "average inflation targeting" gibt die Fed jedoch weder an, ab welchem Zeitpunkt das Unterschießen der Zwei-Prozent-Marke in der Vergangenheit gemessen wird, noch wie sie das korrigierende Überschießen in der Zukunft genau planen und erzielen will. Aufgrund dieser Ungewissheit ist schwer zu verstehen, warum die Fed glaubt, mit diesem Ansatz die Inflationserwartungen besser als bisher auf dem Niveau von zwei Prozent stabilisieren zu können. Schließlich stellt sich die Frage, ob man darauf vertrauen kann, dass die Fed rechtzeitig einen restriktiven Kurs einschlagen wird, wenn die Inflationsrate für längere Zeit höher als geplant ausfällt.

Solche Zweifel werden verstärkt durch die neue Definition des Beschäftigungsziels. Nach den Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit, nach denen selbst bei historisch sehr niedrigen Werten für die Arbeitslosigkeit es nicht zu einem Anstieg der Inflation gekommen war, verzichtet die Fed in Zukunft auf die Angabe eines numerischen Werts für das Ziel "maximale Beschäftigung". Sie verfolgt künftig eine asymmetrische Politik, in der das Unterschreiten der Beschäftigung von ihrem maximalen Wert das entscheidende Kriterium wird. Das bedeutet konkret, dass die Fed erst dann einen restriktiveren geldpolitischen Kurs einschlagen wird, wenn die Inflation zu stark steigt. Hinter dieser Strategie spielen verteilungspolitische Ziele eine wichtige Rolle.

Trotz gegenteiliger Behauptungen wird man schwerlich den Eindruck vermeiden können, dass die neue Strategie dem Beschäftigungsziel (noch) größere Bedeutung als in der Vergangenheit einräumen wird. Konzeptionell wirft die neue Strategie Fragen auf, die bisher alles andere als befriedigend geklärt wurden. Wenig überraschen kann die Tatsache, dass monetäre und finanzielle Größen - Geldmenge, Kredit - nach wie vor keine Rolle für die Geldpolitik der Fed spielen.

Es ist sehr fraglich, ob die Fed als wichtigste Notenbank der Welt mit der neuen Strategie als Vorbild dienen kann (Issing 2020).

Die Strategie der EZB

Auf meinen Vorschlag hin hat der EZB-Rat am 13. Oktober 1998 seine stabilitätsorientierte geldpolitische Strategie beschlossen und am gleichen Tag bekannt gegeben. Zwei Elemente stehen im Mittelpunkt:

1. Eine numerische Definition von Preisstabilität als ein Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) von unter 2 Prozent - anzustreben auf mittlere Sicht.

2. Die (anschließend so benannte) Zwei-Säulen-Strategie, nach der die geldpolitischen Entscheidungen auf der Basis eines "crosschecking" der monetären und der ökonomischen Analyse der Risiken für die Preisstabilität getroffen werden (Issing 2008).

Nach umfangreichen Studien wurde diese Strategie in der Überprüfung 2003 im Wesentlichen bestätigt (Issing 2003). Die Definition der Preisstabilität wurde nicht verändert, die EZB erklärte jedoch, sie werde mit ihrer Politik darauf abzielen, die Preissteigerungsrate mittelfristig "nahe bei 2 Prozent" zu halten. Die Kritik an dieser Strategie kam im Wesentlichen aus dem Bereich der Wissenschaft und richtete sich auf den Zwei-Säulen-Ansatz und hier vor allem auf die Bedeutung der monetären Analyse sowie auf die Unbestimmtheit der numerischen Definition der Preisstabilität von unter 2 Prozent. Die EZB hat sich vielfach mit ihren Kritikern auseinandergesetzt, nicht zuletzt in den ECB and its Watchers-Konferenzen (Issing 2008). Im Ergebnis hielt sie an der Strategie von 1998 über viele Jahre fest, ein Beweis für deren Robustheit.

Orientierung geändert

Schließlich veranlassten die bereits erwähnten tiefgehenden Veränderungen im Umfeld die EZB, ihre Strategie gründlich zu überprüfen. Eine neue geldpolitische Strategie wurde am 8. Juli 2021 bekannt gegeben. Diese enthält einerseits wesentliche Änderungen, andererseits kann man auch Kontinuität in wichtigen Elementen beobachten (Issing 2021).

Die EZB hat ihre Orientierung insofern geändert, als sie jetzt ein Inflationsziel von 2 Prozent anstrebt, und zwar symmetrisch, das heißt, sie hält Abweichungen nach unten und oben für gleichermaßen unerwünscht. Ihren Bias "unter" hat sie also aufgegeben und in die "andere Richtung gedreht", indem sie ankündigt, besonders wirksame und anhaltende geldpolitische Maßnahmen immer dann zu ergreifen, wenn es zu verhindern gilt, dass sich Abweichungen vom Inflationsziel nach unten verfestigen. Bemerkenswert ist auch, dass die EZB mit der Ankündigung eines Inflationsziels nun auch offiziell ins Lager der weltweit dominierenden Strategie des Inflation Targeting eingeschwenkt ist.

Klimawandel als neue, große Aufgabe

Bei der Messung der Inflationsrate soll in Zukunft auch die Preisentwicklung von selbstgenutztem Wohnungseigentum in die Berechnung einbezogen werden. Dies dürfte zu einer um 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte höheren Inflationsrate führen. Diese Entscheidung liegt in den Händen von Eurostat. Bis die neue Messung offiziell wird, dürfte noch einige Zeit vergehen. Die EZB ist jedoch nicht daran gehindert, schon jetzt den höheren Wert bei ihrer Einschätzung der Risiken für die Preisentwicklung zu berücksichtigen.

Im Unterschied zu anderen Notenbanken wird die EZB ihre geldpolitischen Entscheidungen nach wie vor auf zwei interdependente Analysen stützen. Die wirtschaftliche Analyse konzentriert sich wie bisher auf die reale und nominale Entwicklung, während die monetäre und finanzielle Analyse monetäre und finanzielle Indikatoren untersucht, den geldpolitischen Transmissionsmechanismus eingeschlossen. Man darf gespannt sein, wie die EZB die angekündigte Integration der beiden Säulen - wenn man den Begriff noch verwenden darf - realisieren will.

Insbesondere nach Ankündigungen der Präsidentin Lagarde und anderer Mitglieder des Rates war die Entscheidung, die EZB werde Verantwortung für die Bekämpfung des Klimawandels übernehmen, keine Überraschung mehr. Wie ernst es die Notenbank meint, zeigt nicht zuletzt die gleichzeitige Veröffentlichung eines ehrgeizigen Aktionsplans.

Der Klimawandel stellt zweifelsohne eine gewaltige Bedrohung für die ganze Welt und damit eine entsprechende Herausforderung für die Politik dar. Es ist deshalb nicht nur verständlich, sondern geboten, dass die EZB keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass sie dieses Problem ernst nimmt und im Rahmen ihrer Möglichkeit einen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels leistet.

Denn der Klimawandel und die darauf ausgerichtete Politik - vor allem der Regierungen - entfalten starke Wirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung. Dies schlägt sich in so gut wie allen wichtigen ökonomischen Variablen wie Wachstum, Inflation, Beschäftigung nieder, die in die Projektionen und Analysen der Notenbank bei der Vorbereitung ihrer Entscheidungen eingehen. Insofern trägt die Geldpolitik diesen Entwicklungen implizit auch jetzt schon Rechnung.

Die EZB ist jedoch entschlossen, weit darüber hinauszugehen und explizite Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels zu ergreifen. Naturkatastrophen und andere Umweltereignisse bergen Risiken für ganze Klassen von Vermögensanlagen. Die EZB will diese Risiken zum einen in ihrer Eigenschaft als Regulierungs- und Aufsichtsbehörde Rechnung tragen. Zum anderen will sie solche Faktoren bei ihren eigenen Anlageentscheidungen und insbesondere bei den Käufen von Wertpapieren berücksichtigen.

Die EZB will ihre Forschung auf diesem Gebiet erheblich ausbauen, um etwa den CO2 Fußabdruck von finanziellen Institutionen oder Unternehmen, die Anleihen begeben, genauer beurteilen zu können. Die Grundidee ist, ein eigenes Bewertungssystem für den Wert von Anlagen zu entwickeln, das Klimarisiken und regulatorische Erfordernisse einschließt. Der klimapolitisch korrigierte Preis beziehungsweise das entsprechende Risiko bilden dann die Grundlage für die Aktionen der EZB, von der Zulassung als Kollateral bis zur Entscheidung über Anlagekäufe.

Grüne Ankaufspolitik mit Marktneutralität vereinbar?

Dieses Vorhaben erfordert den Einsatz von erheblichen Ressourcen. Aber selbst in Notenbanken sind die Mittel nicht unbegrenzt und es bleibt zumindest offen, ob nicht andere Institutionen mit langjähriger Erfahrung über sehr viel bessere Daten und Ergebnisse verfügen.

Das Vorhaben der EZB stellt eine gewaltige Herausforderung dar. Die Finanzmärkte werden zunehmend Risiken wie das Ende der Kohleverbrennung berücksichtigen. Worauf gründet sich die Aussicht, dass die Notenbank in jedem Einzelfall über bessere Informationen und die überlegene Methode zur Umsetzung verfügt? Das ist nur ein einfaches Beispiel. Denn darüber hinaus gilt es schließlich, Umweltrisiken in komplexen Produktionsprozessen wie etwa der chemischen Industrie richtig einzuschätzen und den "korrekten" Preis für entsprechende Assets zu ermitteln.

Wie steht es dabei mit dem Risiko, dass die Notenbanken im konkreten Fall das Klimarisiko überschätzen und eine "grüne Bubble" verursachen? Schließlich lässt sich kaum verhindern, dass Unternehmen "grüne" Anleihen emittieren und die Finanzmittel dann in die Produktion von "braunen" Erzeugnissen stecken. Die EZB muss im Übrigen auch klären, inwieweit eine eigene "grüne" Ankaufspolitik mit der im Maastricht-Vertrag geforderten Marktneutralität vereinbar ist.

Die EZB rechtfertigt ihre selbst erklärte Rolle in der Klimapolitik mit dem Argument, dass der Klimawandel Folgen für das vorrangige Ziel der Preisstabilität haben kann. Mit diesem Argument könnte sie jedoch sehr schnell in einen schwierigen Konflikt geraten. Wird sie einen restriktiven Kurs in der Geldpolitik einschlagen, wenn etwa die Regierungen mit einer Erhöhung des CO2-Preises die Preisentwicklung über das von der EZB als tolerierbar angesehene Niveau hinaustreiben?

Das Hauptproblem einer "grün gefärbten" Geldpolitik liegt jedoch auf einer höheren Ebene. Seit der Ankündigung "whatever it takes" von Präsident Draghi und den massiven Anleihekäufen ist die EZB bereits hart kritisiert worden, sie überschreite ihr Mandat und verfolge in Wirklichkeit politische Ziele, nämlich die Stabilisierung der öffentlichen Finanzen hoch verschuldeter Mitgliedsstaaten. Mit der Verantwortung in der Bankenaufsicht und für die Stabilität des Finanzsystems ist nicht nur ihre Verantwortung gewachsen, sondern auch die Gefahr für Konflikte mit dem vorrangigen Ziel der Preisstabilität.

Je politischer jedoch die Rolle, die eine Notenbank spielt, desto größer die Frage nach ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Maastricht-Vertrag steht die Unabhängigkeit der EZB juristisch auf dem denkbar sichersten Boden. Die politische Entscheidung, der EZB den Status der Unabhängigkeit zu verleihen, beruht auf der Überzeugung, dass nach allen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen die Unabhängigkeit der Notenbank die unabdingbare Voraussetzung für stabiles Geld ist. Der Status der Unabhängigkeit legitimiert die Notenbank nur zu geldpolitischen Maßnahmen, die ihrem Mandat mit dem Vorrang für die Preisstabilität entsprechen. Je mehr die Geldpolitik andere Ziele verfolgt, desto mehr gerät sie in die Gefahr von Konflikten mit diesem vorrangigen Ziel.

Sie fordert damit Kritik geradezu heraus und droht, die Unterstützung für ihren Status in der Öffentlichkeit zu verlieren. Mit der in der neuen Strategie angekündigten Verantwortung für die Bekämpfung des Klimawandels gerät die EZB nicht nur unvermeidlich in politische Debatten. Sie riskiert auch ihre Glaubwürdigkeit, wenn sich herausstellt, dass ihr konkreter Beitrag weit hinter dem zurückbleibt, was die Öffentlichkeit nach den ehrgeizigen Ankündigungen erwartet.

Gefährdungen der Unabhängigkeit der Notenbanken

Als wichtigstes Element einer neuen Epoche der Geldpolitik könnte sich der Verlust der Unabhängigkeit der Notenbanken - zumindest de facto - erweisen. Zu Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hatten die meisten größeren Länder ihren Notenbanken den Status der Unabhängigkeit verliehen. Ausschlaggebend für diese Entwicklung waren die Erfahrungen mit dem starken Anstieg der Inflation in den siebziger Jahren in den USA und darauf folgend eine Vielzahl von Studien, die einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Unabhängigkeit und Inflation ermittelten: Je unabhängiger die Notenbank, desto niedriger die Inflation. In Europa beziehungsweise den Ländern, die der Europäischen Währungsunion beitreten wollten, spielte sowohl das Beispiel der Deutschen Bundesbank als auch das deutsche Beharren auf der Unabhängigkeit für die künftige Europäische Zentralbank eine wichtige Rolle.

Die Folgezeit - "Great Moderation" genannt - war geprägt von weltweit beachtlichem Wachstum und niedriger Inflation. Ein Ergebnis, das weithin auch der von unabhängigen Notenbanken betriebenen Geldpolitik zugeschrieben wurde. Als die Notenbanken schließlich - im Zusammenwirken mit der Fiskalpolitik - nach dem Kollaps des Finanzsystems 2007/8 mit ihrer entschlossenen expansiven Politik verhinderten, dass die schwere Rezession in eine Depression im Ausmaß der 1930er Jahre endete, erreichte ihr Ansehen einen Höhepunkt. Damit stiegen aber auch die Erwartungen in ihre Fähigkeit, die wirtschaftliche Entwicklung zu kontrollieren, und zwar weit über das hinaus, was die Geldpolitik tatsächlich zu leisten vermag. Die Notenbanken haben, bis auf wenige Ausnahmen, versäumt, auf die Grenzen ihrer Möglichkeiten aufmerksam zu machen. Gleichzeitig übertrug die Politik den Notenbanken auf dem Gebiet der mikroprudenziellen und makroprudenziellen Aufsicht zusätzliche wichtige Aufgaben.

Damit ist eine Konstellation entstanden, die große Gefahren für den Status der Unabhängigkeit in sich bergen (Issing 2017). Schließlich wurden durch die massiven Ankäufe von Staatsanleihen die Grenzen zwischen Geldpolitik und Fiskalpolitik immer weniger deutlich. Dieses Zusammenspiel lässt Zweifel an der Defacto-Unabhängigkeit aus. Das gilt insbesondere für die EZB, die sich mehr und mehr als Garant der Währungsunion in ihrer jetzigen Form versteht. Dieser Trend der Politisierung der Geldpolitik wird noch verstärkt durch die selbst erklärte Verantwortung von Notenbanken für Umwelt und Verteilung von Einkommen beziehungsweise Vermögen. Diese Verantwortung liegt jedoch in einer Demokratie in den Händen der Politik, die sich am Ende vor ihren Wählern rechtfertigen muss.

Die neue Epoche

Vielfältige Herausforderungen, neue Aufgaben, die Entwicklung neuer Instrumente und deren massiver Einsatz haben das Bild der Notenbankpolitik wesentlich verändert. Es liegt daher nahe, von einer neuen Epoche zu sprechen. Eine wesentliche Rolle spielt die zunehmende Politisierung der Geldpolitik. Damit gerät zwangsläufig das Institut der Unabhängigkeit der Notenbank in die Diskussion (Tucker 2018). Für die EZB ist dank der Verankerung im Maastricht-Vertrag die Unabhängigkeit rechtlich wie nur denkbar gesichert. Im Falle anderer Notenbanken, etwa der Fed, gilt das keineswegs.

Bei vielen Notenbanken stellt sich jedoch die Frage, ob nicht de facto politische Erwägungen bei den geldpolitischen Entscheidungen inzwischen eine zunehmende Rolle spielen. Damit ist aber die Akzeptanz der Unabhängigkeit in Politik und Gesellschaft in bedenkliche Auseinandersetzungen geraten.

Wie immer am Beginn einer neuen Epoche kann man auf die weitere Entwicklung gespannt sein.

Literatur

Issing, Otmar ed. (2003), Background Studies for the ECB's Evaluation of its Monetary Policy Strategy, November.

Issing, Otmar (2008), Der Euro - Geburt, Erfolg, Zukunft, München.

Issing, Otmar (2017), Central Banks - are their reputation and independence under thread from overburdening?, International Finance.

Issing, Otmar (2020), Neue Strategie der Fed, Nachahmung nicht empfohlen, FAZ vom 6. Oktober.

Issing, Otmar (2021), An assessment of the ECB's strategy review, Central Banking, 13. August.

Tucker, Paul (2018), Unelected Power, Princeton.

Otmar Issing , Präsident, Center für Financial Studies, Goethe-Universität, Frankfurt am Main
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