Die neue Regierung steht vor Richtungsentscheidungen

Dr. Cornelius Riese, Foto: DZ BANK AG

Nach insgesamt 16-jähriger Amtszeit von Kanzlerin Merkel zeichnet sich nun ein Regierungswechsel in Deutschland ab. Und auch, wenn noch nicht sicher ist, wie die neue Regierung aussehen wird, ist eines schon klar: Es gibt viel zu tun, um die entsprechenden Weichen für ein modernes und zukunftsfähiges Deutschland zu stellen. Dafür ist es laut dem Autor von enormer Wichtigkeit, beispielsweise die richtigen Investitionsanreize für Schlüsselindustrien zu setzen oder das Steuerrecht international wettbewerbsfähig zu machen. Des Weiteren sollte vor allem der Mittelstand gefördert werden in Sachen Modernisierung oder Nachhaltigkeit, indem übermäßig belastende bürokratische Elemente abgebaut werden. Nur so könne Deutschland auch Treiber neuer Innovationen sein und im globalen Wettbewerb um Zukunftstechnologien bestehen. (Red.)

Die künftige Bundesregierung steht vor großen Herausforderungen. Die Regierungsarbeit der vergangen Jahre hat zahlreiche Krisen erfolgreich gemeistert. In infrastruktureller und administrativer Hinsicht wurden jedoch nicht die erforderlichen Impulse gesetzt. Nun beginnt eine Zeit des Umbruchs mit einer Liste drängender Themen, die während der Pandemie noch stärker in den Vordergrund getreten sind: Digitalisierung der Verwaltung, Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren, Erhöhung der Attraktivität des industriellen Standortes Deutschland bei gleichzeitiger Transformation in Richtung einer höheren Nachhaltigkeit.

Vor uns liegt ein Modernisierungsjahrzehnt, in dem Weichen gestellt werden müssen, die die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland stärken. Die Veränderungsprozesse, die in diesem Jahrzehnt in verschiedenen Bereichen und Branchen anstehen, bedeuten große wirtschaftspolitische Anstrengungen - und sind vor allem für den deutschen Mittelstand eine enorme Herausforderung.

Der deutsche Mittelstand genießt im In- und Ausland ein hohes Ansehen. Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) prägen in zahlreichen spezialisierten Nischenbranchen das Bild des innovativen Tüftlers und weltweiten Vorreiters. Zum Erfolgsmodell Mittelstand gehören in Deutschland tatsächlich über 99 Prozent aller Unternehmen, die mehr als ein Drittel des Gesamtumsatzes der Unternehmen in Deutschland erwirtschaften. Darüber hinaus ist der Mittelstand ein wichtiger Arbeitgeber und trägt an der Aus- und Weiterbildung in Deutschland einen hohen Anteil: Fast 60 Prozent aller Arbeitsplätze entfallen auf KMU, rund 82 Prozent der betrieblichen Ausbildungsplätze werden in Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitern bereitgestellt. Wie sollte eine wirkungsvolle Modernisierungspolitik gestaltet sein, damit die anstehenden Herausforderungen rund um Digitalisierung, Verschiebungen in der globalen Politik- und Wirtschaftsarchitektur und Nachhaltigkeit auch für KMU zu bewältigen sind?

Europäische Mittelstandskunden können im Vergleich zu multinationalen Konzernen nicht immer auf die vielfältigen Unternehmensfinanzierungen zurückgreifen, die sich über den Kapitalmarkt ergeben. Der Finanz- und Kapitalmarkt in Europa ist sehr heterogen und im Vergleich zum US-amerikanischen Kapitalmarkt auch nicht so tief und breit aufgestellt. Hier gilt es in der neuen Legislaturperiode das grundsätzliche Ziel einer Kapitalmarktunion weiter voranzutreiben. Unternehmen und Investoren sollte grenzüberschreitend der Zugang erleichtert werden, sich über die Kapitalmärkte zu finanzieren. Ziel ist es, die Wettbewerbsfähigkeit in Europa zu stärken.

Verlässlichkeit für den Mittelstand das A und O

Gleichwohl dürfen die Vorzüge des Kapitalmarktes für den Mittelstand nicht überschätzt werden. KMU benötigen aufgrund ihrer Größe einen starken und vor allem verlässlichen Partner für ihre Investitionen. Zwar bietet das Kapitalmarktsegment vielfältige Möglichkeiten, um Kapital für Innovationen und eine nachhaltige Transformation zu mobilisieren. Doch die Rolle der Kapitalmarktfinanzierung ist in der Realität - ins besondere für KMU - höchstens komplementär zu betrachten. Die Inanspruchnahme lohnt sich eigentlich erst ab einem Finanzierungsbedarf in zweistelliger Millionenhöhe. So bleibt eine Mittelaufnahme über Anleihen und Schuldscheine für den breiten Mittelstand eher eine Ausnahme.

Der klassische Bankkredit stellt noch immer die bevorzugte Unternehmensfinanzierungsform dar. In der jährlich von der DZ Bank durchgeführten Mittelstandsstudie mit 1 000 beteiligten Unternehmen ist zu erkennen, dass der Finanzierungsbedarf nach einem Corona-bedingten leichten Einbruch 2021 wieder angestiegen ist, vor allem in der Agrarwirtschaft, im Handel und im Dienstleistungsgewerbe. Knapp 85 Prozent der mittelständischen Unternehmen decken ihren Finanzierungsbedarf mittels Bankkredit, lediglich 2,7 Prozent nutzen den Kapitalmarkt.

Auch digitale Fremdfinanzierungen stellen derzeit noch ein Nischenprodukt dar. Laut einer im Juli 2021 veröffentlichten KfW-Studie haben KMU lediglich 2 Prozent der Kreditfinanzierungen über eine Online-Kreditplattform erfolgreich abgeschlossen, 80 Prozent der KMU ist das Konzept generell bekannt, 18 Prozent kennen Online-Kreditplattformen jedoch nicht. Auch wenn kurzfristig eher eine geringere Bedeutungszunahme von Online-Kreditplattformen zu erwarten ist, können diese langfristig eine geeignete Alternative bieten. Nicht nur Fintechs, sondern auch Banken entwickeln eine Vielzahl an innovativen Plattformprodukten, um den Kreditvergabeprozess effizienter zu gestalten. Denn der Wunsch nach digitalen, schnelleren und schlankeren Kreditvergabeprozessen steigt gerade bei jüngeren Unternehmern.

Den Regulierungsdruck, den Banken in Europa seit der Finanzkrise spüren, läuft jedoch Gefahr zulasten einer Reduzierung der Kreditvergabe zu gehen - gerade bei langfristigen und eher risikobehafteten Krediten, die wir für Innovationen und das Entstehen neuer Technologien für die Zukunft dringend be nötigen. Zudem stehen Banken zwar in einem Wettbewerb mit Fintechs um die besten Innovationen - aber weiterhin nicht unter den gleichen Vorzeichen. Wichtig für die nächste Legislaturperiode wird sein, ein Level Playing Field - und damit einen fairen Wettbewerb - zu schaffen. Die Re gulierung sollte auf die Aktivitäten und nicht auf die Unternehmen abstellen, das heißt, Bankgeschäfte, unabhängig davon, welcher Dienstleister diese ausführt, sollten gleichwertig reguliert werden. Auch um Ausweichreaktionen und Arbitrage durch Schattenbanken - prominente Beispiele haben wir in den vergangenen 18 Monaten einige gesehen - zu verhindern.

Bürokratie bremst Modernisierung

In einem zunehmend komplexen weltwirtschaftlichen Kontext ist es essenziell, Unternehmen Raum für Innovationen zu geben, beispielsweise Investitionsanreize für Schlüsselindustrien zu setzen und auch das Steuerrecht international wettbewerbsfähig zu gestalten. Nur so kann Deutschland auch Treiber neuer Innovationen sein und im globalen Wettbewerb um Zukunftstechnologien bestehen.

Bei der Umsetzung der europäischen Nachhaltigkeitsregulierung zeichnet sich jedoch ab, dass der Mittelstand überproportional belastet wird. Zwar sollen mittelständische Unternehmen bei der Erhebung nachhaltigkeitsbezogener Daten zum Beispiel für die EU-Taxonomie einen längeren Übergangszeitraum als börsennotierte Unternehmen bekommen. Doch die Daten, die im Sinne der Taxonomie-Verordnung als ökologisch nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten gelten, müssen - ob im Jahr 2023 oder 2024 - erhoben und geprüft werden. All das erfordert umfangreiche Dokumentationen und das Schaffen neuer digitaler Strukturen und Datenhaushalte. Das bringt nicht nur zusätzliche Belastungen mit sich, sondern hilft vor allem in einem Punkt nicht: dem Abbau von Bürokratie.

Durch zahllose Kundengespräche und die jährlichen Mittelstandsbefragungen der DZ Bank ist bekannt, wie sehr Unternehmen unter der ausufernden Bürokratisierung leiden. Bürokratie stellt auch in diesem Jahr wieder den Hauptgrund dar, der die Modernisierungsbestrebungen der Unternehmen bremst. Auch der bereits bestehende Fachkräftemangel in Schlüsselindustrien ist eine der zentralen Herausforderungen für den Mittelstand bei der Modernisierung von Produktionsprozessen und Wertschöpfungsketten.

Nachhaltigkeit: Thema mit Zukunft

Die Weiterentwicklung unseres Wirtschaftssystems zu mehr Nachhaltigkeit ist ein gesellschaftlicher Wandel, der bleiben wird. Das ist sehr eindrücklich an den Ergebnissen der Bundestagswahl zu sehen. Wichtig ist nun, dass Verbote nicht die Oberhand gewinnen. Die Politik sollte durch gezielte Maßnahmen und dezidierte Investitionsprogramme Nachhaltigkeit in besonders energieintensiven Industrien ökonomisch sinnvoll und attraktiv gestalten - und so ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken.

Nachhaltigkeit ist, bei aller Sorge um die zusätzlichen Belastungen durch Regulierung, auch für den Mittelstand ein Thema mit Zukunft, das Opportunitäten schafft. Unsere Daten zeigen, dass Nachhaltigkeit in fast allen mittelständischen Unternehmen durch die eigene Überzeugung realisiert wird. Weitere Gründe für Nachhaltigkeitsmaßnahmen sind die Einsparung von Energiekosten oder Chancen, die durch die Kreislaufwirtschaft entstehen. Der effiziente Einsatz von Ressourcen, gerade bei den derzeit so hohen Rohstoff- und Materialpreisen, verringert nicht nur die Importabhängigkeit und schafft mehr Arbeitsplätze, sondern fördert die Wertschöpfung auch im Sinne der Langlebigkeit, Reparierbarkeit und Wiederverwertbarkeit.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich mehrfach die Frage nach der Stabilität unseres Bankensystems und deren Akteure gestellt. In der Pandemie hat es sich jedoch als sehr widerstandsfähig und unterstützend für die Gesamtwirtschaft erwiesen. Die Parforce-Umsetzung von KfW-Förderprogrammen in wenigen Tagen vom Gesetzgeber bis zur beratenden Hausbank ist hierbei ein eindrucksvolles Beispiel. Eine Kreditklemme oder gar mangelnde Kreditversorgung der Unternehmen gab es selbst in den schwierigsten Zeiten der Pandemie nicht. So steigerten die Primärbanken ihr Kreditvolumen in der Zeit von Juni 2020 bis Juni 2021 um 10 Prozent. Der weit überwiegende Teil der Mittelbereitstellung wurde wieder durch regionale Genossenschaftsbanken und Sparkassen umgesetzt, deren Struktur auch weiterhin das Spiegelbild der mittelständisch aufgestellten deutschen Wirtschaft sein sollte.

Mit ihren vielfältigen Dienstleistungen waren Banken in diesen schweren Tagen gefragt - und sind dies auch weiterhin. Banken leisten einen unverzichtbaren Beitrag zu einer funktionierenden Realwirtschaft und stellen unter anderem die Versorgung mit Liquidität sicher.

Auch im praktischen Leben hat die Pandemie die Zusammenarbeit mit Firmenkunden stark gefordert und Kundenberater vor zahlreiche Herausforderungen gestellt. Bankfilialen mussten schließen, Geschäftsreisen konnten nicht stattfinden. Die Beziehung zwischen (Haus-) Bank und Unternehmen, die in erster Linie vom persönlichen Austausch lebt, wurde notwendigerweise in die digitale Welt überführt. Doch es ist genau die auf den unmittelbaren und persönlichen Kontakt ausgerichtete Hausbankbeziehung, die die Auswirkungen der Coro - na-Krise abfedern konnte. Hausbanken haben durch die oftmals lange Kredithistorie zudem den Vorteil, dass sie das Geschäftsmodel des Kunden gut kennen.

Daher gilt es auch, die bewährten Instrumente dauerhaft zu stärken. Denn der reibungslose Ablauf während der Pandemie griff auch auf die langjährig gewachsene Bankbeziehung zurück - Vertrauen existierte bereits. Hier zeigt sich, dass Verlässlichkeit der wesentliche Treiber von Unternehmensfinanzierung ist. Unternehmen, gerade dem Mittelstand, sollte unternehmerische Verantwortung zugebilligt werden - nur so kann die notwendige Innovationskraft gestärkt, die Digitalisierung ausbaut und die Ausrichtung der Geschäftsmodelle nachhaltiger gestaltet werden.

Dr. Cornelius Riese , Co-Vorstandsvorsitzender, DZ BANK AG, Deutsche Zentral-Genossenschaftsbank, Frankfurt am Main
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