Die Welt im Wandel - ein Blick in die Zukunft der Finanzindustrie

Dr. Gunnar Jansen, Foto: G. Jansen (Vera Wirth Fotografie)

Das Merkblatt der BaFin zum Umgang mit ESG- Risiken vom 20. Dezember 2019 fordert eine Überprüfung der angemessenen Berücksichtigung der wesentlichen Nachhaltigkeitsrisiken in den unternehmensindividuellen Stresstests. Die jüngsten durch das Corona-Virus bedingten oder zumindest begünstigten protektionistischen Entwicklungen zeigen für weite Teile der Wirtschaft, dass ökologischere, nachhaltigere und krisenfestere Produktions- und Lieferketten unausweichlich werden. Konkrete (Gegen-)Steuerungsmaßnahmen im Vorfeld stellen das originäre Ziel von Stresstests respektive Szenarioanalysen dar. In dem vorliegenden Beitrag skizzieren die Autoren den notwendigen Wandel für die Finanzindustrie am Beispiel der aktuellen Krisen und neuer aufsichtlicher Stresstestanforderungen und geben dabei einen Ausblick auf eine unausweichlich nachhaltigere Finanzindustrie. Zudem stellen sie einen pragmatischen Ansatz zur Erhöhung der Stressresistenz und zur Weiterentwicklung der zukunftsgerichteten Steuerungsansätze für die Finanzindustrie vor. (Red.)

Noch 2019 wurde der Begriff "Klimahysterie" von zahlreichen Personen des öffentlichen Lebens zur Kritik an einer zunehmend besorgten Befassung mit dem Klimawandel und seinen Folgen verwendet. Dieser Begriff dürfte vermutlich bald weitgehend aus dem öffentlichen Sprachgebrauch verschwinden. Und dieses ist sicher weniger auf die Kür zum "Unwort des Jahres" 2019 zurückzuführen, denn auf die realen Bedrohungen durch den Klimawandel. So warnt das Weltwirtschaftsforum (WEF) Mitte Januar 2020 deutlich vor den Risiken und Folgen des Klimawandels für die Weltwirtschaft. Zum ersten Mal sind die fünf größten globalen Risiken laut einem Bericht, für den 750 Experten und Entscheidungsträger aus der Weltwirtschaft befragt wurden, allesamt Umweltrisiken: Extreme Wetterereignisse, Naturkatastrophen, Artensterben, Umweltkatastrophen und Versagen bei der Eindämmung der Erderwärmung.

Gegenwärtig wird ein weiteres Risiko sichtbar, das in dieser Aufzählung noch keinen Einzug gefunden hat - sofern man es nicht als Natur- oder Umweltkatastrophe auffassen mag: Pandemien haben das Potenzial, die Weltwirtschaft nachhaltig in eine drastische Rezession zu stürzen. Dieses wird durch die internationalen Verflechtungen einerseits und die in der Pandemiebekämpfung notwendigen Einschränkungen in Produktion, Lieferung, Mobilität und damit in Angebot und Nachfrage andererseits zur Krisenbekämpfung ersichtlich, wie im Falle des neuen Corona-Virus Covid-19 bereits dramatisch zu beobachten.

Gleichzeitig steigt allerdings auch das allgemeine Bewusstsein für Nachhaltigkeit. In der Finanzindustrie beispielsweise besitzen Chancen und Risiken durch Veränderungen aus Umweltaspekten, sozialen Aspekten und Unternehmensführung für viele Investoren, Kunden, Geschäftspartner, Standardsetzer sowie Regulierungsbehörden mittlerweile eine sehr hohe Priorität. Nachhaltigkeit scheint zu dem Thema der Finanzindustrie zu werden. Bedeutung, Komplexität und Zeitkritikalität des Themas erfordern es zudem, schnell anzupacken.

Insbesondere die in der Öffentlichkeit sehr intensiv diskutierten klimabezogenen Risiken und aktuelle Krisen- beziehungsweise Stressszenarien wie im Falle des neuen Corona-Virus, dem ersten echten Stresstest seit der Finanzkrise 2008, stehen im Finanzsektor neuerdings und vollkommen berechtigt im Fokus. Doch die Unsicherheit über die geeignete Vorgehensweise zum Beispiel in den Kreditinstituten ist aufgrund der neuartigen Rahmenbedingungen und der immer sichtbareren Zukunftsfragen groß. Sicher scheint zu sein: Die Dynamik besonderer Ereignisse nimmt zu und auch nach der Corona-Pandemie werden Nachhaltigkeitsthemen, allein schon aufgrund der Herausforderungen des Klimawandels, immer wichtigerer Bestandteil der Weltwirtschaft mit entsprechenden Chancen und Gefahren auch für das Finanzsystem.

Unternehmen stehen vor vielen Fragen

Die Übersetzung dieser klar erkennbaren Entwicklungen in konkrete, pragmatische Unternehmenssteuerung gestaltet sich allerdings weit weniger evident. Viele Unternehmen stellen sich unter anderem folgende Fragen: Welche Bandbreite können die Auswirkungen der globalen Klimaveränderungen eigentlich einnehmen? In welchem Verhältnis stehen den Risiken auch Chancen gegenüber? Ist mein Geschäftsmodell gefährdet und muss ich mich neu positionieren? Deckt meine (Risiko-)Strategie noch alle Facetten ab? Welche Szenarien können eintreten und welche Szenarien kann ich noch verkraften? Welche Informationen benötige ich für meine Entscheidungen und welche Mitarbeiter muss ich einbinden?

Positiv in diesem Zusammenhang ist, dass die Deutsche Bundesbank und die Europäische Zentralbank derzeit zusammen mit dem Europäischen Ausschuss für Systemrisiken und dem neuen Network for Greening the Financial System (NGFS) an Szenarien für klimabezogene Stresstests, die Unternehmen an sich selbst durchführen müssen, arbeiten. Die Transitionsrisiken, sprich Risiken, die beim Übergang in eine nachhaltige Wirtschaftswelt entstehen, können sehr kurzfristig auftreten: Kohleausstieg und CO2 -Steuer setzen Unternehmen unmittelbar unter Druck. Aber auch Extremwetterereignisse wie Hitzeperioden, die zum Zusammenbruch von Lieferketten führen können, hinterlassen Spuren. Doch warum ist die Aufnahme dieser Nachhaltigkeitsaspekte in Stresstests in der Finanzindustrie bereits vor der Pandemie durch das Corona-Virus ein so wichtiges, gestalterisches Signal?

Die Antwort lautet: Ein ernst zu nehmender Aufbau dieser - zunächst vor allem stressbezogenen - Szenarien sowie eine anschließende Prüfung durch die Aufsicht bewirken unmittelbar, dass die Institute zwangsläufig eine höhere Nachhaltigkeit in ihrem Portfolio und ihrem Geschäftsmodell sicherstellen müssen. Nur so können sie den neuen Stresstests standhalten.

Für ein nachhaltiges Geschäftsmodell sind über umweltbezogene Aspekte hinaus Risiken aus der eigenen sozialen Verantwortung und der Unternehmensführung zu betrachten. Welche Auswirkungen können globale gesellschaftliche Themen wie zum Beispiel Bevölkerungswanderungen, Bildungsungleichheiten, Arbeitsbedingungen, Ungleichbehandlungen, Meinungseinschränkungen auf meine Geschäftstätigkeit haben? Wie stark kann die Reputation meines Unternehmens leiden, wenn ich nicht alles getan habe, um alle Gesetze einzuhalten und mit meinen Stakeholdern vertrauensvoll zu kommunizieren? Wenn die Finanzindustrie in diesen Fragen sowie zur Lösung beziehungsweise Vermeidung neuer Krisen einen wichtigen Beitrag leisten und verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen will, haben die Case Manager der Institute keine Zeit zu verlieren und sollten sich schnell mit dem Aufbau und der Umsetzung von ESG-Analysen auseinandersetzen.

Im Folgenden soll kurz auf den aufsichtlichen Rahmen und die neuen Entwicklungen auf dem Gebiet der Nachhaltigkeitsanalysen in der Finanzindustrie eingegangen werden. Sowohl europäische Standardsetzer als auch nationale Regulierungsbehörden beschäftigen sich - wie einleitend angedeutet - bereits seit einiger Zeit und unabhängig von der Pandemie durch das neue Corona-Virus mit der Forderung nach einer Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in übergreifende und institutsindividuelle Stresstests.

So hatte im Mai 2019 der Exekutivdirektor Bankenaufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), Raimund Röseler, bestätigt, dass Klima- und Nachhaltigkeitsrisiken perspektivisch Eingang in den EBA-Stresstest finden werden und dieser im Jahr 2022 oder 2024 entsprechende Elemente beinhalten könnte.

Spezieller Stresstest zum Klimawandel

Im Dezember 2019 hat die European Banking Authority (EBA) einen Aktionsplan zur nachhaltigen Finanzierung vorgelegt, der sowohl anstehende Regulierungsmaßnahmen als auch Erwartungshaltungen der EBA zum Umgang insbesondere mit Klimarisiken in Instituten definiert. Zwischen 2019 und 2025 sieht der Aktionsplan umfangreiche Arbeiten zu ESG- beziehungsweise vor allem Klimarisiken vor. Zunächst wird sich die EBA auf das Strategie- und Risikomanagement und die damit verbundenen Schlüsselkennzahlen sowie die Offenlegung konzentrieren. Im Anschluss soll ein spezieller Stresstest zum Klimawandel entwickelt werden.

Ende 2019 hat die BaFin die finale Fassung des seit September konsultierten Merkblatts zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken veröffentlicht. Die BaFin sieht ihr Merkblatt als Kompendium sinnvoller, aber unverbindlicher Verfahrensweisen (Good-Practice-Ansätze). Die BaFin erwartet, dass die beaufsichtigten Unternehmen eine Auseinandersetzung auch mit Nachhaltigkeitsrisiken sicherstellen und dies dokumentieren. Auch wenn die BaFin zunächst nicht das Ziel verfolgt, konkrete Prüfungsanforderungen zu formulieren, kündigt sie an, dass entsprechende, später auch prüfungsrelevante Vorgaben in Umsetzung von europäischen Verordnungen, Richtlinien und Leitlinien auf die beaufsichtigten Unternehmen zukommen werden. Entsprechend sind in den von der EZB und BaFin kommunizierten Aufsichtsschwerpunkten für das Jahr 2020 auch keine konkreten Anforderungen genannt. In ihrem Merkblatt widmet die BaFin dem Thema "Risikomanagement: Stresstests einschließlich Szenarioanalysen" ein eigenes Kapitel. Die BaFin stellt klar, dass (unternehmensindividuelle) Stresstests insbesondere Sensitivitäts- und Szenarioanalysen zur Untersuchung der Widerstandsfähigkeit des Unternehmens infolge widriger Ereignisse oder Szenarien, verursacht durch physische sowie transitorische Risiken, umfassen können.

Die BaFin verfolgt nach eigenen Angaben mit ihrem Merkblatt zunächst nicht das Ziel, konkrete Prüfungsanforderungen zu formulieren. Gleichzeitig kündigt sie jedoch an, dass entsprechende, später auch prüfungsrelevante Vorgaben zur Umsetzung von europäischen Verordnungen, Richtlinien und Leitlinien auf die beaufsichtigten Unternehmen zukommen werden. Letzteres wird die bereits jetzt vorhandene ökonomische und ökologische Notwendigkeit der Transformation in nachhaltigere Geschäftsmodelle durch formal-juristische Anforderungen komplettieren.

Pragmatische Umsetzung

Daher ist auch für die als "Orientierungshilfe" zu verstehenden Hinweise in Bezug auf Stresstests (einschließlich Szenarioanalysen) aktuell eine koordinierte, projekthafte Umsetzung zu empfehlen. Dies schließt ein pragmatisches Vorgehen nicht aus. Wichtig ist, die Themen jetzt und damit noch vor der aufsichtlichen Regelungs- und Prüfungspraxis anzugehen, die (Zwischen-)Ergebnisse umzusetzen und diese sowie das eigene Bestreben nach größtmöglicher Nachhaltigkeit erkennbar zu dokumentieren.

Im Folgenden soll kurz auf die wesentlichen Aspekte eingegangen werden, um pragmatische Umsetzungsmöglichkeiten in dem neuen Themenfeld der Nachhaltigkeit zu motivieren und begünstigen.

Methoden und Risikomodellierung

Es ist davon auszugehen, dass die meisten Institute im Rahmen ihrer Ist-Analyse noch zu dem Ergebnis kommen, dass ESG-Risiken in den aktuellen Belastungsszenarien beziehungsweise Stresstests nicht oder nur geringfügig berücksichtigt werden. Denn die bisherige Stresstestkonzeption sah vor, unmittelbar mit dem Geschäftsmodell verbundene ökonomische Risiken in den Vordergrund zu stellen. Risiken aus den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung standen in der Vergangenheit weniger im Fokus. Nicht zuletzt aufgrund der aufsichtsrechtlichen Fokussierung im Rahmen von Stresstests, vor allem aber aufgrund der Zeichen der Zeit, scheint es überfällig mit dem Aufbau eigener ESG-Analysen und -Szenarien zu beginnen.

Weil es zu den Auswirkungen der Erderwärmung und des Artensterbens keine historische (Finanz-)Datengrundlage gibt und viele Faktoren deshalb schwierig zu messen und zu steuern sind, werden derzeit mit Hochdruck durch Start-ups, große Finanzinstitute und Beratungsunternehmen neue Mess-, Steuerungs- und Risikominderungsinstrumente entwickelt sowie Forschungseinrichtungen und Klimawissenschaftler für die finanzielle Risikoanalyse eingespannt.

Auch für Reputationsschäden und daraus möglicherweise resultierenden Refinanzierungsschäden aus dem ESG-Aspekt "Soziales" sowie Rechtsschäden aus dem ESG-Aspekt "Unternehmensführung" können Messmethoden auf Basis interner und externer Schadenfalldatenbanken ermittelt werden. So sahen sich zuletzt diverse Finanzinstitute Compliance-Vorfällen und Rechtsstreitigkeiten, ausgelöst durch Betrug, Geldwäsche, Marktmanipulation oder fehlerhafter Beratung mit folgenschweren Verlusten, Kompensations- und Strafzahlungen sowie substanziellen Reputationsschäden ausgesetzt. Die praktische Herausforderung für die Entwicklung einer geeigneten Methodik und Risikomodellierung liegt jedoch zunächst darin, die nichtfinanziellen Risiken soweit wie möglich stringent aus dem Geschäftsmodell beziehungsweise der Geschäftsstrategie abzuleiten. Außerdem sollte eine zentrale Steuerung konsistente Abfragen und Bewertungen der Risiken in den Fachabteilungen ermöglichen und gegebenenfalls ein zielgerichtetes und/ oder integriertes Berichtswesen aufgebaut werden.

Unterschiedliche Ausprägungen der Risikofaktoren

Ziel ist es, eine Bewertungsmethodik zu entwickeln, die mit der für finanzielle Risiken vergleichbar, zumindest jedoch überleitbar ist. Stresstests müssen grundsätzlich mit einem Scope auf unterschiedlichen Aggregationsstufen durchgeführt werden. Beginnend mit Sensitivitätsanalysen bei einzelnen Portfolios (zum Beispiel Umweltrisiken in Küstengebieten) über Stresstests auf Risikoartenebene (zum Beispiel Rechtsrisiken aus der eigenen Unternehmensführung) bis hin zu instituts- oder gruppenweiten Stresstests (zum Beispiel Reputationsrisiken im Zusammenhang mit "Sozialaspekten") müssen alle Stufen abgedeckt werden.

So sind für die Durchführung von Sensitivitätsanalysen zunächst die wesentlichen Risikofaktoren zu identifizieren. Dies können für die ESG-Risiken zum Beispiel die Branchen und Standorte der Kreditnehmer (Umweltaspekte), die Internationalität der Finanzierungen (Sozialaspekte) und die Regulierungsdichte des eigenen Instituts (Unternehmensführung) sein. Außerdem sind die unterschiedlichen Ausprägungen der Risikofaktoren (zum Beispiel Schweregrad der Extremwetterereignisse, Entwicklungsstand der sozialen Standards, Detaillierungsgrad der gesetzlichen Vorgaben) zu berücksichtigen, um Nichtlinearitäten als auch Schwellenwerte beziehungsweise Kipppunkte eines Risikofaktors zu identifizieren. So können im Anschluss die Risikofaktoren in gestresste Risikoparameter (zum Beispiel dem Zusammenhang zwischen dem Anstieg von CO2-Emissionen und Ausfallwahrscheinlichkeiten, dem Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Bewertung von Banken/der Bank und Reputationsrisiken, dem Zusammenhang zwischen staatsschutzlichen beziehungsweise aufsichtlichen Maßnahmen und Rechtsrisiken durch sogenannte Satellitenmodelle) transformiert werden.

Im Gegensatz zu Sensitivitätsanalysen bauen Szenarioanalysen auf detailliert konzipierten Szenarien auf, die im Falle von Stresstests einen makroökonomischen oder idiosynkratischen Schock beinhalten (siehe folgende Beispiele). Im Rahmen der Szenariokonzeption sind neben historischen Ereignissen insbesondere mögliche zukunftsgerichtete Ereignisse mit Einfluss auf sämtliche institutsrelevante Risikofaktoren zu berücksichtigen. Darüber hinaus sind neben internen Daten auch externe Informationen, die perspektivisch aus öffentlichen Datenbanken über zum Beispiel CO2-Emissionen, Unfallraten und Todesfällen bezogen werden können, in die Betrachtung mit einzubeziehen.

E-, S- und G-Szenarien berücksichtigen

Umweltaspekte: Ein mögliches Szenario unterstellt beispielsweise einen starken Preisanstieg für CO2 -Emissionen, der durch ein akutes Extremwetterereignis ausgelöst wird. Konkretes Ereignis könnte ein Hurrikan sein, der auf die norddeutsche Küste trifft. Neben den erheblichen direkten Schäden der Infrastruktur erfolgte ein Umdenken der Zivilgesellschaft und der internationalen Politik. Das Ereignis würde in einem direkten Zusammenhang mit dem Klimawandel gesehen werden. Als Folge würden drastische Preiserhöhungen für CO2 -Emissionen durchgesetzt. Neben den bereits durch den Hurrikan direkt finanziell stark betroffenen Unternehmen, Projekten und Objekten steigt aufgrund der zusätzlichen Belastung entsprechend auch die Ausfallwahrscheinlichkeit der karbonisierten Unternehmen.

Sozialaspekte: Ein mögliches Szenario unterstellt exemplarisch eine sehr gesellschaftskritische Bewertung der Banken, welcher zum Beispiel durch einen schweren Verstoß gegen den geschäftspolitischen Auftrag ausgelöst werden könnte. Unterstellt werden könnte beispielsweise, dass eine Institutsgruppe im Kontext protektionistischer Tendenzen eine größere Summe zum Beispiel an eine Partei spendet, der später extremistische oder stark sozial- oder umweltbelastende Aktivitäten nachgewiesen werden. Dieses würde zu erheblichen Reputationsschäden für die Gruppe führen und könnte sich auf große Teile des Sektors ausdehnen.

Unternehmensführung: Ein mögliches Szenario unterstellt beispielsweise erhebliche staatsschutzliche beziehungsweise aufsichtliche Maßnahmen, welche durch gravierende Führungs- und Managementfehler des Unternehmens ausgelöst werden können. Unterstellt werden könnte, dass das Institut die Wartung des Kernbankensystems ohne ausreichende vertragliche Grundlage und entsprechende Kontrollen an einen fremden Dienstleister ausgelagert hat und durch ein Datenleck beim Dienstleister sämtliche Kundendaten der Bank öffentlich zugänglich sind. Ein solches Szenario würde neben den staatsschutzlichen beziehungsweise aufsichtlichen Maßnahmen auch zu hohen Schadenersatzforderungen von möglichen Klägern und entsprechenden Rechtsrisiken führen.

Bei inversen Stresstests wird analysiert, welche Ereignisse das Institut in seiner Überlebensfähigkeit gefährden könnten. Die Überlebensfähigkeit eines Instituts ist dann als gefährdet anzunehmen, wenn sich das ursprüngliche Geschäftsmodell als nicht mehr durchführbar beziehungsweise tragbar erweist. Diese Analyse sollte auch in Verbindung mit den ESG-Belastungsszenarien durchgeführt werden.

Abschätzung schwierig

Die aktuellen konjunkturellen Schätzungen als Folge der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie zeigen dabei eine neue methodische Herausforderung bei der Parametrisierung von Stresstests auf, die nicht mit phänomenologischen beziehungsweise analytischen Sichtweisen allein gelöst werden können. Bei diesem exogenen (außerwirtschaftlichen) Schock haben wir es mit Faktoren zu tun, die nicht unmittelbar mit der Wirtschaft zusammenhängen. Entsprechend schwer wird es sein, den Schweregrad, die Dauer und den Verlauf der wirtschaftlichen Krise zu schätzen und in Szenarien zu modellieren. So rechnet zum Beispiel das Institut für Weltwirtschaft (IfW), Kiel, als Folge des Corona-Virus mit einem harten Konjunktureinbruch, gefolgt von einer starken Gegenbewegung. Ein solcher konjunktureller V-Effekt (Wunschszenario, bei dem die Wirtschaft nur kurz einbricht, um sofort wieder das alte Niveau zu erreichen) sei auch für den Euroraum und die Weltkonjunktur zu erwarten.

Demgegenüber hält das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin, auch ein wirtschaftlich viel ungünstigeres L-Szenario (langwierige Produktionsstörungen, nachhaltiger Nachfragerückgang) für möglich. Zunächst geht es steil bergab, dann bleibt die Linie bis auf Weiteres auf dem niedrigen Niveau, ein Aufschwung findet also vorerst nicht statt. Darüber hinaus ist grundsätzlich noch ein U-Verlauf (der wirtschaftliche Rückschlag dauert gegenüber dem V-Szenario länger) oder ein W-Verlauf (nach kurzem wirtschaftlichen Rückschlag erholt sich die Wirtschaft während der wärmeren Jahreszeit für kurze Zeit, um sich dann wieder zu verschlechtern) denkbar.

Insgesamt dürfte zum derzeitigen Stand die Entwicklung von ESG-Belastungsszenarien aufgrund vieler unklarer Parameter komplexer sein als herkömmliche Stresstests mit entsprechendem Spielraum für methodische Freiheiten. Als wichtiges Zwischenfazit lässt sich bereits an dieser Stelle festhalten, dass auch das herkömmliche institutsindividuelle Know-how beziehungsweise Spektrum in Bezug auf Stresstests zu erweitern ist, da nunmehr eine völlig neue, nicht rein ökonomische, sondern vor allem umweltbezogene Sichtweise erforderlich ist.

Prozesse und Governance

Es liegt auf der Hand, dass spätestens mit der Ausweitung auf ESG-Belastungsszenarien ein konsistentes Krisenmanagement nur unternehmensweit und ganzheitlich umgesetzt und prozessual verankert werden kann. Dabei könnte die Federführung für ein entsprechendes strategisches Risikomanagement im Sinne eines Enterprise-Risk-Management-Ansatzes auf ein zentrales Case-Management übertragen werden. So kann sichergestellt werden, dass Stresstesting und Steuerung auf Gesamtunternehmensebene erfolgen und nicht isoliert für einzelne Geschäftsbereiche und Risikoarten.

Risikosteuerung und Stressmanagement könnten zentral durchgeführt werden, neben den Risiken können auch Chancen identifiziert und untersucht werden. Zunehmend wird jedoch weitere Fachexpertise in Form einer laufenden Beratung oder durch internalisiertes Knowhow benötigt, insbesondere für die Umwelt- und Sozialaspekte.

Allerdings sind mit dem Aufbau von (neuen) ESG-Belastungsszenarien auch einige besondere Herausforderungen zu lösen. Insbesondere bei den Umwelt- und Sozialaspekten liegen keine ausreichenden internen und externen Zeitreihen vor. Aus historischen Ereignissen und Analysen, die per se im Kontext zukunftsgerichteter Analysen sehr fraglich sind, kann bei diesen neuen Themen nur schwer auf die Auswirkungen auf das aktuelle und künftige Portfolio geschlossen werden. Ein möglicher prozessualer Ansatz könnte daher darin bestehen, die betroffenen Portfolios zunächst expertenbasiert zu analysieren und zu bewerten. So können die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen finanziellen und nichtfinanziellen Risiken identifiziert und geschätzt werden. Ziel ist es, über eine ganzheitliche Sichtweise die Transparenz in die komplexen Ursache-Wirkung-Beziehungen zu erhöhen.

Stresstests spielen aufgrund der hohen Bedeutung des ICAAP, des ILAAP und der Sanierungsplanung sowie im Zusammenhang mit der Kapital- und Liquiditätsplanung eine wesentliche Rolle im Risikomanagement und in der Gesamtbanksteuerung. Die Verantwortung für die Umsetzung von Stresstests trägt daher das Leitungsorgan des Instituts. Um dieser Verantwortung gerecht werden zu können, müssen die Mitglieder des Leitungsorgans die Auswirkungen von Stressereignissen auf das Gesamtrisikoprofil des Instituts vollständig verstehen, um auf dieser Basis Entscheidungen über die Weiterentwicklung des Geschäftsmodells und der Risikokultur sowie mit den einhergehenden Planungsaktivitäten zu treffen.

Im Zusammenhang mit dem neuen BaFin-Merkblatt sind daher von der Geschäftsleitung des Instituts in Bezug auf die Themen Risikomanagement/Stresstests in einem ersten Schritt unter anderem praktische Überlegungen zu folgenden Fragestellungen durchzuführen: Relevanz für das Geschäftsmodell/Gesamtrisikoprofil, Betroffenheit von Portfolios/Geschäftsaktivitäten/internen Verantwortlichkeiten, Aufbau gänzlich neuer Belastungsszenarien, Aufbau eines institutseigenen ESG-Know-hows, Integration der Erkenntnisse in die Planungs- und Steuerungsprozesse (Risikotragfähigkeit, Kapitalplanung unter anderem).

Beitrag der Finanzindustrie

Abschließend sei kurz auf einen weiteren wichtigen Aspekt eingegangen, um die Tragweite dieser neuen aufsichtlichen Schwerpunktsetzung noch einmal hervorzuheben. Nicht zuletzt aufgrund der Corona-Pandemie und der bereits sichtbaren Folgen der Erderwärmung stellt sich die Frage, ob diese neuartigen Analysen und Stresstests als so hypothetisch abgetan werden können, wie es möglicherweise latent bei den herkömmlichen Stresstests der Fall war. Es ist stark anzunehmen, dass die Frequenz und Dimension der neuen Krisen ausschließlich den Schluss zulassen, dass dieses zu verneinen ist. In diesem Fall werden die neuen Nachhaltigkeitsaspekte integraler Bestandteil der Unternehmenssteuerung. Und wenn die Bedeutung dieser Analysen als so groß angesehen wird, wie es das derzeitige Umfeld erahnen, mindestens aber erhoffen lässt, werden damit schließlich Portfolios, Geschäftsprozesse und Geschäftsmodelle der Finanzindustrie deutlich nachhaltiger sein müssen als bisher - allein schon um robust genug gegenüber den Zukunftsszenarien zu sein, wie sie die neuartigen Anforderungen am Beispiel der Stresstests für Finanzinstitute fordern.

Der Beitrag zeigt anhand der aktuellen Krisen und der Aktivitäten der Aufsicht auf, dass die Finanzindustrie zukünftig unweigerlich einen signifikanten Beitrag leisten muss, sich selbst und die Wirtschaft deutlich nachhaltiger aufzustellen. Am Beispiel des Stresstestings wird verdeutlicht, dass die Kreditinstitute zukünftig stärker in der Verantwortung stehen und dass zahlreiche Fragestellungen im Zusammenhang mit den (neuen) Themen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung zu beantworten sind. Besondere, konkrete Herausforderungen liegen aufgrund der Neuartigkeit der Anforderungen insbesondere im Aufbau der Methodenkompetenz und der Integration des Stresstestings in die Gesamtbanksteuerung.

Eine offene und transparente Kommunikation der Nachhaltigkeitsaktivitäten mit den Stakeholdern unterstützt die Vertrauensbildung, ermöglicht eine frühzeitige Reflexion der Geschäfts- und Risikostrategie, fördert die Risikokultur und damit auch die eigene Nachhaltigkeit. Anpassungen im Geschäftsmodell zur langfristigen Positionierung werden über eine zwingend größere Stressresistenz gegenüber erkennbare Krisen dieser Zeit unausweichlich sein und somit - dem geschäftspolitischen Auftrag der Banken als Finanzintermediär folgend - einen Beitrag für eine insgesamt robustere, nachhaltigere Wirtschaft leisten. Verliert jedoch die Finanzindustrie in diesem (dem) Zukunftsthema den Anschluss, würde sie wohl ihre Rolle als moderne und gestalterische Industrie nachhaltig aufgeben müssen.

Die in diesem Artikel geäußerten Auffassungen und Einschätzungen sind die der Autoren und müssen nicht notwendigerweise mit denen der NORD/LB übereinstimmen.

Fußnoten

1) Hebel, Stephan: "Klimahysterie": Die Wahl stärkt Greta Thunberg und Fridays for Future, Frankfurter Rundschau, 14. Januar 2020

2) ntv, "Selbst für Davos ist Klima nun größte Gefahr", 15. Januar 2020

3) Betz, Christoph/Kasprowicz, Thilo et al. (KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft), in: RiskNet, 20. Januar 2020

4) Dombret, Andreas (Oliver Wyman), in: Handelsblatt, 2. März 2020

5) Schulzki-Haddouti, Christiane, "Finanzbranche rüstet sich für den Klimastresstest", in: Golem.de, 2. Oktober 2019

6) Jansen, Gunnar/Klose, Stefan: "Die neuen Perspektiven eines Case Managers in der Unternehmenssteuerung", in Risiko Manager, Heft 10/2019

7) Aehling, Martin: Nachhaltiges Risikomanagement, in SparkassenZeitung. 17. Mai 2019

8) EBA, Action plan on sustainable finance, 6. Dezember 2019

9) Siehe Betz, Christoph/Kasprowicz, Thilo et al., 2020

10) BaFin - Merkblatt zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken, 20. Dezember 2019

11) Siehe Schulzki-Haddouti, Christiane, 2019

12) Uhlenberg, Jan-Hendrik/Mayer, Andreas (Q_PE-RIOR AG): "Optimierung des Non-Financial-Risk-Managements (NFRM)", 17. Januar 2020

13) Stepanek, Christian/Schupp, Matthias (1Plusi): "EBA Guidelines on institution's stress testing", August 2018

14) Institut für Weltwirtschaft: "Konjunkturprognose: BIP dürfte 2020 schrumpfen", 12. März 2019

15) Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Pressemitteilung, 19. März 2020

16) Siehe Jansen, Gunnar/Klose, Stefan, 2019

17) Siehe Stepanek, Christian/Schupp, Matthias, 2018

Dr. Gunnar Jansen Leiter Marktrisiko/Bewertungsmethoden, Nord/LB, Norddeutsche Landesbank Girozentrale, Hannover
Stefan Klose Stellvertretender Leiter Marktrisiko/ Bewertungsmethoden, Nord/LB, Norddeutsche Landesbank Girozentrale, Hannover
Dr. Gunnar Jansen , Unternehmensberater und Dozent, Genossenschaftsverband Weser-Ems e.V., Lehrbeauftrager Universität Oldenburg
Stefan Klose , Stellvertretender Leiter Marktrisiko/ Bewertungsmethoden, Nord/LB, Norddeutsche Landesbank Girozentrale, Hannover

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