Die Stagflation ist (fast) da: Was ist (für die EZB) zu tun?

Prof. Dr. Friedrich L. Sell, Foto: F. L. Sell

Die Corona-Pandemie hält die Weltwirtschaft nach wie vor in Atem. Nachdem das Jahr 2020 im Zeichen der wirtschaftlichen Krisenbewältigung stand, sollte das Jahr 2021 eigentlich den Startschuss für den notwendigen Aufschwung geben. Doch die steigenden Rohstoffpreise und die aktuell zu beobachtenden Lieferengpässe könnten diesen gefährden und im schlimmsten Fall zu einer Stagflation - wie sie in den 1970er Jahren auftrat - führen, so der Autor. Eine Stagflation wird definiert als eine Phase hoher Inflationsraten, die mit einem schleppenden Wirtschaftswachstum und einer konstant hohen Arbeitslosigkeit einhergeht. Der Autor zeigt im vorliegenden Beitrag auf, inwieweit ein derartiger Zustand (entgegen der Meinung der EZB), die Eurozone belasten könnte und wie sich die Zentralbank auf dieses Szenario vorbereiten sollte. (Red.)

Anders als die EZB selbst, glauben etliche (vor allem auch ausländische) Experten, dass die gegenwärtigen Unterbrechungen von Lieferketten, insbesondere aber die Preisexplosion bei Gas, Benzin, Strom und der Anstieg anderer Energiekosten Vorboten einer (nicht nur) für die Eurozone gefährlichen Stagflation sein könnten. Die Erinnerungen an die erste (1973/74) und zweite Erdölpreiskrise (1978/79) sind auch altersbedingt - nicht mehr bei jedem wach.

Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik haben damals jeweils exakt den falschen Kurs eingeschlagen: Statt die Substitution der stark verteuerten fossilen Brennstoffe durch eine expansive Geld-, eine kontraktive Fiskal- und eine zurückhaltende Lohnpolitik zu unterstützen, wurden diese Politiken genau in die entgegengesetzte, also falsche Richtung gelenkt: Sowohl der Real zins als auch der Reallohn wurden sinnigerweise nach oben geschleust, was die damalige Krise unnötig verlängert und verschärft hat. Aus diesen Lehren sollten jetzt die richtigen Schlüsse gezogen werden, auch für die Politik der EZB.

Man betrachte zunächst die Angebotsseite und ihre Beiträge zur Inflation: Vor wenigen Wochen hieß es noch, unter anderem auch vonseiten der EZB, dass es für das Aufkommen einer spürbaren Inflation in der Eurozone am Ende immer der Lohnsteigerungen bedürfe. Solche seien aber in Europa (noch) nicht zu erkennen. Nur dann, so die Logik, sei die Furcht vor einer von den Gewerkschaften in Gang gesetzten Lohn-Preis-Spirale berechtigt. Was die EZB und andere dabei übersehen: Für merkliche künftige Lohnsteigerungen braucht es der (mehr oder weniger) starken Gewerkschaften gar nicht (mehr). Nämlich dann nicht, wenn der vorhandene Fachkräftemangel sich weiter verstärkt. "In ihrem viel beachteten Buch ,The Great Demographic Reversal' begründen Charles Goodhart und Manoj Pradhan (2020) anschaulich, warum die längst eingetretene demografische Entwicklung, unzureichende Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte und global ausgeschöpfte verlängerte Werkbänke den Fachkräftemangel in Europa befeuern".

Die beiden Autoren begnügen sich dabei keineswegs mit hinlänglich bekannten Aspekten des demografischen Wandels. Sie zeigen vielmehr auf, und das auf empirische Daten gestützt, dass eine wichtige Konsequenz des demografischen Wandels der Anstieg der sogenannten "Abhängigkeitsquote" ist: Es gibt (nicht nur) in den westlichen Industrieländern immer mehr Menschen, die (etwa ausbildungsbedingt) noch nicht oder nicht mehr zur Wertschöpfung beitragen, dafür aber konsumieren. Ihr wirtschaftliches Überleben wird von immer weniger ökonomisch aktiven Menschen gestützt. Aus diesem wachsenden Ungleichgewicht entsteht ein Konsumüberhang und dieser wiederum erzeugt typischerweise Inflation. 

Negative Angebotsschocks

Es wäre naiv zu glauben, dass knappe Fachkräfte der "Lohnillusion" unterliegen: Natürlich orientieren sie sich an den Netto- und nicht an den Bruttolöhnen. Wenn die nach der Pandemie früher oder später erforderliche Konsolidierung der Haushalte - die auch aus anderen gesamtwirtschaftlichen Gründen erforderlich ist - Steuererhöhungen nach sich zieht, werden diese von den Fachkräften in Gestalt höherer Bruttolohnforderungen entsprechend eingepreist werden. Ein Anstieg der Lohnstückkosten, der die Unternehmen zu höheren Preisforderungen an den Märkten für Güter und Diensteistunen anregt, erscheint dann nicht nur plausibel, sondern wahrscheinlich. Höhere Energiepreise wirken in die gleiche Richtung, nämlich einer Verteuerung des Güterangebots.

Die Angebotsbedingungen in der Eurozone haben sich mittlerweile auch aus weiteren Gründen deutlich verschlechtert: Neben den steigenden Energiekosten ist es vor allem der von der europäischen Politik fest eingeplante stetige Erhöhungsprozess beim CO2-Preis im Kampf gegen den Klimawandel, der das Güterangebot signifikant, dauerhaft und nachhaltig verteuert. Das sind im Übrigen Schlüsselbegriffe für die Sorte Inflation, welche nach Auffassung von Christine Lagarde die EZB unbedingt bekämpfen sollte: "sustainable, durable, significant". 

Wichtig zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch die im Mitarbeiterstab des SVR entstandene Studie von Nöh/Rutkowski/Schwarz (2020): "Auswirkungen einer CO2-Bepreisung auf die Verbraucherpreisinflation". Darin wird gezeigt, dass bereits im Jahr 2021 die CO2-Bepreisung in Deutschland den harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) um 1,2 Prozentpunkte steigen lässt. Die Auswirkungen auf die Eurozone insgesamt sollen ein Drittel davon betragen. Nur: Eine entsprechende CO2-Bepreisung wird in Europa sehr bald schnell um sich greifen und die Anhebungen des CO2-Preises werden, um die gewünschte Lenkungswirkung zu erreichen, noch eine ganz andere Dynamik entfalten müssen, als das bisher von der Politik eingestanden wurde. Dafür muss man kein Prophet sein. Der Anstieg der Energiekosten geht zudem mit regressiven Verteilungswirkungen einher. Dadurch ausgelöste (neue) Verteilungskonflikte vertragen sich kaum mit stabilen Preisen.

Keynes'sche Liquiditätsfalle

Nachfrageseitig hat die EZB in der Vergangenheit die Voraussetzungen für eine höhere Inflation selbst geschaffen: Sie hat ihre eigene Bilanzsumme und damit die Zentralbankgeldmenge (M0) in den vergangenen sechs Jahren extrem weit hochgefahren. Zugleich sind allerdings die weiter gefassten Geldaggregate M1, M2 und M3 weiter nur trendmäßig angestiegen.

Daraus folgt, dass es, entgegen der Hoffnungen der EZB, derzeit (noch) einen sehr niedrigen Kreditschöpfungsmultiplikator in der Eurozone gibt. Anders gesagt: Banken und Bankkunden haben "ihr" Geld in großem Umfang gehortet, statt es in den Wirtschaftskreislauf zur Finanzierung von Konsum und Investitionen zu lenken. Damit befinden wir uns praktisch in der berüchtigten Keynes'-schen Liquiditätsfalle: Auch eine noch so große Liquiditätszufuhr ist dann nicht oder kaum imstande, die Güternachfrage signifikant und nachhaltig anzuregen. Der starke Anstieg in der Relation von M0 zum BIP ist aber zugleich ein deutlicher Hinweis auf ein erhebliches Inflationspotenzial. Dieses trifft aktuell nun ausgerechnet auf die oben geschilderten, bereits eingetretenen oder wenigstens drohenden Angebotsschocks.

Das Handelsblatt berichtete dieser Tage von der Herbsttagung von IWF und Weltbank: "Die globale Ökonomie würde in eine Phase inflationärer Risiken eintreten, so die Organisation, die Notenbanken sollten "sehr, sehr wachsam" sein. Frühzeitige Maßnahmen für eine striktere Geldpolitik seien erforderlich, falls der Preisdruck anhalte".

Politikoptionen der EZB

Ob es nun zu einer stagflationären Entwicklung endgültig kommt oder die Optimisten mit ihrer Einschätzung Recht behalten, dass alles oben geschilderte (mehr oder weniger) nur transitorischer Natur ist: Die EZB sollte darauf vorbereitet sein. Grundsätzlich hat die EZB drei Optionen: Sie kann ihren gegenwärtigen geldpolitischen Kurs beibehalten, ihn drosseln oder gar beschleunigen. Eine Drosselung der Geldpolitik, insbesondere in Verbindung mit Zinserhöhungen, verbietet sich angesichts negativer Angebotsschocks. Die oben zitierten Überlegungen des IWF, die auf Zinserhöhungen hinauslaufen, sind falsch, egal ob die Verteuerung des Angebots nur transitorisch oder permanent ist.

Bei transitorischen Angebotsschocks könnte die monetäre Drosselung diese Schocks nämlich leicht zu permanenten machen, bei permanenten droht sie die Wirtschaft in eine starke Rezession zu schicken. Zinserhöhungen würden zwar den Falken im EZB-Rat gut, der Wirtschaft in der Eurozone dagegen gar nicht schmecken. Die EZB sollte den Fehler der Deutschen Bundesbank aus den 1970er Jahren nicht wiederholen.

Auch ein expansiver Kurs wäre verfehlt, zumindest aber verfrüht, da sich das oben geschilderte nachfrageseitige Inflationspotenzial noch gar nicht entfaltet hat. Daher sollte die EZB eine akkommodierende Geldpolitik wählen. Ein simples "Weiter so" kann es allerdings nicht geben. Die gerade erst bekannt gegebene neue geldpolitische Strategie, mit einem symmetrischen 2-Prozent-Punktziel für die Inflationsrate, gehört jetzt schon dringend überarbeitet. Und das aus den folgenden Gründen:

Angesichts der preistreibenden Jahrhundertaufgabe "Kampf gegen den Klimawandel" ist eine Zielvorgabe von 2 Prozent Inflation für die nächsten Jahrzehnte möglicherweise viel zu optimistisch, ja unrealistisch. Bei anhaltenden Überschreitungen der Zielvorgabe müsste diese früher oder später ohnehin aufgegeben werden. Dann aber träten für die EZB vermeidbare Reputationsverluste ein, die denen einer unfreiwilligen Abwertung der eigenen Währung ähneln. Überhaupt sollte die Analogie zwischen Geld- und Währungspolitik viel stärker in den Blick genommen werden.

Anpassung des Inflationsziels erforderlich

Bei einem Punktziel für die Inflationsrate tritt nämlich ein ganz ähnliches Problem auf, wie wir es vom sogenannten "währungspolitischen Trilemma" kennen: Dort muss eine Notenbank ein Wechselkursziel immer dann aufgeben (sprich: die eigene Währung abwerten), wenn sie zugleich, bei ungehindertem Kapitalverkehr, autonome, eine die Konjunktur und das Wachstum stützende (zu) expansive Geldpolitik betreiben möchte. Darum muss das Inflationsziel im Einklang stehen mit dem geldpolitischen Kurs. Letzterer kann bei einer drohenden Stagflation nur schwerlich anders als ein akkommodierender sein.

Darum sollte die EZB zweierlei tun: Als Erstes ginge es darum, die Zielinflationsrate moderat anheben - auf 2,5 oder 3 Prozent - und als Zweites eben diese mit einem symmetrischen, nicht zu engen Korridor ausstatten. Dieser sollte nicht defensiv oder beschwichtigend, sondern "proaktiv" kommuniziert werden. Dabei könnte sich die EZB auf die (an der Stelle) positiven Erfahrungen mit dem EWS I (1978 bis 1998) stützen: Ein relativ breites Band um den zentralen Kurs herum (der allerdings realistisch sein musste) schützte damals teilnehmende Währungen erfolgreich gegen spekulative Attacken, die am Ende in unerwünschte Abwertungen mündeten. Auch die Politik der Deutschen Bundesbank in den 1990er Jahren liefert mit ihrem Zielkorridor für das Wachstum der Geldmenge M3 eine sinnvolle Blaupause.

Strategische Vorteile

Aus dem Inflationsziel würde dann eine veritable Inflationszielzone. Je weiter (enger) der Korridor um die gewünschte Inflationsrate herum gelegt wird, desto größer (kleiner) fällt die Flexibilität der EZB-Politik aus und desto eher (weniger) lässt sich die Zielzone auch einhalten. Ein zu weites Band wäre der Reputation der EZB dagegen abträglich, denn damit ließen sich auch größere Abweichungen vom zentralen Zielwert zu einfach rechtfertigen.

Mit einer Inflationszielzone hätte die EZB zudem der Fed gegenüber einen beträchtlichen strategischen Vorteil: Sie wäre nicht gezwungen, einen irgendwie gearteten/motivierten Durchschnitt von Inflationsraten anzupeilen, der die Notenbank nach einem anhaltenden Anstieg (Rückgang) der Inflation in der Folge zu einer gegenläufigen Reaktion, sprich: zu einer geldpolitischen Kontraktion (Expansion) regelrecht nötigt, egal wie das wirtschaftliche Umfeld gerade aussieht.

Es besteht Einigkeit darin, dass die akuten Inflationstendenzen in der Eurozone ursächlich der Angebots- und nicht der Nachfrageseite zuzurechnen sind. Uneins sind die Ansichten darüber, ob diese Störungen eher transitorisch oder anhaltend, also permanent sind. In beiden Fällen ist der EZB aber zu einer akkommodierenden Geldpolitik und nicht zu einem expansiven oder gar kontraktiven Kurswechsel zu raten. Um gegenüber den aktuellen, vor allem aber den künftigen Herausforderungen besser gewappnet zu sein, wäre die EZB besser dran, wenn sie ihr neues Inflationsziel überarbeitete. Eine moderate Anhebung der Zielmarke in Verbindung mit einem noch zu schaffenden Korridor für die Inflation kann eine glaubwürdige Geldpolitik (noch) besser ermöglichen.

Fußnoten

1) Sell, 2021b

2) Sell, 2021b, S. 688

3) Goodhart/Pradhan, 2020, S. 70/71

4) Amaro, 2021

5) Grabka/Halbmeier, 2019

6) seit 2015, Shtini, 2021

7) Sell, 2021b

8) Handelsblatt Morning Briefing vom 13.10.2021

9) vgl. Krugman/Obstfeld, 2009, S. 850

10) Sell, 2021a

Literaturverzeichnis

Amaro, S. (2021), European Central Bank sets its inflation target at 2% in new policy review. www. cnbc.com/2021/07/08/ecb-lagarde-presents-first-policy-review-in-almost-two-decades.html.

Goodhart, C./Pradhan, M. (2020), The great demographic reversal: Ageing societies, waning inequality, and an inflation revival, Macmillan Publishers.

Grabka, M./Halbmeier, C. (2019), Vermögensungleichheit in Deutschland bleibt trotz deutlich steigender Nettovermögen anhaltend hoch, in: DIW-Wochenbericht Nr. 40, S. 736-745.

Handelsblatt (2021), Handelsblatt Morning Briefing vom 13.10.2021.

Krugman, P. R./Obstfeld, M. (2009), Internationale Wirtschaft. Theorie und Politik der Außenwirtschaft. 8., aktualisierte Auflage. München/Boston/San Francisco: Pearson Studium.

Nöh, L./Rutkowski, F./Schwarz, M. (2020), Auswirkungen einer CO2-Bepreisung auf die Verbraucherpreisinflation, Working Paper, 03/2020, May 2020, Germany Council of Economic Experts.

Sell, F. L. (2021a), Flexibles Inflationsziel für die Geldpolitik: nur neuer Wein in alten Schläuchen? In: Wirtschaftsdienst, 101. Jg., Heft 1/Januar 2021, pp. 58-62.

Sell, F. L. (2021b), Ist das neue Inflationsziel der EZB noch zeitgemäß? In: Zeitgespräch: Inflation nach Corona: Sind die Sorgen berechtigt? Wirtschaftsdienst, 101. Jg., Heft 9/September 2021, pp. 688-691.

Shtini, F. (2021), Die Metamorphose der Geldpolitik der EZB: Wie haben sich die Instrumente und die geldpolitischen Transmissionsmechanismen der EZB seit der Finanzkrise von 2007 verändert? Mimeo, Neubiberg.

Sinn, H.-W. (2020), Covid-19 and Europe's Miraculous Multiplication of Money. Weinachtsvorlesung. ifo Institute, 14.12.2020. Online verfügbar unter https://www.ifo.de/en/lecture/2020/christmas-lecture/Covid-19- %20and-Multiplication-of-Money, zuletzt geprüft am 17.09. 2021

Prof. Dr. Friedrich L. Sell , Professor em. für VWL , Universität der Bundeswehr München, Neubiberg
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