Geldpolitik I

Interpretationsbedarf bleibt

"Taube oder Falke?" Auf diese geldpolitisch hochrelevante Frage antwortete Christine Lagarde zu Beginn ihrer EZB-Präsidentschaft im November 2019 mit einem geschickten "Weder noch": Stattdessen wolle sie eine Eule sein - das Tier der Weisheit also. Lagardes erste weise Maßnahme im neuen Amt war zweifellos die kurz darauf im Januar 2020 auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin angestoßene Strategieüberprüfung der EZB. Denn die bis dato letzte lag zu diesem Zeitpunkt sage und schreibe 16 Jahre zurück. Die somit längst überfällige Großinventur des geldpolitischen Instrumentenkastens konnte nun nach 18 Monaten abgeschlossen werden.

Im Mittelpunkt der durchaus vielschichtigen Ergebnisse - so sollen unter anderem auch die Klimaziele und die Kosten für selbstgenutzte Immobilien stärkere Berücksichtigung finden - steht das neue Inflationsziel: Die bisherige Formulierung "unter, aber nahe zwei Prozent" fällt weg, womit die EZB künftig ein symmetrisches Inflationsziel von mittelfristig zwei Prozent verfolgt. Das ist insofern begrüßenswert, als das kleine Wörtchen "nahe" doch erstaunlich viel Raum für Interpretation ließ. Vor allem Lagardes Vorgänger Mario Draghi schien ihm größte Bedeutung beizumessen und erweckte dabei immer wieder den Eindruck, dass es sich um eine Art Punktziel von exakt 1,9 Prozent handele - Werte unterhalb davon wurden pauschal als unbefriedigend erachtet.

Auf der anderen Seite bereiten die europäischen Währungshüter mit dem neu formulierten Inflationsziel den Weg für die sich derzeit abzeichnenden, höheren Teuerungsraten. Denn unter diesem neuen Regime lässt sich mit Verweis auf die Symmetrie ein Überschießen der Inflation letztlich ebenso gut tolerieren wie das in den vergangenen Jahren zu beobachtende Phänomen des Unterschießens. Der EZB-Rat hat sich damit also noch mehr Argumente an die Hand gegeben, um in den kommenden Jahren eine Fortführung seiner ultraexpansiven Geldpolitik und der Anleihekäufe zu rechtfertigen. Gerade für Sparer und Banken ist das eine bittere Pille: Das leidige Thema Negativzinsen droht endgültig zum Dauerstresstest zu werden.

Davon abgesehen bleibt natürlich die Gretchenfrage, ob das neue Inflationsziel tatsächlich der von Lagarde als erfüllt angesehenen Maxime Rechnung trägt, "einfacher und verständlicher" zu sein. Wird die Reißleine etwa bei sechs oder sieben aufeinanderfolgenden Monaten mit Teuerungsraten über 2,5 Prozent gezogen? Oder müssen es schon mindestens 3,0 Prozent sein, um überhaupt von einem Überschießen sprechen zu können? Solche Kernfragen bleiben auch künftig dem Gutdünken des EZB-Rats überlassen. Unter dem Strich dürfte daher wohl alles so bleiben wie bisher: Die Marktakteure werden weiterhin die - hoffentlich weisen - Worte der "Eule" Christine Lagarde auf die Goldwaage legen und mühsam interpretieren müssen.

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