Zwei, die zusammengehören: Europa und seine Industrie

Dr. Volker Treier, Foto: DIHK (Jens Schicke)

Die Europäische Union gebe einer halben Milliarde Menschen Frieden und Wohlstand. Eine große Rolle spiele dabei die Industrie. Der Wirtschaftsstandort Deutschland sei ohne eine starke Industrie nicht denkbar. Mehr als sieben Millionen Menschen sind laut Treier in diesem Sektor hierzulande beschäftigt. Da Deutschland dabei ein besonders exportorientiertes Land sei, spiele auch der europäische Kontinent eine wichtige Rolle. Und da sowohl Deutschland als auch Europa im ständigen Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten von Amerika und China stehen, fordert der Außenwirtschaftschef des DIHK dazu auf, sich stetig weiterzuentwickeln. Deutschland und die EU müssten sich vor allem drei Herausforderungen stellen: Wie kann die europäische Industrie zum Gestalter von Digitalisierung und klimaneutraler Produktion werden, was kann gegen den Fachkräftemangel getan werden und wie können die Potenziale des EU-Binnenmarktes noch besser genutzt werden? Um im globalen Wettbewerb weiter bestehen zu können, ist laut Autor ein stärkeres europäisches Engagement unerlässlich - und Gemeinsamkeit. (Red.)

Wie würde der europäische Kontinent aussehen - ohne sein integriertes Erfolgsprojekt die Europäische Union? Aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges entstanden, garantiert die Europäische Union heute einer halben Milliarde Menschen Frieden und Wohlstand. Ein Projekt ohne Beispiel, eine Jahrhundertidee. Und auf dem fruchtbaren Boden der Europäischen Union ist ein Bereich der Wirtschaft gediehen, ohne den Fortschritt und Prosperität, wie wir sie heute genießen, so nicht vorstellbar ist: die Industrie. Von der mittlerweile längst selbstverständlich gewordenen Mobilität mit E-Bikes, Automobilen, Straßenbahnen oder Flugzeugen über die Kommunikation mit Laptops, Smartphones und Navigationsgeräten bis zur sicheren und sauberen Herstellung von Milliarden von Impfstoffdosen in kürzester Zeit: Industrie prägt das Leben der Menschen, jeden Tag. Auf vieles davon kann und will man nicht verzichten.

Auch der Wirtschaftsstandort Deutschland ist ohne seine starke Industrie mit den vielen Hidden Champions nicht denkbar. Von A wie Autos bis Z wie Zahnräder wird in der größten europäischen Volkswirtschaft knapp jeder vierte Euro im industriellen Sektor erarbeitet. Über sieben Millionen Menschen haben in Deutschland Arbeit in einem Industriebetrieb - so viele Menschen wie in Berlin, in Hamburg und in München leben.

Als Treiber für innovative Technologien, effiziente Verfahren und neue Produkte "Made in Germany" stemmt die Industrie 85 Prozent der privatwirtschaftlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung hierzulande. Und nicht zu vergessen: Als besonders exportorientierte Nation hängt jeder vierte Arbeitsplatz in Deutschland vom Export ab, in der Industrie sogar jeder zweite. Geht es dem europäischen Kontinent gut, so geht es auch Deutschland gut, denn Hauptexportmarkt für die deutschen Produkte sind die europäischen Länder.

Permanente Weiterentwicklung nötig

Die gute Position der deutschen Industrie ist allerdings kein Selbstläufer. Sie erfordert ein ständiges an sich arbeiten, denn um es in die Worte von Henry Ford zu fassen: "Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist." Und es ist hinzuzufügen: und nicht einmal das! Denn die anderen, das heißt andere wichtige Wirtschaftsregionen, wie die Volksrepublik China oder die Vereinigten Staaten von Amerika, schlafen ja nicht. Europa steht im harten und direkten Wettbewerb mit diesen Regionen, sei es beim Zugang zu Rohstoffen, der Technologieführerschaft oder beim Kapital. Dabei müssen sich die deutschen und europäischen Industrieunternehmen insbesondere drei Herausforderungen stellen: Erstens: Wie kann die europäische Industrie zum Gestalter von Digitalisierung und klimaneutraler Produktion werden? Unternehmen aus den USA und China haben sich im Rahmen der Digitalisierung im Business-to-Consumer-Bereich (B-to-C) bereits einen großen Vorsprung erarbeitet und dringen nunmehr auch mit hoher Geschwindigkeit in Business-to-Business-Märkte (B-to-B) vor. Für die europäische und auch die deutsche Industrie muss es nun schleunigst darum gehen, ihre Stärken in die digitale Welt zu überführen, um Wertschöpfung, Arbeitsplätze, aber auch technologische Souveränität, insbesondere im Business-to-Business-Bereich, zu erhalten.

Das gilt gleichermaßen auch für die Transformation der Wirtschaft hin zu einer klimaneutralen Produktion. Diese erfordert von den Unternehmen umfangreiche und kostenintensive Anpassungen bei bisherigen Produktionsprozessen. Dazu kommen beträchtliche Investitionen in die Energieinfrastruktur, insbesondere durch den Umstieg auf erneuerbare Energien und den Netzausbau. Dabei bleibt ein hohes Maß an Versorgungssicherheit für die Unternehmen, insbesondere in der Industrie, von entscheidender Bedeutung.

Fachkräftemangel als potenzielle Wachstumsbremse

Zweitens: Woher kommen die klugen Köpfe, die die Industrie braucht? Der demografische Wandel kommt jetzt erst richtig zum Tragen - und Fachkräfte fehlen. Nicht nur sollten das Arbeitskräftepotenzial in der Europäischen Union noch besser ausgeschöpft und Zuwanderung verbessert werden, sondern auch Fachkräfte entsprechend der neuen Anforderungen möglichst praxisnah aus- und weitergebildet werden. Lebenslanges Lernen für lebenslangen Fortschritt ist die Devise.

Drittens: Wie können die Potenziale des europäischen Binnenmarktes in Zukunft noch besser gehoben werden? Hohe bürokratische Belastungen, unterschiedliche nationale Regulierungen, unterschiedliche Um- und Durchsetzung von EU-Regulierungen sowie Sprachbarrieren bedeuten einen noch immer zu fragmentierten Binnenmarkt innerhalb der Europäischen Union. Im Vergleich zu anderen Weltregionen - wie den USA und China - heißt das hier in Europa: Produkte und Dienstleistungen können schlechter skaliert und Innovationsprozesse weniger stark beschleunigt werden. In einer globalisierten und digitalisierten Welt mit kürzeren Innovationszyklen wird das zu einem wachsenden Wettbewerbsnachteil.

Energie, Rohstoffe und Vorprodukte immer teurer

Die aktuellen Herausforderungen erfordern von den Unternehmen beachtliche Investitionen - vor allem in ihre betriebliche Infrastruktur, in mehr zukunftsweisende Innovationen und in kluge und innovative Köpfe. Klimaschutz, Energiewende und Digitalisierung - das alles gibt es nicht umsonst. Aktuell sind die Investitionen am Standort Deutschland leider noch weit von dem entfernt, was für dessen Zukunftsfestigkeit notwendig ist. 2021 lagen die Ausrüstungsinvestitionen der deutschen Unternehmen laut Berechnungen des Deutschen Industrie- und Handelskammertages bei nur 90 Prozent des Vorkrisenniveaus von 2019.

Die Voraussetzungen sind nicht die besten: Die Corona-Krise steckt vielen Unternehmen in den Knochen, Energie und Rohstoffe sowie Vorprodukte aus aller Welt werden teurer und schmälern die Investitionsbudgets - und vom Fachkräftemangel ganz zu schweigen. Hinzu kommt die schon heute hohe Belastung für deutsche Unternehmen durch die deutsche und europäische Klimapolitik. Der Green Deal der Europäischen Union bedeutet für viele Unternehmen strengere Vorgaben und höhere CO2-Kosten. Für den Erhalt der Industrie bedarf es großer Mengen klimafreundlicher Energieträger und Ausgangsstoffe, wie erneuerbaren Strom und klimafreundlichen Wasserstoff - und das zu wettbewerbsfähigen Preisen. Ein anderes großes Projekt der Europäischen Union im Zusammenhang mit dem Green Deal ist das Regelwerk zu "Sustainable Finance". Hier sollte insbesondere der bürokratische Aufwand für die betroffenen Unternehmen so gering wie möglich gehalten werden.

Und ganz wichtig: Eine Schwarz-Weiß-Einteilung der Wirtschaft im Rahmen der Taxonomie in dem Sinne, dass nur bereits nachhaltige Unternehmen von günstigen Finanzierungsbedingungen profitieren, würde dazu führen, dass der Wandel in Richtung Klimaneutralität in heute noch emissionsintensiveren (Industrie-)Branchen ausgebremst wird. Um auch morgen noch Industrie in Deutschland und Europa zu haben, muss deshalb die Klimaschutzpolitik so ausgestaltet werden, dass die Unternehmen nicht nur eine Perspektive in der Europäischen Union haben, sondern weltweit bei der Entwicklung und beim Einsatz von Klima- und Umwelttechnologien führend sein können.

Gemeinsamkeit für die Sicherung von Wohlstand und Frieden

Noch ist Europa in etlichen Technologiefeldern ganz vorn dabei, aber die Konkurrenz schläft nicht. Im wirtschaftlichen Wettlauf zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und China steht Europa nicht nur geografisch in der Mitte: Es muss sich auch behaupten und darf sich nicht verzetteln. Deswegen ist es jetzt so wichtig, Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit auf eine neue Spitze zu treiben, gerade auch in der Industrie.

Dafür ist ein stärkeres europäisches Engagement unerlässlich - um vor allem die Möglichkeiten des Europäischen Binnenmarktes auszuschöpfen, paneuropäische Bildungs- und Innovationsprojekte anzustoßen und eine offene strategische Souveränität aufzubauen. Nur gemeinsam kann es uns gelingen, Europa als eine global agierende und gestaltende Wirtschaftskraft zu etablieren, die Frieden und Wohlstand bietet!

Dr. Volker Treier , Außenwirtschaftschef und Mitglied der Hauptgeschäftsführung , Deutscher Industrie- und Handelskammertag e.V., Berlin
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