Wohlstand für alle - nur noch eine Erinnerung?

Frank Werneke, Foto: Kay Herschelmann

Soziale Marktwirtschaft ist ungleich dem Sozialstaat. Entgegen der Meinung vieler, die in der sozialen Marktwirtschaft heute einen gemäßigten Kapitalismus sehen, der ein enges Sicherungsnetz für die Einkommensschwachen knüpft und Großunternehmern wie reichen Individuen gewisse Grenzen setzt, stand sie für die Entfesselung des Marktes: "Je freier die Wirtschaft, umso sozialer ist sie auch.", so Ludwig Erhard. Dieses Prinzip musste, so Frank Werneke, mit dem Sozialstaat überwunden werden, um tatsächlich "Wohlstand für alle" zu erreichen. Nach einer zunehmenden Erosion des Sozialstaates in den letzten 30 Jahren müsse jetzt wieder zu einem Staat zurückgekehrt werden, der mehr leistet und ausgibt als nur das Mindeste. Denn der Staat mit seinen Dienstleistungen, der Bereitstellung von Infrastruktur und Sicherungsnetzen sei der Garant für eine faire Ausgangsposition für alle. Ein wahrhaft sozialer Staat. (Red.)

"Wohlstand für Alle" - das Buch von Ludwig Erhard und sein Foto samt Buch und Zigarre stehen für die Aufbruchstimmung und wirtschaftliche Entwicklung in den jungen Jahren der Bundesrepublik, das sogenannte "Wirtschaftswunder": In den 1950er-Jahren verdoppelte sich das preisbereinigte Sozialprodukt, in den 1960er-Jahren vergrößerte sich dieser Kuchen nochmals um das 1,5-Fache. Der Wirtschaftsboom fegte den Arbeitsmarkt leer, die Löhne stiegen und das soziale Netz wurde engmaschiger. Armutsfeste Renten, erschwinglicher Wohnraum, ein bezahlbares Gesundheitswesen und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall waren soziale Errungenschaften dieser Zeit - die zwar nicht wirklich Wohlstand für alle, aber soziale Sicherheit und Aufstieg für einen Großteil der Bevölkerung brachten.

Und Erhard, erst Wirtschaftsminister und später Bundeskanzler, galt als Vater der "sozialen Marktwirtschaft" - ein Begriff, der heute gedanklich oftmals mit dem des Sozialstaats verbunden wird. Allerdings: Die "soziale Marktwirtschaft" ist eine Wortschöpfung der ordoliberalen Freiburger Schule und hatte mit Sozialstaatlichkeit wenig gemein. Vielmehr sollten die soziale Sicherung auf Armutsfürsorge beschränkt und Konzerne und Gewerkschaften entmachtet werden, um "faire Wettbewerbsbedingungen" herzustellen. Erhard bekämpfte die Montan-Mitbestimmung und wollte die Gewerkschaften unter das Kartellgesetz stellen.

Säulen des Sozialstaats

Der westdeutsche Wohlfahrtsstaat war also kein Ergebnis ordoliberaler Politik. Die sozialen Errungenschaften, die "Wohlstand für alle" - beziehungsweise für viele - ermöglichten, mussten vielmehr gegen diese Politik erkämpft werden. Gewerkschaften, Sozialdemokratie und der Arbeitnehmerflügel der Unionsparteien erkämpften über die Jahre eine stärkere soziale Sicherung, eine humanere Arbeitswelt, den Ausbau des Bildungs- und Gesundheitswesens und die Stärkung der Mitbestimmung.

Und dieser Sozialstaat legte den Grundstein für den wirtschaftlich erfolgreichen Rheinischen Kapitalismus: für eine spezialisierte Industrie, die technisch hochwertige Güter produzierte und für eine Automobil-, Chemie- und Pharmaindustrie und einen Maschinenbau, die kontinuierlich ihre Erzeugnisse verbesserten und in alle Welt verkauften, während die internationale Nachfrage nach deutschen Premiumautos, Maschinen, Chemikalien und Medikamenten von ihrer hohen internationalen Wettbewerbsfähigkeit zeugte.

Bedingung für diese diversifizierte Qualitätsproduktion war eine Reihe institutioneller Säulen: Zunächst einmal die Bankenfinanzierung der Industrie, die organisches Wachstum förderte. Zweitens kooperative Arbeitsbeziehungen zwischen Unternehmensverbänden, Gewerkschaften und Staat: Flächentarifverträge beschränkten die Lohnkonkurrenz, sodass die Betriebe um die besten und innovativsten Produkte konkurrieren mussten, Betriebsräte und Arbeitnehmervertreter in Aufsichtsräten konnten die Unternehmensstrategien mitgestalten. Drittens das deutsche Ausbildungs-, Bildungs- und Weiterbildungssystem - es sorgte für eine hochqualifizierte Facharbeiterschaft, ohne die eine Qualitätsproduktion nicht möglich ist. Und viertens ein umfassender öffentlicher Sektor, der wichtige Infrastrukturdienstleistungen vorhält. Der Staat organisiert beispielweise die öffentliche Strom-, Wasser-, und Gasversorgung sowie den öffentlichen Nahverkehr und erbringt dadurch wichtige Vorleistungen für die private Wirtschaft. Gemeinsam schufen diese Säulen die Grundlage für den Wirtschaftsboom zu Beginn der Bundesrepublik.

Soziale Ungleichheit wächst

Heute haben wir eine völlig andere Situation. Von "Wohlstand für alle" sind wir weit entfernt: Die soziale Schere geht auseinander, das Armutsrisiko steigt ebenso wie die Altersarmut - und das bereits seit Jahren. Denn: Schon mit der ersten großen Öl- und Wirtschaftskrise endete das goldene Zeitalter des Sozialstaats. Nach dem Sturz der sozialliberalen Koalition 1982 kürzte die schwarz-gelbe Koalition Sozialausgaben und deregulierte den Arbeitsmarkt. Mit der deutschen Einheit wenige Jahre später nutzten viele Unternehmen die wirtschaftlichen Umbrüche, um den Sozialstaatskompromiss der Nachkriegszeit endgültig aufzukündigen. In den 2000er-Jahren vollzog Rot-Grün unter Kanzler Gerhard Schröder einen radikalen arbeitsmarkt-, sozial- und steuerpolitischen Kurswechsel.

Die Entfesselung des Arbeitsmarktes und der Umbau der sozialen Sicherungssysteme flutete das Land mit schlecht bezahlten und unsicheren Jobs. Atypische Beschäftigung - Leiharbeit, Minijobs, Teilzeit, Befristungen, Soloselbstständigkeit - wuchs zwischen 1997 und 2006 um rund 40 Prozent, es entstand einer der größten Niedriglohnsektoren Europas. Die Einführung von "Hartz IV" unterhöhlte die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung und wurde zu einer institutionellen Stütze des Niedriglohnsektors. Die größte Steuersenkung der Nachkriegsgeschichte verursacht noch heute jährliche Mindereinnahmen von 45 Milliarden Euro gegenüber dem Steuerrecht von 1998. Gleichzeitig übertrug der Bund den Kommunen immer mehr öffentliche Aufgaben, ohne diese ausreichend zu finanzieren.

Die politisch gemachte Krise des Steuerstaates ließ die Schulden wachsen. Öffentliche Ausgaben wurden stark gekürzt, der Sozialstaat auf Zwangsdiät gesetzt. Das ging zulasten der öffentlichen Infrastruktur: Die deutsche Volkswirtschaft fährt seit zwei Jahrzehnten auf Verschleiß. Allein der kommunale Investitionsstau beläuft sich auf 147 Milliarden Euro. Die Folgen sind unübersehbar: Kitas, Schulen und Universitäten benötigen künftig bis zu 45 Milliarden Euro jährlich, der Investitionsstau bei öffentlichen Krankenhäusern liegt bei 50 Milliarden Euro. Jedes Jahr müssten 400 000 neue Wohnungen - davon 100 000 Sozialwohnungen - gebaut werden.

Die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland ist marode, ein Fünftel der Autobahnstrecken und zwei Fünftel der Bundesfernstraßen müssen saniert werden. Großen Investitionsbedarf gibt es ebenso bei Breitband und Energieversorgung. Auch der Ausbau der öffentlichen und sozialen Dienstleistungen wurde vernachlässigt, mit der Folge, dass in Krankenhäusern und Pflegeheimen Pflegekräfte fehlen und der Fachkräftemangel auch in der frühkindlichen Erziehung und in Schulen groß ist. Auch im öffentlichen Nahverkehr müssen in den kommenden Jahren Zehntausende neue Beschäftigte eingestellt werden.

Während sich dies unmittelbar negativ auf die Lebensqualität eines Großteils der Bevölkerung auswirkt - auf die all jener, die auf funktionierende öffentliche Infrastrukturen angewiesen sind - hat der Rheinische Kapitalismus den Siegeszug der Aktionäre, die Globalisierung, den digitalen Wandel und die "schwarze Null" bisher gut überstanden. Die heimische Industrie ist technologisch hoch leistungsfähig. Industrie 4.0 und das Internet der Dinge machen den Industriestandort produktiver.

Erosion der Qualität

Man muss wohl sagen: noch. Denn die institutionellen Säulen der Qualitätsproduktion stehen unter Druck. Der unterfinanzierte Staat kann die Infrastruktur kaum mehr instand halten. Das deutsche Ausbildungs-, Bildungs- und Weiterbildungssystem ist wegen chronischer Unterfinanzierung den Anforderungen einer modernen Volkswirtschaft immer weniger gewachsen. Deutsche Schülerinnen und Schüler schneiden in internationalen Vergleichen vielfach nicht gut ab, ihr schulischer Erfolg ist stärker vom Elternhaus abhängig als in anderen Industrieländern. Kaum ein Viertel der Betriebe bildet noch aus, folglich fehlen vielen klein- und mittelständischen Unternehmen in naher Zukunft die Fachkräfte. Die Flächentarifverträge sind erodiert, nur noch jeder zweite Beschäftigte wird durch einen Tarifvertrag geschützt. Die Zahl der Unternehmen mit Betriebsrat und paritätisch besetztem Aufsichtsrat geht zurück. Der Investitionsstau bei Verkehr, Energie, Digitalisierung und Klimaschutz droht die Zukunftsfähigkeit des industriellen Kerns ernsthaft in Mitleidenschaft zu ziehen.

Auch in den Dienstleistungsbranchen, die insgesamt über 70 Prozent der heimischen Wertschöpfung verantworten, hat die Politik der leeren Kassen ihre Spuren hinterlassen. Sie wurden hierzulande nicht, wie in Skandinavien, durch eine aktive Dienstleistungspolitik zu hochproduktiven Sektoren entwickelt. Die Konsequenz: Im Einzelhandel, in den Krankenhäusern, in der Pflege, in der Logistik und anderen führen oftmals geringe Tarifbindung, unzureichende Qualitätsstandards und zu kleine Personalschlüssel zu massivem Lohndruck, hoher Arbeitsintensität, langen Arbeitszeiten und in der Folge zu Fachkräftemangel.

Die unzureichende Finanzierung des Sozialstaats insbesondere im Bildungs- und Gesundheitswesen sorgt zudem dafür, dass personengebundene öffentliche Dienstleistungen aus Kostengründen nicht im notwendigen Umfang ausgebaut werden. In vielen Dienstleistungsbranchen wie etwa dem Einzelhandel oder den Paketdiensten hat sich ein brutaler Preis- und Kostenwettbewerb verfestigt. Damit schließt sich ein Teufelskreis aus niedrigen Löhnen, geringer Nachfrage, geringer Produktivität und schlechter Dienstleistungsqualität.

Zugleich wird derzeit wieder deutlich, wie flexibel die Politik sein kann - zumindest zeitweilig. In der Pandemie - wie auch in der Finanzmarktkrise - hat die Merkel-Regierung ihre finanzpolitischen Prinzipien über Bord geworfen. Sie bekämpft mithilfe von Kurzarbeit, Staatskrediten, Staatsbeteiligungen und Konjunkturprogrammen erfolgreich die Rezession. Es wird offensichtlich: Mit dem Verzicht auf selbstverordnete Zwänge und Mut zum Pragmatismus jenseits aller liebgewordenen Dogmen muss auch der Slogan vom "Wohlstand für alle" nicht nur nostalgische Erinnerung bleiben.

Der Sozialstaat im Jetzt

Allerdings bedarf es einer grundlegenden Umsteuerung. Zunächst einer Neuordnung des Arbeitsmarkts: Wir brauchen sichere, gesunde und tariflich entlohnte Arbeit statt prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Dazu muss die Tarifbindung gestärkt werden - die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen sollte erleichtert und öffentliche Aufträge nur noch an tarifgebundene Unternehmen vergeben werden sowie Tarifverträge künftig kollektiv nachwirken, bis ein neuer Vertrag an ihre Stelle tritt. Sachgrundlose Befristungen gehören abgeschafft und Minijobs müssen ab dem ersten Euro sozialversicherungspflichtig werden.

Der Missbrauch von Werkverträgen muss eingeschränkt und Leiharbeit darauf beschränkt werden, konjunkturelle und saisonale Spitzen abzudecken. Zudem muss das Hartz-IV-System überwunden werden: Erwerbslose dürfen nicht in tariflose Arbeitsverhältnisse vermittelt und der Qualifikationsschutz sollte wiederhergestellt werden, menschenunwürdige Sanktionen gehören abgeschafft und die Regelsätze müssen deutlich erhöht werden. Wir brauchen außerdem einen existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 12 Euro. Und eine Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung sowie der beruflichen Aus und Weiterbildung gerade auch im digitalen Umbruch.

Auch der Sozialstaat muss ausgebaut werden. Ein moderner Sozialstaat stärkt den sozialen Zusammenhalt, fördert die wirtschaftliche Entwicklung und festigt unsere Demokratie. Bund, Länder, Kommunen und öffentliche Unternehmen müssen mehr in Daseinsvorsorge und soziale Dienstleistungen investieren können - mehr Kitaplätze und ganztägige Betreuungsangebote für Schüler schaffen, mehr Sozialwohnungen bauen, den Pflegenotstand beseitigen und die Bahninfrastruktur, Straßen, Brücken, Jugendzentren und Sportstätten sanieren. Soziale Berufe müssen aufgewertet und mehr Personal in Kitas, Schulen und Krankenhäusern eingestellt werden. Die sozialen Sicherungssysteme sollen neue Risiken wie atypische Beschäftigung oder Einelternhaushalte besser absichern, die durch eine veränderte Arbeits- und Lebenswelt entstanden sind. Nicht zuletzt gilt es, alle Erwerbsformen in die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung einzubeziehen.

Darüber hinaus brauchen wir eine ökologische Energie-, Verkehrs- und Agrarwende, die sozial gerecht gestaltet ist. Der Klimawandel bedroht nicht nur unser aller Wohlstand, er bedroht unsere Lebensgrundlage. Wir brauchen deshalb ein grünes Zukunftsinvestitionsprogramm, das den öffentlichen Nah- und Fernverkehr und erneuerbare Energien massiv ausbaut, saubere Antriebe fördert und die energetische Sanierung von Gebäuden vorantreibt. Und auch die industrielle Produktion gilt es umwelt- und klimafreundlicher zu gestalten; eine CO2- Grenzsteuer auf Importe kann verhindern, dass heimische Unternehmen dabei Wettbewerbsnachteile erleiden.

Finanzierung des Umbruchs

Selbstverständlich bringt das Kosten mit sich. Aber es ist finanzierbar - mit einem Mix aus Schulden und höheren Steuern und Abgaben: Kreditfinanzierte öffentliche Investitionen steigern die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Dynamik der Volkswirtschaft - ein investierter Euro erhöht das Sozialprodukt um mehr als 1,5 Euro. Mehreinnahmen aus Steuern und Sozialabgaben sowie geringere Sozialtransfers führen dann zu nennenswerten Selbstfinanzierungseffekten. Zumal niedrige Zinsen seit Langem die Kreditfinanzierungskosten drücken. Und nachfolgende Generationen erben so einen höheren öffentlichen Kapitalstock, moderne Schulen, Universitäten und Krankenhäuser. Wir sollten deshalb die Schuldenregeln, die in der Corona-Pandemie ausgesetzt wurden, dauerhaft lösen und perspektivisch abschaffen - denn die bisherige Finanzpolitik der schwarzen Null und Schuldenbremsen verhindern Zukunftsinvestitionen. Und wir brauchen einen Altschuldentilgungsfonds, um die Finanzkraft hochverschuldeter Kommunen wiederherzustellen.

Es geht darum, dass Spitzenverdiener, Vermögende und finanzstarke Unternehmen durch höhere Besteuerung wieder einen größeren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten. Wir brauchen einen höheren Einkommenssteuerspitzensatz bei gleichzeitiger Entlastung niedriger und mittlerer Einkommen. Die Vermögensteuer sollte wiedereingeführt und die Erbschaftssteuer reformiert werden. Kapitalgewinne dürfen gegenüber Arbeitseinkommen nicht weiter privilegiert werden. Es ist notwendig, Steuerschlupflöcher zu schließen und Gewinnverlagerungen internationaler Konzerne durch nationale Quellensteuern zu kontern. Amazon, Facebook, Google & Co können eine Digitalsteuer mehr als verkraften. So kann die Steuerpolitik die Einkommens- und Vermögensverteilung korrigieren und die staatliche Einnahmebasis langfristig verbreitern. Wohlstand für alle ist - und war immer - eine Frage der richtigen Politik.

Frank Werneke Vorsitzender, Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), Berlin
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Frank Werneke , Vorsitzender, Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), Berlin
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