Auf zu neuen Ufern - eine Investitionsunion für Europa!

Prof. Dr. Michael Hüther, Foto: Institut der deutschen Wirtschaft Köln e. V

Die Europäische Union hat in den vergangenen Jahrzehnten diverse Ausnahmesituationen und Krisen wie die Finanzkrise 2007/2008 oder die Flüchtlingswelle im Jahr 2015 durchlaufen. Und jede durchlebte Krise hat zu gewissen Lernprozessen geführt, aus denen wiederum politische Antworten folgten, so der Autor. Und auch wenn mit dem Ausstieg Großbritanniens der EU ein wichtiges Mitglied abhandengekommen sei, habe sich - entgegen der Meinung von Kritikern, die glauben, die EU habe an ihrer Magnetwirkung verloren - kein Dominoeffekt der Desintegration entwickelt. Stattdessen habe die EU beispielweise mit dem Green Deal und ihrem ambitionierten "Fit For 55"-Plan wichtige Signale für eine gemeinsame Zukunft gesendet. Bemerkenswert sei hierbei nicht nur die finanzielle Schlagkraft, mit der die Union aufwarte, sondern auch die Aktivität der Kommission am Kapitalmarkt für die Finanzierung. Laut dem Autor ist dadurch der erste Schritt in Richtung einer Investitionsunion gemacht worden. (Red.)

In nur knapp 15 Jahren hat die Europäische Union mindestens drei schwere Krisen durchlaufen, die ähnlich heterogene Staatenbünde und Währungsräume mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auseinandergesprengt hätten. Im Gegensatz zu den vielen Abgesängen, die während dieser schwierigen Periode auf die EU gehalten wurden, ist es vielmehr eine Sensation, dass weiter besteht, was sich einst zusammengefunden hatte und worum immerhin 27 souveräne EU-Mitgliedsstaaten fortlaufend miteinander ringen, nämlich darum, wie die Integration der Gemeinschaft weiter vorangetrieben werden kann. Natürlich ist mit dem Vereinigten Königreich ein wichtiges Mitglied abhandengekommen und auch die Selbstverständlichkeit der andauernden Suche nach einer "Ever Closer Union" ist in den Grenzerfahrungen der vergangenen Jahre auf der Strecke geblieben.

Den von einigen Brexit-Protagonisten und -Befürwortern herbeigesehnte und auch herbeigeredete Dominoeffekt der Desintegration sucht man hingegen vergeblich. Tatsächlich hat jede durchlebte Krise ihre eigenen Lernprozesse angeregt, aus denen politische Antworten folgten und institutionalisiert wurden. Der Blick auf die Ausnahmesituationen der jüngeren Vergangenheit eröffnet allerdings auch nicht die Perspektive auf das Auflösen der Nationalstaaten in einem europäischen Bundesstaat, wie es "In nur knapp 15 Jahren hat die EU mindestens drei schwere Krisen durchlaufen." lange Zeit für die deutsche (und nur die deutsche) Politik selbstverständlich war. Vielmehr liegt das Augenmerk darauf, wie der Club unberechenbarer Demokratien mit all seinen asymmetrisch verteilten Risiken, Spannungen und Zielkonflikten situativ seine Handlungsfähigkeit behauptet und strukturell in kleineren Schritten - wie in der Bankenunion - vorankommt. Das lässt ebenso für die weitere Zukunft hoffen wie die Tatsache, dass die Geschichte der europäischen Integration oft Brüche aufwies und sie vor allem immer wieder durch Aporien über ihren Fortgang charakterisiert war.

Kein Dominoeffekt der Desintegration

Nach dem Lehman-Brothers-Kollaps im Herbst 2008 waren die europäischen Regierungen eilig gezwungen, Rettungsprogramme für den unter Druck geratenen Bankensektor zu schnüren. Im Zuge von geplatzten Immobilienblasen, Kapitalflucht und Bankruns entwickelte sich so aus der Finanzkrise innerhalb weniger Jahre eine ausgewachsene Staatsschuldenkrise der Eurozone. Zwar ließ man die Möglichkeit verstreichen, aus der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und später dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) einen Europäischen Währungsfonds (EWS) zu entwickeln, doch war die Staatengemeinschaft auf supranationaler Ebene handlungsfähig, Staatsschuldenkrisen zu adressieren.

Die institutionelle Antwort der EU auf die Herausforderung dieser Stunde lag in einer intensiveren Ausgestaltung der Haushaltsabstimmung und Haushaltskontrolle, um die Prävention gegen überhöhte Verschuldung zu stärken. Mit "Six Pack", "Two Pack" und dem Europäischem Semester sollen die nationalen finanzpolitischen Akteure in der Koordination ihrer Haushalte spürbar näher zusammenrücken. Mit der Bankenunion versuchte man sich über eine gemeinsame Bankenaufsicht, Bankenabwicklung und gemeinsame Standards für die Einlagensicherung erstmals an einem langfristigen Rahmenwerk, das die Währungsunion vervollständigen sollte. Noch immer fehlt es hier an einer (zugegeben äußerst voraussetzungsvollen) gemeinsamen, als Überlaufsystem in Bezug auf nationale Einrichtungen konstruierten Einlagensicherung. Doch dem Versuch, den Nexus zwischen Staatsanleihen und Bankbilanzrisiken sowie zwischen Anlegern und Steuerzahlern aufzubrechen, gebührt große Anerkennung.

Zerreißprobe für die Staatengemeinschaft

Zudem sollen über die Kapitalmarktunion - als notwendige Ergänzung der Bankenunion - die Voraussetzungen für eine Ausbildung integrierter europäischer Märkte verbessert und neue Investitionspotenziale in den Ländern gehoben werden, die unter strukturell niedrigem Kapitalangebot leiden. Auch der Europäische Fonds für strategische Investitionen (EFSI), der die privaten Investitionen über Sicherheiten der Europäischen Investitionsbank (EIB) hebeln soll, versucht diese angebotsseitigen Probleme anzugehen. Besonders dringlich ist der gemeinsame Angang der Investitionsfragen geworden, nachdem ESM, Europäische Zentralbank (EZB) und Internationaler Währungsfonds (IWF) in der Folge der Staatschuldenkrise strikte Reformauflagen für Länder unter dem transeuropäischen Rettungsschirm durchgesetzt hatten. Schnell brach sich der Widerstand gegen die Kontrolle nicht demokratisch legitimierter Bürokratien Bahn, die dennoch insbesondere in Südeuropa über eine rigide Strukturpolitik auf solvente Staatshaushalte hinwirkten.

In der Folge stockt die regionale Konvergenz innerhalb Europas, was insbesondere aus der schwachen ökonomischen Dynamik in südeuropäischen EU-Mitgliedsstaaten resultiert. Das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von Italien etwa lag im Jahr 2019 (vor der Pandemie) noch immer signifikant unter dem Vorkrisenniveau; im Falle Griechenlands sogar um ganze 20 Prozent.

Griechenland stand im Jahr 2015 ganz besonders im Fokus europäischer Konflikte und den Versuchen ihrer Lösung. Denn zu der gravierenden fiskalischen Schieflage, die seit 2010 die Kapitalmärkte aufgeschreckt hatte und schwierige Antworten der gesamten Eurozone verlangte, trat infolge der militärischen Konflikte im Nahen Osten eine große Fluchtmigration mit Auswirkungen in Richtung der wohlhabenden (west-)europäischen Staaten.

Die geografische Lage an der EU-Außengrenze in Kombination mit dem Dublin-Abkommen basierten Grenzregime sah in erster Linie das Land mit seinen Inseln vor der türkischen Küste in der Pflicht, Asylanträge abzuarbeiten und entsprechend für ausreichende Erstunterkünfte sowie die Versorgung der Angekommenen zu sorgen. Die Entscheidung von Kanzlerin Angela Merkel, die (deutschen) Grenzen für Migranten zu öffnen, war der heillosen Überforderung geschuldet, die an den europäischen Außengrenzen spürbar wurde. Doch schnell flackerten - nicht nur in Deutschland - Widerstände auf, den Ankommenden eine lebenswerte Perspektive vor Ort zu geben. Das Festsetzen einer Gruppe auf dem Budapester Bahnhof steht emblematisch für diese Entwicklung. Durch die Fluchtbewegung waren die Fernverflechtungen der globalisierten Welt innerhalb der Europäischen Union mit ihren offenen Schen gen-Grenzen spürbar geworden.

Nicht weniger als die Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise entwickelte sich auch diese Ausnahmesituation, in der wohl 2,5 Millionen Menschen ihren Weg nach Europa fanden, für die Staatengemeinschaft zur Zerreißprobe. Während sich der Widerstand gegen die EU seit Beginn der 2010er Jahre noch am Souveränitätsverlust über die Haushaltshoheit festgemacht hatte und besonders durch radikale linke Parteien politisch virulent wurde, erstarkte nach 2015 gerade in vielen europäischen Staaten eine identitätsbasierte rechtspopulistische Bewegung in ihrem Protest gegen offene Grenzen und Migration. Zu dieser Geschichte gehört auch der Brexit; das Referendum war zwar zufällig in dieser Zeit terminiert worden, durch die besondere Mobilisierbarkeit des damaligen politischen Umfelds hatte die Brexit-Kampagne jedoch eine neue Dynamik bekommen. Der Slogan "Let's Take Back Control" fand Resonanz in der Bevölkerung, in dem er die grundsätzliche Angst vor Souveränitätsverlust mit der Migrationsfrage vereinte.

Lernkurve der Europäischen Union

Im Gegensatz zu den vielen Reformen, die in der Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise angestoßen werden konnten, um die EU besser für kommende Stresstests vorzubereiten, sucht man den großen Wurf aus den Jahren der Fluchtmigration vergeblich. Sowohl die Implementierung eines echten europäischen Verteilungsmechanismus für Asylbewerber als auch eine Reform des Dublin-Regimes scheiterten an dem rigorosen Widerspruch einiger osteuropäischer Regierungen, die sich mit ihrer harschen Abwehrhaltung bei ihren Kernwählern im wirtschaftlich schwächeren ländlichen Raum zu profilieren wussten. In diesem Kontext erscheint es fast als Ironie der Geschichte, dass ein Land wie Polen, das sich weit weg von allen relevanten Migrationsrouten wähnte, im Jahr 2021 über die belarussische Grenze mit eben den komplexen Fragen des Asylmanagements konfrontiert wurde.

Eine gewisse Einigkeit ließ sich lediglich bei dem Versuch erzielen, Migration außerhalb der EU-Außengrenze zu binden. Messbaren Erfolg hatte diese Strategie durch ein Abkommen mit dem türkischen Präsidenten Erdogan, in dem die EU vorsieht, die Verhältnisse von Geflüchteten in der Türkei mit rund 6 Milliarden Euro zu unterstützen. Ein Mechanismus wurde zudem implementiert, nach dem illegal nach Griechenland einreisende Menschen in die Türkei zurückgeführt werden. Auch wenn unklar ist, wie nachhaltig ein solches Abkommen Migrationsbewegungen zu steuern vermag und inwiefern die wohlhabenden Staaten ihren normativen Verpflichtungen gerecht werden, ließen sich die innereuropäischen Spannungen doch in der Folge durchaus befrieden.

Erstaunlicher Moment europäischer Solidarität

Als sich die politischen Spannungen abermals beruhigt hatten, schlitterte der europäische Staatenbund gleich in die nächste Ausnahmesituation, in der die europäischen Grundfreiheiten infrage gestellt werden sollten. Mit der Corona-Pandemie war die EU eigentlich mit Koordinationsfragen konfrontiert, in denen ein echter europäischer Mehrwert hätte ersichtlich werden können. Trotzdem kam es innereuropäisch zu unkoordinierten Grenzschließungen, zu Exportverboten für medizinische Produkte sowie zu Fehlern und Versäumnissen bei der gemeinsamen Impfstoffbeschaffung. Diese Umstände sollen aber nicht verdecken, dass die Corona-induzierte Wirtschaftskrise auch einen erstaunlichen Moment europäischer Solidarität bewirkte. Bereits im April 2020 einigten sich die EU-Mitgliedsstaaten auf einen 540 Milliarden Euro schweren Rettungsschirm für besonders betroffene Länder. Dieser sah folgende Programme vor:

  • 100 Milliarden Euro für die Finanzierung von Kurzarbeitergeld (SURE)
  • 200 Milliarden Euro für Unternehmenskredite vergeben durch die EIB
  • 240 Milliarden Euro für Staaten, die aufgrund eines medizinischen Notstands einen erhöhten Finanzierungsbedarf aufweisen, durch den ESM.

Hinzu kamen die Ad-hoc-Maßnahmen der EZB, die nach erstem Zögern mit ihrem Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) bereits im März 2020 signalisierte, dass sie aufkommende Zweifel an der Solvenz einiger Eurostaaten mit Billionenprogrammen im Kern ersticken würde. Schon hier zeigt sich die Lernkurve der Europäischen Union, die sowohl bei den Politikmaßnahmen als auch bei den Akteuren auf wohlerprobte Durchsetzungsstärke und Effektivität setzt. Es zeigt sich aber ebenso die zunehmende Verantwortung, die von geldpolitischen Akteuren über die Inflationssteuerung hinaus übernommen werden muss (fiskalische Dominanz).

Erste Schritte in Richtung Investitionsunion

Angesichts der wirtschaftlichen Implikationen der Pandemie und in dem politischen Ringen um gemeinsame Maßnahmen konnte sich die Staatengemeinschaft bereits im Sommer 2020 zu einer sehr grundlegenden Antwort mit langfristiger Wirkungsperspektive durchringen. Schließlich umfasst das Investitions- und Wachstumsprogramm Next-Generation-EU nicht nur ein Volumen von 750 Milliarden Euro und legt einen Fokus auf die drängenden Fragen der ökologischen sowie digitalen Transformation, sondern eröffnet mit der Wiederaufbaufazilität (The Recovery and Resilience Facility) auch die Perspektive auf eine neu justierte Finanzierungsarchitektur der EU.

Tatsächlich haben gerade die in der Staatsschuldenkrise besonders betroffenen Staaten im Süden Europas eindrucksvolle Pläne vorgelegt, die in beachtlicher Weise mit - oftmals lange verzögerten - Strukturreformen verbunden sind. Zudem setzt die EU-Kommission mit dem Green Deal und ihrem ambitionierten "Fit For 55"-Plan zur Emissionsreduktion um 55 Prozent innerhalb der kommenden Dekade ein grundsätzlich wichtiges Signal. Bemerkenswert ist nicht nur die finanzielle Schlagkraft, mit der die Union aufwartet, sondern, dass die Kommission für die Finanzierung selbst am Kapitalmarkt tätig wird. Der erste Schritt in Richtung einer Investitionsunion ist damit gemacht worden.

Chance für langfristige Strategien

Lange Zeit wurde eine europäische Integration, die zentrale Finanzierungsaktivitäten supranationaler Organe vorsieht, in vielen Mitgliedsstaaten kategorisch abgelehnt. Dass man hier angesichts der großen gemeinsamen Herausforderungen in der Pandemie versucht hat, langfristige Perspektiven zu schaffen, ist bemerkenswert.

Begonnen werden darf an dieser Stelle auch das Nachdenken über eine Verstetigung solcher Bemühungen. Gerade wenn Investitionen grenzüberschreitende Mehrwerte anstoßen und über Digitalisierungs- und Klimaschutzbemühungen EU-weite öffentliche Güter (europäische Netze) begründen, bleibt schwer verständlich, weshalb Eurobonds nicht auch strukturell dafür herangezogen werden sollen.

Für die EU ergibt sich zudem die Chance, ihre mittelfristige Strategie aus dem Ruch einer Transferunion zu befreien und dagegen die Idee einer Investitionsunion zu setzen. So hat man es geschafft, in der tiefsten Angebots- und Nachfragekrise der jüngeren Geschichte ein kaum für möglich befundenes Wiederaufbauprogramm aufzulegen. Anders als bei den Anpassungsprogrammen in der Staatsschuldenkrise wirken diesmal positive Anreize: Europa geht den Weg aus der Pandemie heraus in eine neue Wachstumsphase, und zwar gemeinsam.

Gerade wenn die EU so langfristig deutlich macht, dass sie in einer fairen wie sachlich angemessenen Weise die gemeinsamen Finanzierungskosten schultert, lässt sich auch begründen, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht zum Schatten seiner selbst aufgeweicht wird. Reformbedürftig bleibt dann allenfalls der überfordernde Rückführungshorizont auf das Staatsverschuldungsziel von 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, die sogenannte Ein-Zwanzigstel-Regel. Im Rückblick waren die strikten Konsolidierungsmaßnahmen sowie die seinerzeit vereinbarten zusätzlichen Fiskalregeln nötig, um wichtige Anpassungen anzugehen.

Next Generation EU

Die Schwierigkeiten, angesichts der begrenzten Handlungsspielräume dieser Staaten mit Infrastrukturproblemen umzugehen und den Strukturwandel zu ermöglichen, sind allerdings gleichermaßen ersichtlich. Das derzeit vorgesehene Reduktionsziel, bei einer Schuldenquote über 60 Prozent dieses Niveau in einem Zeitraum von zwanzig Jahren zu erreichen, scheint bei den aktuellen Schuldenstandquoten einiger Mitgliedsstaaten utopisch. Die Regulierung ließe sich aber ohne Vertragsänderungen anfassen. Am sinnvollsten erscheint es, künftig in länderspezifischen Verträgen Anpassungspfade zu vereinbaren und dafür Mittel aus der (verstetigten) Investitionssäule der EU einzusetzen. Das Monitoring des Prozesses bestimmt je nach Fortschritt die Bereitstellung der prinzipiell zugesagten europäischen Mittel.

Äußerst erfreulich ist dafür, dass gerade die italienische Regierung einen in vielen Punkten überzeugenden Plan zur Verwendung der Next-Generation-EU-Gelder vorgelegt hat. Erste Impulse in der italienischen Wirtschaft, die im Jahr 2021 deutlich stärker angezogen hat als von vielen erwartet, sind bereits spürbar. Weitere Hoffnungen ruhen auf dem sogenannten "Draghi-Effekt", also einer glaubwürdigen Aussicht auf strukturelle Reformen. Durch die gemeinsamen europäischen Finanzierungsperspektiven lässt sich die enge fiskalische Dominanz lösen, die sonst die Geldpolitik vor sich hertreiben könnte. Entscheidend ist dafür nicht, wann die 60 Prozent bei der Schuldenquote erreicht werden, sondern dass der Pfad dahin stark beginnt und glaubwürdig beschrieben werden kann. Wenn das die Kapitalmärkte überzeugt, sollte es gelingen, der Geldpolitik neue Spielräume unabhängig von der fiskalischen Situation der Südlander zu verschaffen.

Gemeinsame Werte als wesentliches Merkmal

Wichtig ist zudem, dass die Konditionierung von Mittelauszahlungen an den Kriterien der Rechtsstaatlichkeit ausgerichtet ist und auf Ebene der Mitgliedsstaaten auch in diesem Sinne glaubwürdig wirkt. Zwar ist noch nicht abschließend ersichtlich, wie konsequent die EU gewillt ist, ihre neuen Werkzeuge auszureizen. Die derzeit gesendeten Signale gehen jedoch in die richtige Richtung. Bei aller Heterogenität und nationaler Selbstbestimmung darf der Staatengemeinschaft nicht ihr normativer Kern entgleiten. Gerade im Wettbewerb der Systeme hat Europa große Chancen, wenn die historische Vielfalt immer in der Spannung zur Einheit aus Vernunft gesehen wird. Die Basierung auf gemeinsame Werte ist ein Wesensmerkmal dieses Integrationsraums. Das ist manchmal unbequem, auf lange Sicht aber von hoher Attraktivität für andere Regionen der Welt, weil es nie dominant daherkommt.

Umso dringender ist es, dass in der europäischen Kapitale mit Blick auf die Identitätskonflikte der vergangenen Jahre Realismus gefragt ist. Denn die Erfahrung zeigt: Wirtschaftliche Krisensituationen lassen sich mit einer klug institutionalisierten Wirtschaftspolitik adressieren. Integrationsschritte und Lastenteilung sind zwar immer legitimationspflichtig, können aber an vielen Stellen überzeugen. Aktuell zeigt sich dies bei der Verstetigung der europäischen Investitionsbemühungen. Sobald Menschen aber das Gefühl entwickeln, ihre traditionelle Art zu leben würde infrage gestellt und dass dies weniger auf die ökonomischen Lebensbedingungen vor Ort abzielt, sondern vielmehr in tiefsitzenden Identitätskonflikten fußt, dann dürfen die wirtschaftlichen Werkzeuge auch nicht mit dem Versuch überfrachtet werden, Zustimmung für einen bestimmt politischen Integrationspfad zu erkaufen. Bei der Ausbildung einer europäischen Identität, so scheint es, ist noch viel Arbeit zu tun. Am Ende überzeugen immer Projekte mit großem und greifbarem Nutzwert. Das gilt für die Investitionsunion, die nun eine Chance auf Umsetzung hat. Das dürfte ebenso für die Verteidigungsunion gelten, deren Erträge schnell in europaweiten Ersparnissen von 100 Milliarden Euro jährlich liegen, wenn man nur mit der gemeinsamen Beschaffung ernst machte und die Vielfalt der Waffensysteme deutlich reduzierte. Sicherheit ist wie wirtschaftliche Dynamik von großer Bedeutung für die Menschen, sie sind gleichermaßen dringlich und ertragreich.

Fußnoten

1) Vgl. Hüther, Michael, 2019, 2019: Das Jahr für den Neuanfang in Europa?!, IW-Policy Paper 4/19.

2) Vgl. Hüther, Michael/Diermeier, Matthias/Goecke, Henry, 2021, Erschöpft durch die Pandemie: Was bleibt von der Globalisierung? Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Prof. Dr. Michael Hüther , Direktor und Mitglied des Präsidiums , Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V., Köln
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