Vor zwanzig Jahren: Startschuss für den Euro von viel Skepsis und Kritik begleitet

Prof. Dr. Stefan Schäfer Foto: S. Schäfer

Als die Staats- und Regierungschefs der EU die Beschlüsse zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion fassten, war die wissenschaftliche Diskussion um dieses Projekt nicht zuletzt von zwei Professorenmanifesten geprägt, die im Jahre 1992 sowie Anfang 1998, also kurz vor den historischen Entscheidungen der Politiker, erschienen sind. Der Autor rekapituliert den größeren wirtschaftsgeschichtlichen Zusammenhang der europäischen Währungsintegration und arbeitet vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Kritik aus dem akademischen Bereich heraus, wo die Ursachen der derzeitigen, bereits seit 2010 anhaltenden Schwierigkeiten der Währungsunion zu finden sind. Dass die Stabilitätskultur in den Ländern sehr unterschiedlich ausgeprägt ist, vereitelt aus seiner Sicht bis heute alle Versuche, die Eurokrise wirklich zu lösen. (Red.)

Vor zwanzig Jahren, genauer vom 1. Mai bis 3. Mai 1998, trafen die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel epochale Entscheidungen, mit denen sie den Weg für die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion freimachten. Mit anderen Worten: Sie gaben den endgültigen Startschuss für die Einführung des Euro am 1. Januar 1999.

Die wegweisenden Beschlüsse des Jahres 1998

Was genau stand auf der Tagesordnung des "Gipfels" Anfang Mai 1998? Dass die gemeinsame Währung spätestens am 1. Januar 1999 Wirklichkeit werden würde, war Teil des 1992/93 festgelegten Maastricht-Fahrplans und daher nicht erneut zu beschließen. Welche Länder allerdings den Euro bereits zu diesem Zeitpunkt würden einführen können, hatte über Jahre zu Diskussionen geführt und blieb bis zum Schluss umstritten.

Die Staats- und Regierungschefs entschieden schließlich, die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion mit elf Teilnehmern zu starten. Dazu mussten sie zunächst frühere Entscheidungen über das Vorliegen übermäßiger Defizite in neun Mitgliedsländern (Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Österreich, Portugal, Spanien und Schweden) aufheben und diesen somit die Erfüllung des Defizitkriteriums bescheinigen.

Von den seit der Erweiterungsrunde 1995 fünfzehn EU-Staaten führten vier den Euro nicht ein: Großbritannien und Dänemark, für die eine Sonderregelung galt; Schweden, welches das Wechselkurskriterium nicht erfüllte; und schließlich Griechenland wegen seiner zu hohen Staatsverschuldung und eines übermäßigen öffentlichen Defizites. 1)

Politisch-atmosphärisch mindestens ebenso bedeutsam waren die personalpolitischen Entscheidungen: Der Präsident des Europäischen Währungsinstitutes, Wim Duisenberg, sollte erster Präsident der EZB werden, der französische Notenbankgouverneur Christian Noyer sein Stellvertreter. Für die deutsche Öffentlichkeit bedeutend war die Berufung des Bundesbank-Chefökonomen Otmar Issing in das EZB-Direktorium, wo er ebenfalls als Chefökonom tätig sein sollte.2) Damit hatten die Staats- und Regierungschef sich auf die letzten Meter hin zu einer gemeinsamen Währung begeben. Das damit endlich gelöste Problem, wer unter welchen Bedingungen teilnehmen darf, spiegelt in Teilen eine Debatte wider, welche die verschiedenen Anläufe zu mehr europäischer Währungsintegration über Jahrzehnte geprägt hat und sich auf eine einfache Frage reduzieren lässt: Soll die einheitliche Währung - quasi als dessen Krönung - am Ende des europäischen Einigungswerkes stehen oder soll sie schon früh - quasi als Grundstein - eingeführt werden und die Europäer zu weiteren Schritten in Richtung einer politischen Union antreiben?

Die Vorgeschichte des Euro: Monetaristen versus Ökonomisten

Die sogenannten Ökonomisten vertraten die "Krönungstheorie". Ihrer Meinung nach war das insbesondere wirtschaftliche, aber auch politische Zusammenwachsen Europas notwendige Voraussetzung für den Erfolg einer Währungsunion. Nur ökonomisch möglichst homogene Staaten mit einer relativ eng koordinierten Wirtschafts- und Finanzpolitik sollten das Abenteuer "Gemeinsame Währung" wagen. Im Gegensatz dazu wollten die "Monetaristen"3) die gemeinsame Währung als Instrument im Einigungsprozess einsetzen. Sie sollte als Treiber wirken, der über die monetäre Verflechtung immer mehr ökonomische und politische Integration nach sich zöge.4)

Zum ersten Mal kam dieser Gegensatz auf, als der luxemburgische Premierminister Pierre Werner, im Auftrag der EG-Kommission, 1970 seinen "Werner-Plan" vorlegte, der die Einführung einer gemeinsamen Währung in drei Stufen über einen Zeitraum von zehn Jahren vorsah. Das ist einer breiteren Öffentlichkeit einerseits unbekannt, andererseits aber so bemerkenswert, dass es hier noch einmal deutlich zu betonen ist: Zumindest die kleine Sechsergemeinschaft (Frankreich, Italien, Bundesrepublik, Benelux-Länder) der 1950er und 1960er Jahre hätte schon 1980 eine gemeinsame Währung haben können!5)

Dass dieser Anlauf scheiterte, hatte unter anderem mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems, den besonderen ökonomischen Schwierigkeiten der damaligen Zeit (Ölpreisschocks, Stagflation) und unterschiedlichen stabilitätspolitischen Vorstellungen in den Kernländern Frankreich und Deutschland zu tun. Die Währungsintegration musste aber auf der Tagesordnung bleiben, weil die Handelsintegration seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 in Rom immer weiter vorangeschritten war und die Bewegung in Richtung eines gemeinsamen Marktes unaufhaltsam schien. Regelmäßige Wechselkursturbulenzen erschwerten es jedoch erheblich, dieses Ziel in absehbarer Zeit zu erreichen.6)

Das Europäische Währungssystem

Folgerichtig starteten Helmut Schmidt und Valery Giscard d'Estaing in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre einen neuen Versuch und hoben das Europäische Währungssystem (EWS) aus der Taufe. Das EWS war - sehr vereinfacht ausgedrückt - ein typisches Fixkurssystem. Überschritten die Kurse die um die Paritäten festgelegten Bandbreiten, reagierten die beteiligten Zentralbanken mit Interventionen. Das bedeutete, sie kauften die "zu schwache" Währung und verkauften die "zu starke". Reichten die Interventionen nicht aus, um einen Wechselkurs dauerhaft in die gewünschte Richtung zu bewegen, wurde eine Paritätsanpassung erforderlich - was de facto oftmals einer Abwertung gegenüber der D-Mark gleichkam.

Die Mark hatte sich im Laufe der 1980er Jahre faktisch zur EWS-Ankerwährung entwickelt, was wiederum die Bundesbank zur europäischen Leitzentralbank machte. Nationale Notenbanken, die die als Prestigeverlust angesehene Abwertung vermeiden wollten, mussten die Geldpolitik der Frankfurter Währungshüter nachvollziehen und die nationalen Regierungen waren zu einer wenigstens ansatzweise stabilitätsorientierten Wirtschafts- und Fiskalpolitik gezwungen.

Das gefiel zwar nicht jedem, funktionierte aber in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wenigstens vordergründig so gut, dass auf dem schon erwähnten Gipfeltreffen in Hannover 1988 die Delors-Kommission mit dem klaren Auftrag eingesetzt wurde, einen Fahrplan zu einer europäischen Währungsunion zu entwickeln.7)

Der Auftrag der Staats- und Regierungschefs spiegelt dabei die europa- und währungspolitische Großwetterlage in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wider: Mit der "Einheitlichen Europäischen Akte", der für 1990 geplanten Aufhebung der Kapitalverkehrskontrollen sowie dem damals schon angedachten und 1993 schließlich realisierten Binnenmarkt war neuer Schwung in die europäische Integrationsbemühungen gekommen. Gleichzeitig schien das EWS immer besser zu funktionieren, hatten die währungspolitischen Spannungen in Westeuropa spürbar abgenommen. Entsprechend ambitioniert waren die Vorschläge der Delors-Gruppe. Ein dreistufiges Verfahren sollte innerhalb eines Jahrzehntes eine gemeinsame Währung möglichst für alle EG-Mitgliedsstaaten bringen.8)

Nicht offen angesprochen, aber immer im Hintergrund stand dabei eine weitere Grundfrage des Prozesses der europäischen Währungsintegration: Wollte man ein deutsches Europa oder ein "europäisiertes" Deutschland? Insbesondere in Italien und Frankreich hatten viele das EWS immer stärker als hegemoniales System empfunden, in dem die Bundesregierung und insbesondere die Bundesbank den Ton angaben und Ländern mit abweichenden stabilitätspolitischen Traditionen ihren als unverhältnismäßig hart empfundenen Anti-Inflationskurs aufzwangen. Andere sahen die stabilitätspolitischen Spillover-Effekte aus Frankfurt in Richtung Süden und Westen durchaus als eine segensreiche Wirkung des EWS.

Delors-Report und Maastrichter Vertrag

Der Delors-Kommission musste das Kunststück gelingen, die unterschiedlichen Positionen von Monetaristen und Ökonomisten sowie gleichzeitig den Gegensatz zwischen "deutschem Europa" und "europäisiertem Deutschland" miteinander zu versöhnen. Monetaristen und Anhänger eines europäisierten Deutschland bekamen einen klaren Fahrplan für die Einführung des Euro innerhalb eines Jahrzehntes. Damit wäre der Grundstein gelegt für eine tiefere politische Union und insbesondere eine stärkere Integration der Wirtschafts- und Finanzpolitik, wie man nicht nur in Frankreich hoffte.

Die vor allem in Deutschland starken Ökonomisten entschädigte der Delors-Report mit der Bedingung, dass Länder nur bei nachgewiesener Konvergenz der Währungsunion würden beitreten können, und mit der Vision einer Europäischen Zentralbank, die nach dem Vorbild der Bundesbank gestaltet sein würde: Die Sorge, der Abschied von ihrer geliebten D-Mark könne für die Deutschen neue Inflationserfahrungen bringen, hatte nämlich die öffentliche Meinung hierzulande insbesondere für Aufbau und Mandat der EZB sowie für die Auswahl der Teilnehmer an der neu zu schaffenden Währung sensibilisiert. Sowohl der Delors-Report als auch später der Maastrichter Vertrag kamen der deutschen Position weit entgegen.

Solide Haushaltspolitik und Einhaltung der Fiskalkriterien

Für die einheitliche Währung sollte eine unabhängige, föderal organisierte und vorrangig auf die Erhaltung der Preisniveaustabilität ausgerichtete Europäische Zentralbank verantwortlich sein. Und teilnehmen können sollten nur jene Länder, die ihre Reife für das gemeinsame Geld nachweisen würden, indem sie die mittlerweile berühmten "Maastricht-Kriterien" erfüllten und so ein hinreichendes Maß an Konvergenz zeigten.9) Neben jeweils einem Zins-, Inflations- und Wechselkurskriterium waren es in erster Linie die beiden fiskalpolitischen Messlatten, die die weitere Diskussion bestimmen sollten: die jährliche staatliche Neuverschuldung sollte nicht höher als drei Prozent und der gesamte öffentliche Schuldenstand nicht höher als sechzig Prozent des Bruttoinlandsproduktes sein.10)

Im weiteren Verlauf der 1990er Jahre konzentrierte sich die politische Debatte auf zwei Fragen: 1. Wie konnte sichergestellt werden, dass die teilnehmenden Länder auch nach Einführung der gemeinsamen Währung eine solide Haushaltspolitik betreiben würden? 2. Wie strikt waren die Fiskalkriterien einzuhalten?

Die Antwort auf die erste Frage brachte nach zähem Ringen der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der insbesondere die Drei-Prozent-Grenze beim Defizit langfristig verankerte und für den Fall ihrer Verletzung einen Sanktionsmechanismus vorsah. Dass es diesen Pakt gab, ist auf das Drängen der Bundesregierung und vor allem auch der Bundesbank zurückzuführen. Die Namensgebung reflektiert die unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Auffassungen zwischen Deutschland und Frankreich: Die deutsche Seite setzte auf monetäre Stabilität und sah finanzpolitische Solidität als deren Vorbedingung. Die französische Seite sah die Eurozone hingegen als Vehikel für eine wachstumsorientierte Politik, worunter sie nicht zuletzt staatliche Investitionsprogramme verstand. So wurde aus dem von Deutschland geforderten Stabilitäts- der Stabilitäts- und Wachstumspakt.11)

Wie strikt die Fiskalkriterien einzuhalten waren (Frage 2), war bis zum Schluss umstritten. Dabei übersahen viele Kritiker der Gipfelbeschlüsse vom Mai 1998, dass der "Maastrichter Vertrag" gar nicht so strikt formuliert war, wie manche es sicher gerne gehabt hätten. Laut Artikel 104c kann ein Überschreiten der Drei-Prozent-Grenze toleriert werden, wenn "das Verhältnis (des Defizit zum BIP, Anm. d. Verf.) erheblich und laufend zurückgegangen ist und einen Wert in der Nähe des Referenzwertes erreicht hat oder der Referenzwert nur ausnahmsweise und vorübergehend überschritten wird und das Verhältnis in der Nähe des Referenzwertes bleibt."

Und für den öffentlichen Schuldenstand sollte schon reichen, dass "das Verhältnis hinreichend rückläufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert annähert." Diese Formulierungen waren offen genug, um die hoch umstrittenen Streitfälle Italien und Belgien schon 1999 und bereits 2001 auch Griechenland aufnehmen zu können. Das war formaljuristisch korrekt, entsprach in den Augen vieler Beobachter aber nicht dem seitdem vielfach zitierten "Geist der Verträge". Um immer wieder entsprechenden Befürchtungen entgegenzutreten, stellten die Wirtschafts- und Finanzminister noch einmal ausdrücklich fest: "Unbeschadet der Ziele und der Bestimmungen des Vertrags besteht Einvernehmen darüber, daß die Wirtschafts- und Währungsunion als solche nicht als Grund für spezielle Finanztransfers angeführt werden kann."12)

Die Schritte zur Einführung des Euro waren von Anbeginn Gegenstand nicht nur politischer, sondern auch fachlicher Debatten.13) Insbesondere die Bundesbank wies hinsichtlich der Konvergenzkriterien sowie des EZB-Statuts früh darauf hin, dass solche makroökonomischen Faktoren ebenso wie die formalen und institutionellen Festlegungen nur notwendige, aber für sich genommen keine hinreichenden Voraussetzungen für das Gelingen der Währungsunion sein könnten.

Stabilitätskultur als eigentlich entscheidendes Optimalitätskriterium?

Direkt nach der Maastricht-Konferenz von 1991 begannen Bundesbank-Repräsentanten, für die Entstehung und Verankerung einer "Stabilitätskultur" in ganz Europa zu werben.14) Denn, so der damalige Bundesbank-Präsident Helmut Schlesinger in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt: "Politik und Gesellschaft müssen die Stabilitätsorientierung aktiv mittragen".15) Andernfalls sei eine wirksame Bekämpfung der Inflation nicht möglich. Schließlich müsse eine stabilitätsorientierte Geldpolitik, solle sie Erfolg haben, von einer ebenso stabilitätsorientierten Wirtschafts-, Finanz- und Lohnpolitik flankiert sein. Damit die Wirtschafts-, Finanz- und Lohnpolitik stabilitätsorientiert ausgestaltet sein kann, muss die Stabilitätsorientierung breit in der Gesellschaft verankert sein. Denn gegen die Bürger eines Landes, die gleichzeitig ja auch Wähler sowie Mitglieder von Arbeitgeberverbänden oder Gewerkschaften sind, wäre die Durchsetzung einer solchen Politik langfristig nicht möglich.16)

Im Laufe der 1990er Jahre nahmen Politik und Wissenschaft das Thema Stabilitätskultur begierig auf und versuchten, Begriff und Konzept mit Leben zu füllen. Als Wesensmerkmale kristallisierten sich dabei eine langfristige und regelorientierte Ausgestaltung der Wirtschaftspolitik sowie die Fokussierung der Zentralbank auf die Inflationsbekämpfung heraus.17) Insbesondere das ständige Werben der Bundesbank einerseits für den bereits genannten Stabilitätspakt, andererseits aber auch für eine Stabilitätskultur in ganz Europa wurde in Ländern mit anderen wirtschaftspolitischen Grundüberzeugungen als anmaßend empfunden.18)

Die Stabilitätskultur-Diskussion nahm die Auseinandersetzungen vorweg, die nach dem Ausbruch der Griechenlandkrise zwischen "Nord" und "Süd" ausgetragen werden sollten. Bis heute zeigt sich, dass ein wesentliches Problem der Eurozone in dem nicht existierenden Grundkonsens bezüglich der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik besteht. Die beiden Positionen - Regel- und Langfristorientierung auf der einen, Ad-hoc-Lösungsversuche und Kurzfristdenken auf der anderen Seite - stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber.19)

Die maastricht- und eurokritischen "Professorenmanifeste"

Die Diskussion unter Ökonomen erreichte wenigstens zwei Mal ein breiteres Publikum, als sich Hochschullehrer zusammenschlossen, um ihre Kritik in später sogenannten "Professorenmanifesten" allgemeinverständlich zu formulieren und so in der öffentlichen Debatte Gehör zu finden.

Das erste "Manifest" erschien im Juni 1992 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.20) Unter der Überschrift "Die EG-Währungsunion führt zur Zerreißprobe" äußerten 62 Professoren ihre grundlegenden Bedenken hinsichtlich der Beschlüsse von Maastricht. Zwar lehnten sie die Idee einer gemeinsamen Währung nicht rundheraus ab; als "Ökonomisten" sahen sie die zu großen strukturellen Divergenzen zwischen den potenziellen Teilnehmerländern jedoch mit Sorge. Sie betrachteten die Konvergenzkriterien als ungeeignet, um eine hinreichende Homogenität der zukünftigen Währungsunion sicherzustellen. Die schwächeren Länder seien bei einer gemeinsamen Währung einem verstärkten Konkurrenzdruck und damit der Gefahr wachsender Arbeitslosigkeit ausgesetzt. Damit würden hohe Transferzahlungen im Sinne eines Finanzausgleichs notwendig.

Zudem sei nicht zu erwarten, dass die EZB eine stabilitätsorientierte Geldpolitik durchführen werde. Dazu fehlten ihr die erforderlichen Kompetenzen in der Wechselkurspolitik, die notwendigen Anreize für ihre Entscheidungsträger sowie die Unterstützung vonseiten der Lohn- und Finanzpolitik in denjenigen Ländern, in denen die Gesellschaft der Preisniveaustabilität nicht den gleichen Rang zumesse, wie die deutsche es traditionell tue. Damit sprach das Manifest auch die Bedeutung der Stabilitätskultur für das Gelingen der Währungsunion an.21)

Eine andere Stoßrichtung

Das zweite "Professorenmanifest", von mehr als 160 Ökonomen unterzeichnet, erschien am 9. Februar 1998, ebenfalls in der "Frankfurter Allgemeinen".22) Es hatte in verschiedener Hinsicht eine andere Stoßrichtung als das erste.23) Zum einen war die Kritik weniger fundamental. Seit Maastricht waren sechs Jahre ins Land gegangen. In dieser Zeit hatte sich der starke politische Wille in Bezug auf die Währungsunion deutlich offenbart. Entsprechend zurückhaltend war die zentrale Forderung des Papiers: Mit der Überschrift "Der Euro kommt zu früh" signalisierten die Autoren bereits, nur eine Verschiebung des Projektes anzustreben, nicht aber seine Verhinderung. Und für den Fall, dass selbst das nicht erreichbar sein sollte, hatten sie in Form einer Minimalforderung vorgesorgt: Sollte der Euro wie vorgesehen am 1. Januar 1999 eingeführt werden, dann müsse wenigstens die Konvergenzprüfung unnachsichtig sein.

Diese Forderung bezog sich in erster Linie auf die beiden Fiskalkriterien, die trotz eines historisch niedrigen Zinsniveaus und zahlreicher Fälle von kreativer Buchführung teils deutlich verfehlt würden. Auch mittel- und langfristig sei hier keine Besserung zu erwarten. Da der Stabilitäts- und Wachstumspakt keinen automatischen Sanktionsmechanismus vor sehe, könne man kein effektives Vorgehen gegen Defizitsünder erwarten. Wie schon das Vorgängermanifest von 1992 setzte auch dasjenige von 1998 zudem einen Schwerpunkt auf die Konsequenzen der strukturellen Probleme in Europa. Diesmal stellte man aber Deutschland und Frankreich in den Mittelpunkt, die für den härteren Wettbewerb in der Währungsunion nicht gerüstet seien.

All das spreche für eine geregelte, konsensuale Verschiebung des Beginns der Währungsunion um einige Jahre. Dies sei ohne nachteilige Konsequenzen für das Gesamtprojekt möglich. Im Gegenteil: Ein späterer Beginn mache den dauerhaften Erfolg des Euro wahrscheinlicher.

Die Dinge in Sachen Euro haben sich seit 1998/99 nicht so entwickelt wie erhofft. Mittlerweile existiert die Gemeinschaftwährung ziemlich genau die Hälfte ihres Daseins im Krisenmodus und eine Lösung ist nicht in Sicht. Der Dauerpatient Italien schleppt sich von einer politischen Krise zur nächsten, Griechenland wird auf unabsehbare Zeit am Tropf der anderen Mitgliedsländer hängen, und der lange überfällige Ausstieg der EZB aus der ultralockeren Geldpolitik birgt neues Krisenpotenzial.

Die vorliegende Rückschau auf die Beschlüsse von 1998 und die politische und wissenschaftliche Diskussion der neunziger Jahre ist eine geeignete Grundlage für eine kurze Ursachenanalyse. Hätten die Warnungen aus den beiden Professorenmanifesten ernster genommen werden müssen? Oder sind die heutigen Probleme der Eurozone auf Faktoren zurückzuführen, die vor zwanzig Jahren und länger noch niemand im Blick haben konnte?

Zunächst einmal kann festgehalten werden, dass sich die Ökonomen mit ihren Manifesten nur in einem Punkt wirklich geirrt haben, und zwar als sie 1992 die fehlenden Kompetenzen der EZB in der Wechselkurspolitik kritisierten. Eine politisch gewollte Schwächung des Euro-Außenwertes, etwa zur Exportförderung, könne Inflation nach sich ziehen und die EZB-Geldpolitik konterkarieren. Das jedoch war seit Beginn der Währungsunion nie ein Thema.

Große strukturelle Divergenzen als Problem erkannt

Den Verfassern der Manifeste ist nicht vorzuwerfen, dass die Texte Kinder ihrer Zeit sind. Insbesondere das Papier von 1992 atmet noch spürbar den Geist der siebziger und achtziger Jahre mit ihren Boom-Bust-Zyklen und den international gerade erst seit ein paar Jahren sinkenden Inflationsraten. Im ersten Manifest steht entsprechend die Frage im Zentrum, ob die zukünftige EZB in der Lage sein kann, Europa wirksam vor Inflation zu schützen. Dass Inflation im zweiten Manifest dann schon keine Rolle mehr spielt und seit zehn Jahren eher mit sehr niedrigen Inflationsraten zu kämpfen ist, widerlegt die Bedenken von 1992 nicht vollständig.

Die Hinweise auf die Anreizstrukturen der EZB-Entscheidungsträger und die in vielen Ländern nicht existente Stabilitätskultur gingen eindeutig in die richtige Richtung. Allerdings resultierte daraus bislang (noch) keine Lehrbuchinflation mit den Lohn-Preis-Spiralen der siebziger Jahre, wohl aber ein steigendes Preisniveau bei den Zukunftsgütern und Vermögenswerten: Am deutlichsten tritt dies heute im Immobiliensektor zutage, aber auch die Altersvorsorge in Form von Lebensversicherungen oder auch der "Riester-Rente" wird in dem Sinne ständig teurer, dass Altersvorsorgesparer laufend mehr einzahlen müssen, wollen sie ein gegebenes Absicherungsniveau halten. Das hat sehr viel mit der Politik der EZB zu tun, die in der Tendenz so agiert, wie es schon 1992 befürchtet worden war.

Deflation statt Inflation als Hauptthema

Das Hauptproblem der neunziger Jahre, die fiskalische Solidität, war nur in Griechenland und Portugal krisenauslösend. Spanien und Irland hingegen waren mit ihren Defizit- und Verschuldungsquoten geradezu Musterknaben - was aber nicht verhindern konnte, dass sie in eine tiefe Krise gerieten. Ging die Diskussion über die Maastrichter Konvergenzkriterien also wenigstens teilweise an den wahren Problemen vorbei? Die Antwort ist Nein. Denn beide Manifeste wiesen eindringlich auf die nach wie vor großen strukturellen Divergenzen zwischen den Ländern der Eurozone hin. Die Ursache der Probleme war also korrekt angesprochen.

Dass die importierte Stabilität mit ihren niedrigen Zinsen an der Peripherie der Eurozone einen Strohfeuerboom mit Preis- und Lohndruck auslösen und die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit insbesondere der südlichen Länder noch weiter schwächen würde, war eine mögliche Konsequenz der 1992 und 1998 korrekt beschriebenen Divergenzen. Daraus resultierten massive Leistungsbilanzdefizite, deren Finanzierung über Kapitalimporte in Spanien und Irland Immobilienkreditblasen nährte. Deren Platzen und der vielen Ländern mangelnde Wille zu strukturellen Reformen löste dann eine Bilanzrezession aus, die wie beschrieben Deflation statt Inflation zum Hauptthema machte.

Eine besondere Rolle zu Beginn der Krise spielten die Staatsanleihebestände in den Bilanzen der Banken. Als die Finanzkrise und das Platzen der Kreditblasen in Europa die Banken in Schieflage brachten, mussten die Peripheriestaaten - allen voran Spanien und Irland - mit Programmen zur Bankenrettung und Konjunkturstabilisierung reagieren. Die Konsequenzen für die Staatshaushalte waren verheerend. Und die von Banken gehaltenen Staatsanleihen machten das Problem der Peripherie zu einem des Zentrums: Ländern wie Deutschland und Frankreich blieb nichts anderes übrig, als entweder ihre Banken (wegen deren südeuropäischen Anleihebeständen) oder gleich die südeuropäischen Länder zu stabilisieren.24)

Die große Stärke der Professorenmanifeste liegt jedoch darin, die in der künftigen Währungsunion wirkenden politischen Mechanismen klar angesprochen zu haben. Schon 1992 warnten die Verfasser vor einer "politischen Eigengesetzlichkeit" des Prozesses, welche der Einhaltung der Konvergenzkriterien einen niedrigeren Stellenwert einräumen werde als grundsätzlichen europapolitischen Erwägungen. Diese Prognose sollte sich bewahrheiten: Trotz erheblicher Bedenken zählten Italien und Belgien 1999 zu den Gründungsmitgliedern der Währungsunion, und Griechenland konnte bereits 2001 beitreten.

Das Manifest von 1998 machte den fehlenden Automatismus bei den Sanktionen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zum Thema. Der Pakt sei ein zahnloser Tiger, solange die Sanktionen von Mehrheitsentscheidungen abhängig seien. Das hat sich bewahrheitet: Hier urteilen ehemalige und potenziell zukünftige über aktuelle Sünder - mit der für diese Konstellation erwartbaren Milde. Dass die Stabilitätskultur in den Ländern sehr unterschiedlich ausgeprägt ist, ebenfalls ein Thema der Manifeste, verstärkt dieses Problem noch und es vereitelt bis heute alle Versuche, die Eurokrise wirklich zu lösen: Mit dem jährlich zunehmenden Detailgrad des Regelwerkes sinkt die Bereitschaft, es einzuhalten beziehungsweise seine Einhaltung durchzusetzen.

Fußnoten

1) Vgl. Bundesregierung (Sondertagung, 1998).

2) Vgl. Europäische Kommission (2089. Tagung, 1998), S.

3) Es besteht keinerlei inhaltliche Verbindung zum Monetarismus als geldpolitischem Konzept nach Milton Friedman.

4) Vgl. Ohr, R. (Monetäre Integration, 2007), S. 107.

5) Vgl. Harmsen, S. (Werner-Plan, 1970).

6) Vgl. Polster, W. (Europäische Währungsintegration, 2002), S. 320ff.

7) Vgl. Heisenberg, D. (Mark of the Bundesbank, 1999), S. 75ff.

8) Vgl. Committee for the Study of Economic and Monetary Union (Report, 1989).

9) Vgl. Europäische Kommission (Vertrag, 1992).

10) Vgl. Europäische Kommisssion (Protokoll, 1992).

11) Vgl. Kaltenthaler, K. (German Interests, 2002), S. 82ff.

12) Vgl. Rat für Wirtschaft und Finanzen (Sondertagung, 1998).

13) Schon die Tätigkeit der Delors-Arbeitsgruppe hatte unter Ökonomen großes Interesse erregt. Vgl. Bofinger, P. (Delors-Bericht, 1989); Issing, O. (Europäische Notenbank, 1988); Pöhl, K.-O. (Vision, 1988).

14) Vgl. Schäfer, S. (Entstehung und Entwicklung, 2018).

15) Vgl. Schlesinger, H. (Europäische Währung, 1991).

16) Vgl. Marsh, D. (The Bundesbank, 1992), S. 251.

17) Vgl. Loef, H. (Stabilitätskultur und Zentralbankunabhängigkeit, 1996); vgl. Richter, R. (Stabilitätskultur, 1994); Zeitler, F.-C. (Beitrag für Europa, 1996).

18) Vgl. Bourdieu, P. (Warnung, 1996); vgl. o. V. (Maos rotes Buch, 1996).

19) Vgl. Brunnermeier, M./James, H./Landau, J. (Battle of Ideas,2016)

20) Vgl. Ohr, R./Schäfer, W. (Zerreißprobe 1992).

21) Vgl. Schäfer, S. (Professorenmanifest, 2017).

22) Vgl. Kösters, W. et al. (Der Euro kommt zu früh, 1998).

23) Vgl. Hanke, T. (155 Professoren, 1998).

24) Vgl. Hedrich, C.-C./Hepp, D. (Staaten und Banken, 2015).

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Prof. Dr. Stefan Schäfer Hochschule RheinMain, University of Applied Sciences, Wiesbaden, Rüsselsheim
Prof. Dr. Stefan Schäfer , Volkswirtschaftslehre/Makroökonomik , Hochschule RheinMain, Wiesbaden
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